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Jesekiel David Kirszenbaum (1900–1954). Ein Bauhaus-Schüler

Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

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Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

Im Januar 1936 zeigte Kirszenbaum eine Einzelausstellung in der Galerie Mouradian-Vallotton in der Rue de Seine 41 mit Zeichnungen und Aquarellen „in einer stets fröhlichen Palette zwischen tiefem Rot und Blau … die sich hauptsächlich mit dem russischen Bauernleben“ befassten, wie das Pariser Journal Juif berichtete.[59] Die Galerie handelte in diesen Jahren unter anderem mit Werken von Degas, Utrillo und Max Ernst. Die konservative Tageszeitung Paris-Midi kündigte Kirszenbaums Ausstellung als „jüdische Malerei“ an, die Straßen- und Dorfszenen, arme Händler, Bauern und Arbeiter zeige. Bei den insgesamt 20 Aquarellen seien „die Farben umso brillanter, je naiver sie aufgetragen“ würden.[60]

1938 war der Künstler am Salon der Association Artistique des Surindépendants beteiligt, die 1929 gegründet worden war und in der vor allem surrealistische und abstrakte Maler ausstellten. Ebenfalls 1938 zeigte er Werke in der Exposition des Peintres Allemands des im Jahr zuvor in Paris von deutschen Exilkünstlern gegründeten Freien Künstlerbunds (FKB, Union des Artistes Libres), dem unter anderem Max Ernst, Otto Freundlich und Hans Hartung sowie hauptsächlich Künstlerinnen und Künstler angehörten, deren Werke in Deutschland von den Nationalsozialisten während der Aktion „Entartete Kunst“ aus den Museen entfernt, verkauft, zerstört und in der gleichnamigen Ausstellung diffamiert wurden.

Zu den bei Mouradian-Vallotton gezeigten Arbeiten gehörte vermutlich der im Vorjahr datierte „Mann mit Zigarette“ (Abb. 37 . ), eine jener in der Presse beschriebenen aquarellierten Straßenszenen mit einfachen Leuten in prägnanten Kontrasten von Rot und Blau. Auch ein Harmonikaspieler und ein Bassgeiger,[61] ein Mann mit geflickter Kleidung, Stiefeln und einem Sack auf dem Rücken[62] sowie zwei Bauern im Gespräch vor einem Pferdefuhrwerk sind in dieser Technik bekannt. Daneben entstanden Gemälde, ein „Alter Jude“ mit Stock, Mütze und Schultergepäck (1936),[63] ein „Alter Jude in einer Schneelandschaft“ (um 1937)[64], die Büste eines Juden[65] und „Der Fischer“ (beide 1938)[66] in gedeckten Braun- und Grautönen, die mal an den Stil von Braque, mal an Rouault oder Modigliani erinnern. Die jüdischen Szenen und Porträts sind sicher – wie die zuvor in Berlin entstandenen Arbeiten – aus der Erinnerung gemalt und rufen Personen und Ereignisse aus Staszów wach. Ein „Schlafwandler“ über den Dächern der Stadt mit einem lachenden Mond, um 1937 impressionistisch in hellen Blautönen gemalt,[67] scheint von Chagall oder den Surrealisten beeinflusst.

In einer Reihe von Gemälden verlegte der Künstler die biblische Überlieferung in die Stadt seiner Kindheit: Das 1937 entstandene Gemälde „Die jüdischen Dorfbewohner begrüßen den Messias“ (Abb. 38 . ) zeigt den Erlöser, wie er in Gestalt eines Chassiden auf einem weißen Esel in Staszów einreitet. Am Sattel hängen eine Kapsel mit den Gebetsriemen und ein bestickter Beutel, der die 613 Gebote, die Mitzwot, enthält. Am linken Bildrand sind das Stationsschild von Staszów und der Bahnhofsvorsteher zu sehen, rechts erwarten ihn chassidische Rabbiner und Vorbeter und mehrere Gruppen von Einwohnern, die den Messias auf Schildern in hebräischer Schrift begrüßen. 1939 malte Kirszenbaum eine neue Version dieses Themas (Abb. 39 . ), 1942 und 1946 zwei weitere Interpretationen (Abb. 43 . , 47 . ). Stilistisch wechselte er zwischen einer spätimpressionistischen Auffassung, die den Künstler als Meister der Grautöne zeigt, und einer naiv wirkenden, buntfarbigen Figurenszenerie, deren Vorbild Werke der Künstlergruppe Fauves gewesen sein könnten. Auslöser für das Thema, aber auch für die von den Bildrändern in die Szene blickenden Figuren und die emporgehaltenen Schrifttafeln und Fahnen dürfte das vielfach publizierte und 1939 in Paris ausgestellte Gemälde von James Ensor, der „Einzug Christi in Brüssel“ (1888),[68] gewesen sein.

Zur gleichen Zeit beschäftigte sich Kirszenbaum mit einem weiteren klassisch-jüdischen Thema, dem Exodus und der seit dem Mittelalter verbreiteten Legende des Wandernden Juden, die beide durch die Judenverfolgung der Nationalsozialisten und die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen neue Aktualität erlangt hatten. Eine Ölskizze von 1938 in der Sammlung des Israel Museum in Jerusalem zeigt auf ihrem Gepäck sitzende „Wandernde Juden“ in freier Landschaft.[69] 1939 schuf der Künstler eine Folge von Radierungen mit dem Titel „Exodus“. Sie zeigt verschiedene Züge von Juden, die von Soldaten eskortiert werden (Abb. 41 . ), eine Mutter, die ihre Kinder umarmt,[70] und eine Familie, die sich mit einem offenen Pferdewagen und wenigen Habseligkeiten auf den Weg gemacht hat (Abb. 40 . ). Auch dieses Thema verfolgte der Künstler nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiter (Abb. 44 . ).

 

[59] Exposition de J.-D. Kirschenbaum, in: Le Journal Juif, 13. Jahrgang, Nr. 3, Paris, 17. Januar 1936, Seite 4, 4. Spalte, online-Ressource: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k62282932/f4.image.r=Kirchenbaum. Kirszenbaum erwähnt die Galerie in seinem Brief vom 20.4.1945 (siehe Anmerkung 56).

[60] G.-J. Gros: Peintres de sentiment, in: Paris-Midi vom 24.1.1936, Seite 2, 2. Spalte, online-Ressource: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k4729237j/f2.image.r=Kirchenbaum

[61] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 140 f., https://www.kirszenbaum.com/france?lightbox=imagevuo

[62] Ebenda, Seite 89

[63] Ebenda, Seite 72

[65] Ebenda, Seite 73

[66] Ebenda, Seite 149

[67] Ebenda, Seite 67

[69] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 88

[70] Ebenda, Seite 93