Menu toggle
Navigation

Jesekiel David Kirszenbaum (1900–1954). Ein Bauhaus-Schüler

Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

Mediathek Sorted

Mediathek
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

Das Kriegsende und die folgende Zeit erlebte Kirszenbaum in völliger Verzweiflung, da er – jetzt wieder ansässig in Paris in der Rue Bobillot unweit des Künstlerviertels Montparnasse – ohne Nachricht über den Verbleib seiner Ehefrau geblieben war.[83] „Seitdem lebe ich in Schmerz und Bitterkeit. Ich bin kein Heiliger, ich habe kein Vertrauen in die Menschen oder in mein eigenes Leben“, wird er später zitiert.[84] Künstlerisch blieb er seinen bisherigen Themen zunächst treu. In einer Reihe von Gemälden behandelte er erneut den Exodus, also Flucht und Vertreibung der Juden. Dazu gehören das expressive Bild „Eine Mutter mit ihren beiden Kindern auf der Flucht“ (Abb. 44 . ), das Gemälde „Meine Tränen werden zu einem Fluss“[85] mit dem Porträt eines weinenden alten Mannes im Vordergrund sowie fliehenden und rastenden Juden dahinter (beide von 1945), außerdem ein Bild mit „Flüchtlingen“,[86] die sich auf offenem Meer in einem Boot zusammendrängen (undatiert, Tel Aviv Museum of Art). Mehrere Figurenbilder rufen erneut die Erinnerung an Staszów wach, darunter ein „Blinder Geiger“, ein „Sitzender Hausierer“, ein „Jüdischer Mann mit Tallit“[87] und ein in expressiven Umrissen gemalter „Mann aus Staszów“ (Abb. 45 . ) sowie das impressionistisch und in der Formgebung nahezu kubistisch skizzierte „Porträt eines Juden mit Pfeife“ (Abb. 46 . ). 1946 entstand eine letzte Version der „Ankunft des Messias im Stetl“ (Abb. 47 . ) mit teils karikierten, teils grotesk positionierten farbigen Figuren.

Auf das Bruststück des gekreuzigten Jesus (1944) und eine entsprechende Tuschezeichnung mit der hebräischen Beischrift „Gott, warum hast du uns verlassen“[88] folgten weitere biblische Themen: das Porträt eines weinenden jüdischen Mannes, das auch als Jesus mit der Dornenkrone gedeutet werden kann, und als Dreiviertelfigur ein Bildnis des verzweifelten Hiob.[89] Auch das Bild „Meine Tränen werden zu einem Fluss“ lässt sich auf eine Bibelstelle, die Klage der Gefangenen zu Babel,[90] beziehen. Einzelporträts von Aposteln, Heiligen, Meditierenden, Denkern[91] und Rabbinern (Abb. 48 . ) werden von wenigen plastischen Arbeiten des Künstlers, darunter ein „Jeremias“ als Terrakottafigur,[92] begleitet. Höhepunkt dieser Serie bildet ein 1947 gemaltes lebensgroßes Triptychon der Propheten Moses, Jeremias und Elias (Tel Aviv Museum of Art),[93] deren kubistisch vereinfachte Umrissfiguren in reduzierter Farbigkeit von Rot- und Blautönen möglicherweise von Rouault beeinflusst sind. An Chagall erinnert hingegen eine Serie von Gemälden, auf denen fliegende Engel die verlorenen Seelen aus dem Stetl hinfort tragen,[94] eines davon mit dem Titel „In unserer Welt gibt es keinen Platz für die Juden“ (Abb. 49 . ).

Die große Bandbreite der stilistischen Möglichkeiten des Künstlers zeigen zwei 1946 entstandene nachdenkliche Porträts: das spätimpressionistisch gemalte Selbstbildnis (Abb. 50 . ) und das Porträt des jugendlichen Journalisten Robert Giraud (1921-1997, Abb. 51 . ), das stilistisch an die Bildnisse des schon 1920 verstorbenen Modigliani erinnert. Giraud stammte aus Limoges, war dort als Mitglied der Résistance von den Deutschen inhaftiert worden und lebte seit dem Kriegsende in Paris. Kirszenbaum hatte 1945 in Limoges, 20 Kilometer südlich von Bellac, eine Ausstellung in der Galerie Folklore. Wo sich beide kennengelernt haben, ist jedoch nicht bekannt.

Schon 1946 wurde Kirszenbaums Palette merklich bunter (Abb. 47 . , 49 . ) und er begann sich mit neuen Themen zu beschäftigen. Ein „Harlekin“,[95] ein „Trompeter“[96] und ein „Violinist“ in Galakostümen verweisen auf die Welt des Zirkus, ein Thema, das von den Malern der École de Paris, vor allem von Rouault, häufig bearbeitet wurde. Die flächige, leuchtende Farbigkeit dieser Figurenbilder verweist auf die Gruppe der Fauves, vielleicht auf Derain. Auch ein erneutes Erinnerungsbild an Staszów, das Aquarell „Der Metzger“ (Abb. 52 . ) im Besitz des Pariser Centre national des arts plastiques,[97] greift mit seiner fleckigen Buntfarbigkeit auf die Fauves zurück.

Kirszenbaum gelang es in dieser Zeit, in Paris alte Kontakte wiederzubeleben und neue zu knüpfen. 1946 beteiligte er sich am Salon des Tuileries und an der Ausstellung der Künstlergruppe Salon de Mai, die sich 1943 während der deutschen Besetzung von Paris als Opposition zu den Nationalsozialisten gegründet hatte. Im selben Jahr und erneut 1952 erwarb der französische Fond national d’art contemporain Werke von ihm, die sich heute im Centre national des arts plastiques befinden. 1947 stellte er in der Galerie des Quatre chemins und im Salon der Künstlergruppe Les Surindépendants aus, deren Mitglied er im Jahr darauf wurde. Vor allem aber unterstützte ihn Baronin Alix de Rothschild, die in der Nachkriegszeit zahlreichen Künstlern half, künstlerisch wieder Fuß zu fassen. Sie nahm Mal- und Zeichenunterricht bei ihm, empfing ihn als Gast in ihrem Haus, erwarb seine Werke und stellte seine aktuellen Arbeiten, „Arts sacrés, sujets religieux“, 1947 in ihrem Anwesen in der Avenue Foch 21 in Paris aus.[98] Sie begleitete den Künstler in den folgenden sieben Jahren, organisierte 1961 die Gedenkausstellung in der Pariser Galerie Karl Flinker und vermachte wichtige Werke von Kirszenbaum aus ihrer Sammlung israelischen Museen.

 

[83] Brief vom 20.4.1945 (siehe Anmerkung 57)

[84] Zitiert nach Frédéric Hagen: J.D. Kirszenbaum = Ausstellungs-Katalog Galerie Karl Flinker, Paris 1961 (vergleiche Anmerkung 7), in: J.D. Kirszenbaum 2013, Seite 78 f.

[85] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 98

[87] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 18, 19

[88] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 80 f.

[89] Ebenda, Seite 97, 100

[90] „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“ (Psalm 137, 1)

[91] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 22, 23

[92] Fotografie von 1945 im Centre Pompidou, Paris, MNAM-Bibiothèque Kandinsky, abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 106

[93] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 102 f.; https://www.kirszenbaum.com/france?lightbox=imageh5n

[94] Fotografie im Centre Pompidou, Paris, MNAM-Bibiothèque Kandinsky, abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 84; das Gemälde in Privatbesitz

[95] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 68

[96] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 20

[98] Einladungskarte abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 82