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Jesekiel David Kirszenbaum (1900–1954). Ein Bauhaus-Schüler

Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

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Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

Dem stilisierten, beschwingten Stil gehören auch die satirischen Zeichnungen an, die vermutlich 1925/26 entstanden, aber in späteren Jahren in der Zeitschrift Der Querschnitt erschienen (Abb. 12-14 . ), darunter wieder ein offenbar blinder Geiger im Stetl, der mit einem Passanten aneinandergeraten ist. Kirszenbaums Karikaturen für den Ulk beginnen im Frühjahr 1926 mit etwas simplen Umrissformen (Abb. 15-16 . , 19 . ), um dann schon im Juli in großformatige, von starken Schwarzweißkontrasten bestimmte, elegante und zugleich bissige Gesellschaftsszenen überzugehen (Abb. 17 . , 18 . , 20-31 . ). Entwickelt hatten diesen Stil bekannte Karikaturisten vor ihm, Eduard Thöny, Thomas Theodor Heine, Olaf Gulbransson und Karl Arnold, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für die Zeitschriften Simplicissimus und Jugend arbeiteten, noch in den Zwanziger‑ und Dreißigerjahren tätig waren und zu denen junge Zeichner wie Herbert Marxen hinzugestoßen waren.

Kirszenbaum gab diesem lange eingeführten Stil eine neue Note, indem er sich in der Szenerie und den Physiognomien an George Grosz orientierte, der sich unter anderem seit seiner Mappe „Das Gesicht der herrschenden Klasse“ (1921) und in dem 1926 entstandenen Gemälde „Stützen der Gesellschaft“ (Nationalgalerie Berlin) an den Institutionen der Weimarer Republik, Politikern, den christlichen Kirchen und dem konservativen Bürgertum abarbeitete und Spießigkeit, Doppelmoral, Militarismus und sittlichen Verfall aufs Korn nahm. Grosz arbeitete seit 1926 ebenfalls für den Simplicissimus, den Eulenspiegel und später für den Roten Pfeffer. Opfer von Kirszenbaums zeichnerischen Übertreibungen und Spott waren das konservative, kaisertreue Bürgertum (Abb. 17 . ), deutschnationale Burschenschaften und Politiker (Abb. 20 . , 25 . , 30 . oben), Manager und Bonzen (Abb. 21 . ), bräsige Familienväter (Abb. 22 . ) und Freizeitpolitiker (Abb. 26 . ) ebenso wie die gehobene Gesellschaft (Abb. 29 . ) oder sogenannte „moderne“ Künstler (Abb. 30 . unten). Dank seiner zeichnerischen Fähigkeiten wären diese Typen auch ohne die von der Redaktion ergänzten literarischen Satiren und Bonmots zu erkennen gewesen.

Daneben zeichnete er auch harmlosere Gesellschaftsszenen, die Kostüm und Lebenshaltung der „Goldenen Zwanzigerjahre“ treffend charakterisieren (Abb. 18 . , 23 . , 24 . , 27 . , 28 . ). Sie nähern sich stilistisch der Neuen Sachlichkeit, wie sie Rudolf Schlichter, Otto Dix und andere vertraten, deren kritisch-karikierender Grundton Kirszenbaum ebenfalls beeinflusste. Ein besonderer Wurf gelang ihm mit seiner dreiviertelseitigen Karikatur „Ball der Expressionisten“ (Abb. 31 . ), in der er alle genannten Stilrichtungen mit den Schrifteinsprengseln von Dada und den prismatisch verschnittenen Kompositionslinien des Expressionismus vereinigte und in dieser Kombination ein umfassendes Kultur- und Sittenbild der Zeit entwarf. Künstlerbälle, von den Akademien und Kunstschulen oder von freien Künstlerverbänden ausgerichtet, galten, nicht nur in Berlin, seit dem Beginn der Zwanzigerjahre als jährliche Höhepunkte des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Die Karikaturen für die Jugend fielen wieder harmloser aus (Abb. 32-34 . ). In den beiden 1931 im Querschnitt veröffentlichten Zeichnungen fand der Künstler jedoch wieder zu Männertypen zurück, die Grosz und Dix vorgebildet hatten (Abb. 35 . , 36 . ).

1933 flohen Kirszenbaum und seine Frau vor den Nationalsozialisten nach Paris, da sie nicht nur wegen ihrer jüdischen Herkunft, sondern auch aufgrund der engen Kontakte zu den Kommunisten in höchster Gefahr waren. Sie ließen ihren gesamten Besitz, darunter nahezu alle Werke des Künstlers, in Berlin zurück. In Paris fand Kirszenbaum offenbar schnell Anschluss. Bereits im November 1933 nahm er am Pariser Herbstsalon, dem 1903 ins Leben gerufenen Salon d’Automne, teil,[56] der seit den Zwanzigerjahren von den Malern aus dem Künstlerviertel Montparnasse, darunter Chagall, Modigliani und Braque, dominiert wurde und als wichtigster Ausstellungsort der Avantgarde galt. Kirszenbaum war dort bis 1935 vertreten.[57] Ebenfalls im November 1933 nahm er mit Landschaftszeichnungen an einer Ausstellung teil, die das französische Komitee zum Schutz verfolgter jüdischer Intellektueller zugunsten von aus Deutschland vertriebenen Künstlern organisiert hatte.[58]

[56] L'Écho de Paris vom 3.11.1933, Seite 5, 5. Spalte, erster Absatz, online-Ressource: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k8149828/f5.item. Der Künstler verwendete anfangs offenbar eine französische Schreibweise seines Namens, „Kirchenbaum“, später auch die deutsche, um zuletzt zur polnischen zurückzukehren.

[57] Brief Kirszenbaum an den Generaldirektor des Fond National d’Art Contemporain in Paris vom 20.4.1945, abgebildet in: J.D. Kirszenbaum 1913 (siehe Literatur), Seite 24 f.

[58] Les intellectuels juifs persécutés. Les afiches, in: Le Temps vom 1.11.1933, Seite 4, 2. Spalte, online-Ressource: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2493917/f4.item; dort ebenfalls „Kirchenbaum“