Henryk Marcin Broder: deutsches Denken mit jüdischer Vernunft und polnischem Herz

Henryk Marcin Broder, 2013
Henryk Marcin Broder, 2013

Als Autor macht Broder sich anscheinend gerne unbeliebt und mag vor allem jene Menschen, die ihn nicht mögen, wie er immer wieder sagt. Dass er damit kokett seinen Glauben an das Gute und [AF1] seine Hoffnung auf Besseres angesichts der alltäglichen Grausamkeiten überspielt, gehört zu den romantischen Seiten des exzentrischen Selbstdarstellers. Besonders sichtbar wird dies in seinen Talk-Show-Auftritten, von denen einige Kultstatus genießen, wie beispielsweise die legendäre Talkrunde mit den berühmten Boxkontrahenten Graciano Rocchigiani und Dariusz Michalczewski in der Sendung „Markus Lanz“ am 12. Februar 2014. Den legendären „Tiger“ Michalczewski sprach Broder während der Sendung mehrfach auf Polnisch an.

Anlässlich zahlreicher Preise und Ehrungen ist in den letzten Jahren sehr viel über Broder gesagt worden, was im Internet, seinem derzeit bevorzugten Medium, leicht zu finden und was ihm daher sicherlich recht ist. Was macht ihn in der deutschen Journalistenszene so unverwechselbar? 

Vielleicht sein polnisches Herz: das Gefühl fürs Absurde, der Hang zur starken Übertreibung, seine Neugierde, genuine  Wahrnehmung von Details, Vergötterung der Ironie, vulkanartige Emotionalität, Erkenntnisvermittlung durch Symbolik, Witz und Anekdoten, Betonung der Kraft des Imaginären, die Liebe zum Paradox, eine Tendenz zum gesunden Fatalismus, Melancholie oder überbetonte Empörung; es sind eine Aversion gegen Manipulationen, eine notorisch destruktive Grundeinstellung in der dauerhaften Suche nach dem Positiven, gelegentlich die rein polnischen Eigenschaften „pieniactwo“ und „warcholstwo“, was nicht exakt ins Deutsche übersetzt werden kann, sondern in etwa bedeutet: Ich habe zu jedem Thema etwas zu sagen und ich bin ein streitsüchtiger Unruhestifter. Außerdem kennzeichnend für Broders polnisches Herz könnten seine romantische Seele sein, Losgelöstheit und Offenheit als Arbeits- und Lebensmodus, affirmatives Desinteresse am Materiellen, Sehnsucht nach Sicherheit und die wohl bedeutendste Eigenschaft: Glaube an die Liebe als endgültige Antriebskraft. 

Broder gestaltet die Szene der vierten Gewalt in Deutschland, also der freien Presse, seit Jahrzehnten prägend mit. Vieles, sehr vieles wurde über ihn geschrieben und das Phänomen Broder wurde mit bisweilen unheimlicher Akribie öffentlich analysiert. Trotzdem ist zu vermuten, dass nur ein Bruchteil dieser vielfältigen Persönlichkeit  bekannt ist. An seinem vor allem in den elektronischen Medien stets präsenten ironischen Lächeln kann man jedoch ablesen: Seid unbesorgt, das ist noch längst nicht alles, denn ich habe noch viel zu sagen, und: So einfach werdet ihr mich nicht los. Das Kalkül der Vernunft scheint am Ende größer zu sein als seine Emotionalität.

Henryk Marcin Broder ist seit 2011 Kolumnist bei der Tageszeitung Die Welt. Von Berlin aus ist er ständig weltweit auf Achse. 

 

Jacek Barski, Juli 2018