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Jesekiel David Kirszenbaum (1900–1954). Ein Bauhaus-Schüler

Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

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Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

Zwei Tuschezeichnungen, die 1925 in Berlin, also unmittelbar nach Kirszenbaums Studium am Bauhaus entstanden sind, „Beim Studium des Maimonides“ (Abb. 2 . ) und „Musiker und ihre Anhänger“ (Abb. 3 . ), reflektieren mit ihrem flächigen Stil, sich überschneidenden geometrischen und prismatischen Formen und dem Einfließen schriftlicher Elemente Kunstrichtungen der Zeit zwischen Kubismus, Dada und Expressionismus. Möglicherweise waren sie als Vorlagen für Holz- oder Linolschnitte gedacht, wie sie in diesen Jahren von zahlreichen Künstlern in kontrastreichem Schwarzweißstil als Illustrationen und Grafikbeilagen für Zeitschriften wie den Sturm geschaffen wurden. Die Bildmotive sind Alltagsszenen aus dem Stetl, die Kirszenbaum in seiner Kindheit und Jugend in Staszów selbst erlebt hatte und in seinen schriftlichen Erinnerungen schilderte: das Studium der alten jüdischen Schriften im Cheder, und die traditionellen Geigenspieler, zu deren Musik nicht nur die Leute der Stadt, sondern auch, man denke an ähnliche Motive von Chagall, allerlei Tiere zusammengelaufen sind.

Die geometrische Segmentierung der Figuren und die schematisierten Physiognomien der „Musiker“ (Abb. 3 . ) erinnern an das Frühwerk von Chagall, etwa an dessen „Viehhändler“ von 1912: vom Sturm-Verlag als Kunstpostkarte vertrieben und noch im April 1926 von Walden in einer Verteidigungsschrift über den Expressionismus abgebildet.[49] Im „Maimonides“-Blatt (Abb. 2 . ) erscheint im Blick durch das rückwärtige Fenster eine prismatisch verschnittene Stadtansicht, wie sie Lyonel Feininger, Leiter der Druckwerkstätten am Bauhaus, beispielsweise in seinem Bild „Mellingen VI“ 1922 gestaltete.[50] An Feininger, aber auch an die prismatischen Formen des 1922 von Walter Gropius, dem Direktor des Bauhauses, entworfenen „Denkmals der Märzgefallenen“ auf dem Hauptfriedhof in Weimar erinnert Kirszenbaums um 1925 entstandenes Aquarell „Trauer“ (Abb. 4 . ). Das Gemälde „Geiger im Stetl“ (Abb. 5 . ), als Motiv in Chagalls Frühwerk in kubistischem Stil vorbereitet,[51] literarisch jedoch auch in Kirszenbaums Jugenderinnerungen geschildert,[52] bereitet dessen spätimpressionistischen Stil der Dreißiger‑ und Vierzigerjahre (Abb. 38 . , 42 . ) vor.

Ganz anderen Charakter haben eine Zeichnung und Radierungen mit Szenen aus dem jüdischen Leben (Abb. 6-11 . ), die an die beiden frühesten bekannten Motive dieser Art von 1923 anschließen. „Die Hochzeit“ (1925, Abb. 6 . ), eine Tuschezeichnung im Besitz des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, folgt dem stilisierten, beschwingten Stil mit eingesprengten kleineren Figuren, den Chagall um 1925 in seinen Radierungen pflegte[53] und der kennzeichnend für dessen Spätwerk wurde. Die scharfkantig-expressionistischen Szenen mit innerlich bewegten Gesichtern betender Juden (Abb. 7-9 . ) erinnern an ähnliche Köpfe und Szenen von Ludwig Meidner (1884-1966) und Jakob Steinhardt (1887-1968), die beide zum Kreis der Berliner Sturm-Künstler gehörten und für ihre jüdischen Bildmotive bekannt sind. Vor allem bei Kirszenbaums bewegten Szenen, „Tanz der Hassidim“, (1925, Abb. 10 . ) und „Pogrom durch die Kossaken“ (um 1930, Abb. 11 . ), ist der Einfluss dieser beiden Künstler zu erkennen.

Bekannt für seine jüdischen Motive war auch der aus der Ukraine stammende Maler Issachar Ber Ryback (1897-1935), der seit 1921 in Berlin lebte, zur Novembergruppe gehörte, seine Arbeiten in der Juryfreien Kunstausstellung zeigte und 1926 nach Paris ging. Auch von ihm gibt es zahlreiche Versionen eines Geigers im Stetl und andere Volksszenen. Es ist also anzunehmen, dass sich Kirszenbaum während seiner Zeit in Berlin verstärkt im Kreis der jüdischen Künstler bewegte ­­– Paul Citroen nicht zu vergessen – und sich dort mit den von ihm geschaffenen Szenen profilieren konnte. Belegt ist auch Kirszenbaums Freundschaft mit dem jüdischen Maler Felix Nussbaum (1904-1944 in Auschwitz ermordet), der ab 1923 in Berlin an der Lewin-Funcke-Schule studierte, ab 1930/31 zu den arrivierten jungen Berliner Künstlern zählte und 1933 über Italien und Frankreich nach Belgien emigrierte.[54] Nussbaum nahm 1931 an der Ausstellung Frauen in Not teil.[55]

 

[49] Herwarth Walden: Expressionismus, in: Der Sturm, 17. Jahrgang, 1. Heft, Berlin, April 1926, Seite 2-12, Marc Chagall: Der Viehhändler, Seite 5, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1926_1927/0013/image. Das Gemälde befindet sich heute im Kunstmuseum Basel, http://sammlungonline.kunstmuseumbasel.ch/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=1129&viewType=detailView

[50] Abgebildet im zur Bauhaus-Ausstellung 1923 erschienenen Katalog: Staatliches Bauhaus Weimar 1919-1923, Weimar, München, 1923, Seite 183. Das Gemälde befindet sich heute im Israel Museum, Jerusalem, https://www.imj.org.il/en/collections/387956

[51] Marc Chagall: Le violiniste, 1912/13, Stedelijk Museum, Amsterdam, https://www.stedelijk.nl/en/collection/753-marc-chagall-le-violoniste; ein Holz- oder Linolschnitt von Chagall mit einem Geiger vor dem Stetl noch 1917 abgebildet in: Der Sturm, 8. Jahrgang, 2. Heft, Berlin, Mai 1917, Seite 25, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1917_1918/0031/image

[52] „The blind violinist would come to Staszów each year right before Pesach; he was the herald of spring in Staszów. The piercing strings of his violin would express boundless sadness, and when he would accompany his playing with a song on the pogrom in Kishinev, the whole picture of the terrifying events would be visible before my eyes.“ (J.D. Kirszenbaum 2013, siehe Literatur, Seite 129)

[53] Marc Chagall: Der Akrobat mit der Geige, 1924, Radierung und Kaltnadel; Illustrationen zu Nikolai Gogol, Les Âmes Mortes, 1923-27, Radierungen (Marc Chagall. Druckgraphik, herausgegeben von Ernst-Gerhard Güse, Stuttgart 1985, Seite 247, 46-73)

[54] Um die Jahreswende 1946/47 erkundigte sich Kirszenbaum brieflich beim Direktor der Königlichen Kunstmuseen Belgiens in Brüssel, Paul Fieren, nach dem Schicksal von Felix Nussbaum und erhielt am 20.1.1947 die Antwort, das Nussbaum und dessen Frau in ein Konzentrationslager deportiert wurden und nicht zurückgekehrt seien. (Brief abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013, siehe Literatur, Seite 26 f.)

[55] Adolf Behne: Die Ausstellung „Frauen in Not“, in: Welt am Abend, Nr. 243, 1931; abgebildet in: Revolution und Realismus 1978 (siehe Literatur), Seite 28