Kasimir Zgorecki (1904–1980) – von Recklinghausen in den Pantheon der französischen Fotografie

Kazimierz Zgórecki: Autoportrait (Selbstportrait 1994), schwarz-weiß Fotografie, Print 2019, im Privatbesitz der Familie, veröffentlicht im Ausstellungskatalog Louvre-Lens
Kazimierz Zgórecki: Autoportrait (Selbstportrait 1994), schwarz-weiß Fotografie, Print 2019, im Privatbesitz der Familie, veröffentlicht im Ausstellungskatalog Louvre-Lens

Wie Kasimirs Schulzeit in Herne ausgesehen hat, kann aufgrund der Quellenlage nicht ausführlich beantwortet werden. Die Kinder der Ruhrpolen wuchsen mit der polnischen Sprache auf, die allerdings nicht in jedem Lebensbereich genutzt werden durfte. In der Schule wurde die deutsche Sprache vorausgesetzt.[37] Der Historiker Frank Piorr deutete in unserem Gespräch über das Schulwesen auf die Aussage eines Pfarrers aus Herne hin, der niederschrieb, dass viele seiner Pfarrkinder überhaupt kein Deutsch sprechen würden.[38] Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass Kasimir und seine beiden Schwestern aufgrund des Polnischverbots in preußischen Schulen auch zum Teil deutsch gesprochen haben müssen.

In Herne gab es ebenso wie in Recklinghausen zahlreiche polnische Vereine, die den Alltag neben Arbeit und Schule gestalteten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg verzeichneten Herne und Wanne-Eickel über 150 polnische und masurische Vereine.[39] Das Stadtarchiv besitzt neben Postkarten mit Motiven von polnischen Turnvereinen und Festivitäten auch einige Dokumente dazu. Dabei sind diese nach Stadtteilen sortiert und unter anderem in polnische, masurische, schlesische und Ostmarkenvereine unterteilt. Auffällig sind die vielen Gesangs- und Turnvereine, neben denen zum Beispiel auch Frauen-, Gebets-, Lotterie- und Konsumvereine existierten (siehe Abb. 8). So kümmerten sich Letztere um den Import von polnischen Kartoffeln und Schuhen oder verkauften Möbel. Der „Związek Wzajemnej Pomocy“ war über das breite Angebot hinaus auf karitative Hilfe spezialisiert. Nicht weniger wichtig war auch die Polenseelsorge der St. Bonifatius Kirche bei Kaplan Johannes Bitter und seinem Nachfolger Paul Lange.[40]

Der wohl bekannteste Verein mit Hauptsitz in Herne war jedoch der Sokół-Bund in Westdeutschland, welcher laut Herner Archivunterlagen 1920 gegründet wurde. Auch in diesem Fall unterstreichen einige Dokumente die Überwachung der polnischen Vereine, denen unterstellt wurde, ihre Treffen für politische Kundgebungen zu missbrauchen. Dabei wurden auch Pfarrer unter Beobachtung gestellt. Zudem geht aus den Unterlagen hervor, dass Veranstaltungen generell eine Genehmigung von der Polizei brauchten, die nur durch das Vorzeigen eines Ablaufplans eingeholt werden konnte. Wie bereits erwähnt, besaßen Vereine gewisse Statuten, an die sich Mitglieder halten mussten. Ein Archivdokument über den Stanislaus Verein verweist auf die Förderung von Ordnung und guten Sitten, die durch wiederholte Trunkenheit oder Prügeleien missachtet wurden und zum Ausschluss führten. Einige Vereine hatten eine Altersbeschränkung, demnach konnte Kasimir als Minderjähriger nicht jedem Verein beitreten.

 

[37] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 24.

[38] Telefonat am 19.06.2020 zum Thema Ruhrpolen in Herne.

[39] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 26.

[40] Susanne Peters-Schildgen: Schmelztiegel Ruhrgebiet, S. 98f.

Mediathek
  • Abb. 1: Selbstportrait, 1920er Jahre

    Kasimir Zgorecki: Selbstportrait, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 2: Geburtsurkunde, 1904

    Geburtsurkunde von Kasimir Zgorecki, Urkunde, 1904
  • Abb. 3: Meldekarte, 1907

    Meldekarte der Familie Zgorecki, Dokument, 1907
  • Abb. 4: Herner Adressbuch, 1912

    Adresse der Familie Zgorecki, Adressbuch, 1912
  • Abb. 5: Herner Adressbuch, 1914

    Adresse der Familie Zgorecki, Adressbuch, 1914
  • Abb. 6: Bahnhofstraße in Herne, Datum unbekannt

    Zentrum in Herne, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 7: Farbpostkarte der Bahnhofstraße in Herne, um 1912

    Zentrum in Herne, Postkarte, Autor unbekannt, um 1912
  • Abb. 8: Sokół, Datum unbekannt

    Sokół-Auftritt während eines Festes, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 9: Werbeanzeige „Kraft“, Datum unbekannt

    Werbeanzeige des Fotostudios „Kraft“, Anzeige, Datum unbekannt
  • Abb. 10: Adressbuch Herne, 1912

    Adressen in Herne, Adressbuch, 1912
  • Abb. 11: Parade in Herne, Datum unbekannt

    Parade im polnischen Viertel, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 12: Kundgebung in Herne, 1920

    Aufruf gegen das radikale Polentum, Zeitschriftenanzeige, 1920
  • Abb. 13: Familie Zgorecki in Frankreich, 1920er Jahre

    Kasimir Zgorecki und seine Familie, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 14: Frauenportrait, 1920er Jahre

    Portrait einer jungen Frau, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 15: Turnbewegung, 1930er Jahre

    Fotografie eines Vereins, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 16: Familienfeier, 1930er Jahre

    Fotografie einer Familienfeier, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 17: Straßenumzug, 1930er Jahre

    Festlichkeiten in den Straßen Nordfrankreichs, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 18: Krippenspiel, 1930er Jahre

    Fotografie eines Krippenspiels, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 19: Trauernde Familie, 1930

    Fotografie einer trauernden Familie, Fotografie, 1930
  • Abb. 20: Totenfotografie, 1930er Jahre

    Fotografie eines verstorbenen Kindes, Fotografie, 1930er Jahre