Vom Schicksal des Herschel Grynszpan

Herschel Feibel Grynszpan bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung, Paris 1938
Herschel Feibel Grynszpan bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung, Paris 1938

Die „Polenaktion“, eine Postkarte und das Attentat

Währenddessen ereilt Herschels Familie aufgrund dieses polnischen Erlasses vom 15. Oktober 1938 das tragische Schicksal von tausenden anderen im Deutschen Reich lebenden, aus Polen eingewanderten Jüdinnen und Juden: Nachdem der polnische Staat den Erlass veröffentlicht, Polinnen und Polen die Staatsangehörigkeit zum 29. Oktober zu entziehen, die seit mehr als fünf Jahren ununterbrochen im Ausland leben, lässt das NS-Regime am 28. und 29. Oktober 1938 rund 17.000 im Deutschen Reich lebende Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaften, ausweisen und gewaltsam zur polnischen Grenze verbringen. Betroffen sind darunter nachweislich 484 Personen aus Hannover – unter ihnen auch die Familie Grynszpan –, die per Zug am 28. Oktober an die deutsch-polnische Grenze bei Bentschen (Zbąszyń) deportiert und letztendlich von deutschen Polizisten und Wachleute zum Grenzübergang zu Fuß gezwungen werden.[15] Die rigorose Zwangsausweisung tausender Jüdinnen und Juden aus Deutschland kommt für die polnischen Grenzbeamten vollkommen überraschend und unvorbereitet. Mit der Versorgung der abgeschobenen Menschen sind Behörden und die polnische Bevölkerung jenseits der Grenze gänzlich überfordert. Am 29. Oktober 1938 finden sich Vater Sendel, Mutter Ryfka sowie Herschels Geschwister Berta und Markus mit insgesamt ca. 12.000 anderen Deportierten in dem kleinen polnischen Dorf Zbąszyń wieder, wo sie notdürftig und unter katastrophalen Umständen in Baracken interniert sind.[16]

Herschel erreicht am 3. November 1938 in Paris eine Postkarte von seiner Schwester, die ihm darin von dem dramatischen Schicksal seiner Familie während der sogenannten „Polenaktion“ berichtet:
 

„Lieber Hermann!

Du hast gewiß von unserem großen Unglück gehört. Ich beschreibe Dir, was passiert ist. Donnerstag abend waren Gerüchte im Umlauf, daß alle polnischen Juden einer Stadt ausgewiesen worden waren. Dennoch sträubten wir uns, das zu glauben. Am Donnerstag abend um 9 Uhr ist ein Schupo zu uns gekommen und hat uns erklärt, daß wir uns unter Mitnahme der Pässe zum Polizeirevier begeben sollten. So wie wir waren, sind wir alle zusammen in Begleitung des Schupos zum Polizeirevier gegangen. Dort fand sich schon fast unser ganzes Stadtviertel zusammen. Ein Polizeiauto hat uns sofort zum Rathaus gebracht. Alle sind dort hingebracht worden. Man hatte uns noch nicht gesagt, um was es sich handle. Aber wir haben gesehen, daß es mit uns aus war.

Man hat jedem von uns einen Ausweisungsbefehl in die Hand gesteckt. Man sollte Deutschland vor dem 29. verlassen. Man hat uns nicht mehr erlaubt, wieder nach Hause zu gehen. Ich habe gebettelt, daß man mich nach Hause gehen ließe, um wenigstens einige Sachen zu holen. Ich bin dann in Begleitung eines Schupos fortgegangen und habe die notwendigsten Kleidungsstücke in einen Koffer gepackt. Das ist alles, was ich gerettet habe.

Wir haben keinen Pfenning. [...] Fortsetzung nächstes Mal.

Herzliche Grüße und Küsse von uns allen

Berta

 

Zbąszyń , 2. Baracke Grynszpan[17]

 

Einige Tage nach Erhalt dieser aufwühlenden Nachricht überkommen Herschel in seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit impulsive und nicht durchdachte Überlegungen, seiner gewaltsam nach Polen deportierten Familie sämtliche Ersparnisse zu schicken –, was aber in einer verbalen Auseinandersetzung mit seinem Onkel Abraham abgewiegelt wird.[18] Tatsächlich gibt es keine Garantie, dass das Geld die Familie in Polen wirklich erreichen würde. Nach dem Streit mit seinem Onkel verlässt Herschel am 6. November 1938 mit etwas Handgeld und der Ankündigung, nicht wiederzukommen, die Wohnung seiner Tante und des Onkels. Die Nacht verbringt er unter falschem Namen im Hotel „Suez“ am Boulevard Straßbourg 17.

Am nächsten Morgen, am 7. November 1938 verlässt Herschel gegen 08.30 Uhr das Hotel. Im Gemischtwarenladen „A la Fine Lame“ in der Rue du Fauburg St. Martin 61 im 10. Arrondissement kauft er sich für 235 Frances einen Trommelrevolver Kaliber 6,35 sowie 25 Patronen – zur Selbstverteidigung, wie er dem Verkäufer auf Nachfrage Auskunft gibt. Anschließend fährt er mit der Metro zur Deutschen Botschaft in der Rue de Lille, die er um 09.30 Uhr erreicht. Auf sein Verlangen einen Botschaftssekretär zu sprechen, um angeblich ein wichtiges Dokument zu übergeben, wird er von dem postierten Amtsgehilfen zum Zimmer des Legationsrates Ernst vom Rath geführt. Als Herschel im Büro angekommen unvermittelt den Revolver zieht und fünfmal auf den vor Schreck vom Schreibtischstuhl aufgesprungenen Ernst vom Rath schießt, ruft er: „Sie sind ein schmutziger Deutscher [sale boche], und nun übergebe ich Ihnen im Namen von 12.000 schikanierten Juden das Dokument.“

Herschel wird ohne jegliche Gegenwehr verhaften und ins naheliegenden Polizeirevier gebracht. Der 17-Jährige wird noch am selben Tag zweimal von der französischen Polizei ohne Rechtsbeistand verhört. Laut polizeilich protokollierter Aussage, bewegte ihn die Postkarte seiner Schwester dazu, ein Mitglied der Deutschen Botschaft in Paris zu erschießen.[20] Er gibt in den Vernehmungen aber unterschiedliche Hintergründe, Details und Tatmotive an. Am Tag darauf wird er einem französischen Untersuchungsrichter vorgeführt, der ihn erneut vernimmt. Hier gibt Herschel betont an: „Ich lege Wert darauf, Ihnen zu erklären, dass ich weder aus Hass noch aus Rache, sondern aus Liebe zu meinem Vater und meinem Volk handelte, die unerhörte Leiden ausstehen. Ich bedauere, einen Menschen verletzt zu haben, aber ich hatte kein anderes Mittel, meinen Willen auszudrücken“. [21]

Vom Rath, von zwei Schüssen schwer verletzt, wird umgehend nach dem Attentat in die nahegelegene Clinique d‘Alma gebracht. Sein Zustand ist kritisch, wenn auch nicht hoffnungslos.[19] Unmittelbar nach Bekanntwerden erhalten die behandelnden französischen Ärzte auch Unterstützung von Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt, der in der Nacht zum 8. November in Begleitung von Prof. Dr. Georg Magnus in die französische Hauptstadt fliegt. Am 9. November erliegt der 29-jährige Ernst vom Rath seinen Verletzungen. Es lässt sich nicht eindeutig belegen, ob die Nationalsozialisten dem Versterben vom Raths durch Unterlassung nachhalfen, um ihn als „Blutzeugen“ für ihre propagandistischen Zwecke zu instrumentalisieren.

 

[15] Armin Fuhrer, S. 98.

[16] Armin Fuhrer, S. 98.

[17] Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 55/20991, Briefe an und von Herschel Grynszpan

[18] Armin Fuhrer, S. 42.

[19] Armin Fuhrer, S. 62.

[20] Armin Fuhrer, S. 41.

[21] Armin Fuhrer, S. 108.

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