Jesekiel Kirszenbaum – Ausstellung in Solingen

Beim Studium des Maimonides, Berlin 1925. Tusche auf Papier, 50 x 32 cm, Privatbesitz
Beim Studium des Maimonides, Berlin 1925. Tusche auf Papier, 50 x 32 cm, Privatbesitz

Eine Sammlung von persönlichen Dokumenten zeigt die wenigen Überreste, die von einem Leben zwischen Flucht und Verfolgung und im Exil geblieben sind und die somit besondere Schätze aus dem Besitz der Familie darstellen. Sie fungieren in der Ausstellung, in langer Reihe auf einem Pult unter Glas präsentiert, auch als Zeitleiste und als Ersatz für eine Biografie, die man sich am Beginn der Ausstellung gewünscht hätte. Zu sehen sind teils frühe Fotografien und eine maschinenschriftliche Autobiografie, aus der Erinnerungen an die Kindheit in Staszów zu lesen sind (Abb. 6, 7). Ausrisse aus Pariser Zeitungen und Zeitschriften von 1933 berichten über Ausstellungen, an denen Kirszenbaum nach seiner Flucht in Paris teilnahm und in denen er sich erfolgreich als junges Mitglied der École de Paris präsentierte. Schließlich sind Briefe zwischen Kirszenbaum und seiner Frau Helma aus dem Jahr 1940 zu sehen, nachdem er selbst 1939 bei Kriegsausbruch zunächst in ein Lager in Meslay du Maine östlich von Rennes deportiert worden war (Abb. 8). 1941 wurde er in ein Lager für ausländische Arbeiter in Bellac im Limousin abkommandiert. Auch seine Frau durchlief zunächst ein Lager in Gurs, wurde wieder entlassen, 1943 verhaftet und im Jahr darauf ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet.

Aus einem Brief nach Kriegsende, in dem sich der Künstler beim Generaldirektor der Königlichen Kunstmuseen in Brüssel nach einer Ausstellungsmöglichkeit erkundigte, ist herauszulesen, dass ihm 1942 die Flucht aus dem Arbeitslager gelang und er sich bis Kriegsende versteckte, während seine Wohnung in Paris mit sechshundert Kunstwerken von den Deutschen geplündert wurde. Über das Schicksal seiner Ehefrau habe er keine Nachricht, schrieb Kirszenbaum. Als er sich in einem weiteren Brief nach Brüssel über den Verbleib seines Freundes, des Malers Felix Nussbaum (1904-1944), erkundigte, erhielt er die Nachricht, dass Nussbaum und seine Frau von der Deportation in ein Konzentrationslager nicht zurückgekehrt seien (Abb. 9). Einladungskarten, Kataloghefte, Fotografien und das Plakat einer Retrospektive 1962 in der Pariser Galerie Karl Flinker berichten über Kirszenbaums künstlerische Tätigkeit bis zu seinem frühen Tod 1954 in Paris. Einzelausstellungen hatte er unter anderem 1946 in Lyon in der Maison de la Pensée Française, in Paris 1947 in der Galerie Quatre Chemins, 1951 in der Galerie André Weil und 1953 in der Galerie Au Pont des Arts. Vor allem aber kümmerte sich Baronin Alix de Rothschild, die nach dem Krieg verfolgten Künstlern half, um Kirszenbaum, nahm bei ihm Malunterricht, erwarb seine Werke und stellte dessen aktuelle Arbeiten, „Arts sacrés, sujets religieux“, 1947 in ihrem Anwesen in der Avenue Foch 21 in Paris aus. Außerdem nahm er 1946 an der Ausstellung der Künstlergruppe Salon de Mai teil, die sich 1943 während der deutschen Besetzung von Paris als Opposition zu den Nationalsozialisten gegründet hatte. Ebenfalls 1946 beteiligte er sich am Salon des Tuileries, 1947 an der Ausstellung der Künstlergruppe Les Surindépendants, deren Mitglied er im Jahr darauf wurde, und 1954 am Salon des peintres témoins de leur temps.

Durch den Verlust nahezu des gesamten Frühwerks sind in der Ausstellung lediglich ein  Gemälde aus der Berliner Zeit, nämlich ein Porträt von Sigmund Freud aus dem Jahr 1930 (Abb. 10, rechts), sowie drei Gemälde aus der ersten Pariser Periode bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Abhilfe hätten hier nur Leihgaben aus weit entfernten Museen schaffen können wie ein 1925 in Berlin entstandenes Selbstporträt im Frans Hals Museum in Haarlem oder jüdische Szenerien, die Kirszenbaum in den Dreißigerjahren in Paris malte und die in israelischen Museen aufbewahrt werden. Während das Freud-Porträt, zu dem nichts Näheres zu erfahren ist und das nach einer Fotografie gemalt sein kann, in seinem dunklen, fleckigen Malduktus, der steifen Haltung des Porträtierten und den grob ausgeführten Händen an Bildnisse von Oskar Kokoschka aus den Zehnerjahren oder von Chaim Soutine, eine Dekade später gemalt, erinnert, findet Kirszenbaum in Paris seinen eigenen Stil: Durch das Studium der Impressionisten in den Museen und Galerien und den Einfluss der École de Paris, die sich in dieser Zeit vor allem durch Zuwanderer aus Osteuropa beträchtlich erweiterte, wurde Kirszenbaum ein Meister der Grauwerte und der Zwischentöne, während einzelne leuchtende Farbereignisse seine Bilder gliedern. Der „Mann mit Zigarette“ (Abb. 10, Mitte), eine Farbtusche-Zeichnung von 1935, zeigt eine Alltagsszene aus Staszów. Die „Ankunft des Messias im Dorf“ (1939, Abb. 11) ist eine von mehreren ähnlichen Bildern des Künstlers, in denen er Jesus beim Einzug in Jerusalem so darstellt, als würde ein Chasside auf einem weißen Esel in Staszów oder in ein jüdisches Dorf hineinreiten. Kirszenbaum verbindet also die biblische Überlieferung mit der Erinnerung an das Leben im Stetl. Ein Bild von James Ensor, der „Einzug Christi in Brüssel“ (1888), mag bei der Idee Pate gestanden haben.

Nachdem der Künstler 1942 aus dem Arbeitslager in Bellac fliehen konnte, versteckte er sich in Limoges und schließlich bis zum Kriegsende in Lyon im unbesetzten Teil Frankreichs. Sowohl im Lager als auch im Untergrund entstanden Gemälde, von denen fünf in der Ausstellung zu sehen sind (Abb. 12): „Der Messias und die Engel erreichen das Dorf“ (1942, Abb. 13), auf dem eine große Menschenmenge und der Maler mit seiner Palette zu sehen sind, wie er die Szene im Bild festhält, ein „Wasserträger“ (1942, Abb. 14), wie Kirszenbaum ihn in seiner Kindheit in Staszów gesehen hat, ein „Jude auf einer winterlichen Straße“ (1942), ein „Holzsammler“ (1941) sowie eine Winterlandschaft von 1941, bei der unklar bleibt, ob sie eine Gegend in Polen oder in Frankreich zeigen soll. Drei Porträts: ein verschwommen, vermutlich aus der Erinnerung gezeichnetes Bildnis seiner verschollenen Frau Helma, ein Selbstporträt (1947) und ein um 1950 von Alix de Rothschild gezeichnetes Bildnis von Kirszenbaum (Abb. 15) leiten in die Nachkriegszeit über.

Mediathek
  • Abb. 1: Kunsthalle Solingen

    Kunsthalle Solingen mit dem Zentrum für verfolgte Künste
  • Abb. 2: Nathan Diament

    Der Nachlass-Verwalter, Nathan Diament, während der Eröffnung
  • Abb. 3: Karikaturen und Dokumente

    Reproduktionen von Karikaturen und originale Dokumente aus Kirszenbaums Lebenszeit
  • Abb. 4: Der sportliche Hausfreund, 1927

    Sammelband der Zeitschrift Ulk mit der Karikatur von Kirszenbaum
  • Abb. 5: Drei Karikaturen, 1926

    Sammelband der Zeitschrift Ulk mit drei Karikaturen von Kirszenbaum
  • Abb. 6: Autobiografie

    Autobiografie von J.D. Kirszenbaum in der Solinger Ausstellung
  • Abb. 7: Fotografien

    Historische Fotografien von J.D. Kirszenbaum und seiner Familie
  • Abb. 8: Briefe, 1940

    Briefe von J.D. Kirszenbaum und seiner Frau Helma, 1940
  • Abb. 9: Dokumente, 1945/46

    Briefe und Ausstellungs-Einladungen, Paris und Brüssel, 1945/46
  • Abb. 10: Gemälde, 1930-40

    „Porträt Dr. Freud“, „Mann mit Zigarette“, „Kirche“
  • Abb. 11: Die Ankunft des Messias, 1939

    Die Ankunft des Messias im Dorf, 1939, Öl auf Leinwand
  • Abb. 12: Kunst im Untergrund

    Während der Lagerhaft und im Untergrund entstandene Gemälde, 1941/42
  • Abb. 13: Der Messias und die Engel, 1942

    Der Messias und die Engel erreichen das Dorf, 1942, Öl auf Leinwand
  • Abb. 14: Wasserträger, 1942

    Wasserträger, Staszów, 1942, Öl auf Leinwand
  • Abb. 15: Drei Porträts, 1945-50

    Porträt von Kirszenbaums Frau Helma, 1945; Selbstporträt, 1947; Porträt Kirszenbaum von Alix de Rothschild, 1950
  • Abb. 16: Kunst nach der Shoa

    Flucht einer Mutter, 1945; Die Liebenden, um 1949; In unserer Welt gibt es keinen Platz für Juden, 1947; Engel, eine verlorene Seele des Stetls tragend, 1946
  • Abb. 17: Kein Platz für die Juden, 1947

    In unserer Welt gibt es keinen Platz für die Juden, 1947, Öl auf Leinwand
  • Abb. 18: Der blinde Geiger, 1945

    Der blinde Geiger, 1945, Öl auf Leinwand
  • Abb. 19: Volkstypen aus Staszów, um 1945

    Sitzender Hausierer; Jüdischer Mann mit Tallit, beide um 1945, Öl auf Leinwand
  • Abb. 20: Trompeter, 1946

    Der Trompeter, 1946, Öl auf Leinwand
  • Abb. 21: Porträt Robert Giraud, 1946

    Porträt Robert Giraud, 1946, Öl auf Leinwand
  • Abb. 22: Denker, Heiliger 1945/47

    Der Denker, 1945; Heiliger, 1947, Öl
  • Abb. 23: Jüdische Denker, 1945/46

    Apostel, 1946; Der Denker, um 1945; Mann mit Stock, 1946; Vater des Künstlers, 1945
  • Abb. 24: Staszów in religiöser Thematik

    Gemälde mit religiösen Themen, die in Staszów spielen
  • Abb. 25: Landschaften

    Landschaften und Blumenstillleben, 1940-47
  • Abb. 26: Wege zur Abstraktion

    Abstrakte und abstrakt-gegenständliche Bilder, 1949-54
  • Abb. 27: Fisch, um 1948

    Fisch mit abstraktem Hintergrund, um 1948, Aquarell
  • Abb. 28: Exotische Motive

    Stillleben mit Banane, 1952; Brasilianerin mit Kind, undatiert
  • Abb. 29: Brasilianische Masken, um 1949

    Brasilianische Masken, um 1949, Gouache