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Der Sturm und seine polnischen Künstler 1910-1930

Titelseite Der Sturm, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite Der Sturm, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite Der Sturm, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Den polnischen Novellisten, Dramatiker und Romancier Stanisław Przybyszewski (1868-1927) lernte Walden offenbar im Kreis um den Dichter Richard Dehmel kennen, in dessen Haus bereits Waldens Lehrer am Berliner Konservatorium, Conrad Ansorge (1862-1930), verkehrte.[15] Przybyszewski wurde 1868 in dem Dorf Lojewo im Kreis Inowrazlaw (heute Łojewo bei Inowrocław) als Sohn eines Lehrers geboren, ging zunächst auf das Gymnasium in Thorn und legte sein Abitur am Realgymnasium in Wongrowitz ab. 1889 ging er nach Berlin, studierte erst Architektur, dann Medizin, redigierte 1892/93 die von den deutschen Sozialdemokraten unterstützte polnische sozialistische Arbeiterzeitung Gazeta Robotnicza, wurde deshalb von der Polizei überwacht, verhaftet und 1893 von der Berliner Universität verwiesen. Mit seinem 1892 in Berlin erschienenen literarischen Debüt über „Chopin und Nietzsche“ in einer zweibändigen Reihe „Zur Psychologie des Individuums“[16] fand er Zugang zur Berliner Boheme. Er wurde der führende Kopf einer Gruppe von bildenden Künstlern und Schriftstellern, die sich zwischen 1892 und 1894 in der Kneipe Zum schwarzen Ferkel traf, darunter der skandinavische Stammtisch mit dem Schriftsteller und Dramatiker August Strindberg und den Malern Edvard Munch, Holger Drachmann und Christian Krogh, dann die deutschen Schriftsteller und Literaten Bierbaum, Dehmel, Dauthendey, Schlaf, Julius und Heinrich Hart, Scheerbart und andere.[17] Eng befreundet war er mit Dehmel. 1894-96 lebte er in Norwegen, 1696-98 wieder in Berlin. 1898-1900 redigierte er in Krakau die Zeitschrift Życie und verkehrte mit Mehoffer, Stanisławski, Tetmajer, Wyspiański und Żeleński. Später lebte er in Lemberg, Warschau, Thorn und München. Ab 1919 arbeitete er in der Postdirektion in Posen/Poznań, 1920-24 in der Bibliothek der Eisenbahndirektion in Danzig, schließlich 1924-26 in der Kanzlei des polnischen Staatspräsidenten Stanisław Wojciechowski (1869-1953) in Warschau.[18]

Im Zentrum von Przybyszewskis Philosophie und literarischem Denken standen das Unterbewusste und die ursprüngliche, nackte Seele. Er verarbeitete „Positionen und Stereotype von Décadence und Fin de siècle mit einem für deutsche Verhältnisse ungewohnten Tempo: Nietzscheanismus, Individualismus, Seelenkult und Geschlechterkampf gehen da unterschiedlichste Liaisonen ein.“[19] Zugleich pflegte er einen exzentrischen, anti-bürgerlichen Kult um seine eigene Person. Im Kreis seiner Freunde, so der polnische Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker Tadeusz Boy-Żeleński (1874-1941), „gab es nebelhafte Vorstellungen von einem genialen Schriftsteller mit polnischem Namen, der das Junge Deutschland in Aufruhr versetzt hatte. Man wusste nicht einmal, ob er wirklich Pole war. Einer der Jungen schrieb ihn an und erhielt eine Antwort im reinsten Polnisch. Zugleich verschlangen wir seine ersten Werke in deutscher Sprache. Welch eine bestrickende, exotische Lektüre! Przybyszewski bereicherte mit seiner Originalität die deutsche Sprache um neue Worte, ‚chopinisierte‘ sie, wie seine deutschen Freunde es enthusiastisch oder erbost ausdrückten. Er übertrug die polnische Romantik, den slawischen Weltschmerz und die slawische Sehnsucht und schuf eine eigene deutsche Sprache, die wie Orgeltöne klang.“[20] Przybyszewski selbst erinnerte sich: „Man hat in Polen von meinem Einfluss auf die deutsche Literatur phantasiert. Ich habe ihn wirklich ausgeübt – aber nicht mit meinem geschriebenen Werk, das ihnen von Natur fremd war und fremd sein musste, obwohl ich mich jener Sprache bedient habe oder eher: bedienen musste. Sie verstanden die Worte, waren sogar erstaunt, dass ich so unverschämt ihre Sprache chopinisierte, aber der Geist meines Werkes war ihnen fremder als ein chinesischer – einer nur verstand ihn: Richard Dehmel.“[21]

Der Fluchtpunkt von Przybyszewskis privater Mythologie war der „Dualismus zwischen ‚Gehirn‘ und ‚Seele‘, denen ‚Persönlichkeit‘ und ‚Individualität‘ (= Genie) zugeordnet“ wurden. Den Weg dazu eröffnete sich „Przybyszewski durch einen pompösen Schöpfungsmythos“.[22] Seine „Totenmesse“ von 1893 begann mit den Worten: „Am Anfang war das Geschlecht. Nichts außer ihm – alles in ihm“. Eine Essenz dieses Themas, also eine Mythologie der menschlichen Geschlechtlichkeit in einer Zeit, „wo die Sexualfrage mehr als je zuvor in den Vordergrund gestellt wird“ (Przybyszewski), veröffentlichte er im Dezember 1907 als Essay unter dem Titel „Das Geschlecht“ in Wien in Kraus‘ Fackel.[23] Es war zugleich der einzige Text von Przybyszewski, den Walden im Sturm publizierte, und zwar im September 1910 und erneut als wortgleichen Wiederabdruck (PDF 10).

 

[15] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 10

[16] Der zweite Band war dem schwedisch-deutschen Schriftsteller Ola Hansson (1860-1925) gewidmet.

[17] Walter Fähnders: Anarchismus und Satanismus bei Stanislaw Przybyszewski, in: Über Stanislaw Przybyszewski. Rezensionen, Erinnerungen, Porträts, Studien (1892-1995). Rezeptionsdokumente von 100 Jahren, herausgegeben von Gabriela Matuszek, Paderborn 1995, Seite 305-326, hier Seite 307

[18] W. Bieńkowski: Przybyszewski, Stanisław, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Band 8, Lieferung 39, 1982, Seite 315 f., online: http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_P/Przybyszewski_Stanislaw_1868_1927.xml?frames=yes118742108

[19] Fähnders (siehe Anm. 17), Seite 308

[20] Tadeusz Boy-Zelenski: Erinnerungen an das Labyrinth. Krakau um die Jahrhundertwende. Skizzen und Feuilletons, Leipzig, Weimar 1979, Seite 205

[21] Jahrhundertwende. Die Literatur des jungen Polen 1890-1918, herausgegeben von Maria Podraza-Kwiatkowska, Leipzig 1979

[22] Fähnders (siehe Anm. 17), Seite 308

[23] Stanislaw Przybyszewski: Das Geschlecht. Weininger’s Manen gewidmet, in: Die Fackel, IX. Jahrgang, Nr. 239-240, Wien, 31.12.1907, Seite 1-11