Marcel Reif – vom polnischen Wałbrzych zum Fußballkommentator mit Kultcharakter

Marcel Reif, 2018
Marcel Reif, 2018

„An meine polnische Zeit habe ich eine sehr schöne Erinnerung“, sagt Marcel Reif im Dezember 2021 in einem Telefoninterview. Seine Mutter, eine schlesisch-polnische Katholikin, und sein Vater, ein polnischer Jude, haben ihm eine glückliche Kindheit bereitet. Gelebt haben sie vorwiegend in Warschau in der Straße Wolność 2, die sich während des Zweiten Weltkrieges auf dem Gelände des Jüdischen Ghettos befand. Im ländlichen Niederschlesien, unweit seines Geburtsorts, verbrachte er die Sommermonate bei seiner Urgroßmutter und Großmutter. Seine Eltern waren nicht besonders religiös geprägt, dennoch wurden alle katholischen und jüdischen Feste gefeiert. „Amtssprache“ zuhause war überwiegend eine Mischung aus Polnisch mit dem deutsch-schlesischen Dialekt der Großmutter und dem Jiddischen des Großvaters.

Reifs Vater wurde während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von Berthold Beitz, einem deutschen Unternehmer, in Borysław (heute Ukraine) direkt aus dem Zug, der für ein Konzentrationslager bestimmt war, gerettet. Mit Beitz, der für seine Judenrettungsaktionen 1973 vom Staat Israel zum Gerechten unter den Völkern erklärt wurde, stand Marcel Reif später im Kontakt. Als Beitz 2013 auf Sylt starb, war Reif zufällig nur wenige hundert Meter von dessen Haus auf der Insel anwesend.

Nachdem sich in der Mitte der 1950er Jahre das politische Klima für die jüdische Bevölkerung in Polen deutlich verschlechtert hatte, beschloss die Familie nach Israel auszuwandern. „Für mich war das wie ein Abenteuer“, sagt Reif spontan, „wie eine Weltreise“. Mit dem Zug nach Neapel und weiter mit dem Schiff nach Israel versuchten die Reifs ihr Glück schließlich in Jaffa. „Für mich war das der erste sprachliche Albtraum in meinem Leben, da ich schlicht weder in der israelischen Grundschule das Hebräisch verstand noch im Internat belgischer Mönche, auf das ich dann geschickt wurde, das Französische oder Flämische – furchtbar“. Dazu kamen die Fremdheit der Umgebung und die Unkenntnis der im Alltag allgegenwärtigen hebräischen Sprache. Nach eineinhalb Jahren bekam Reifs Vater eine Anstellung bei den amerikanischen Streitkräften in Kaiserslautern und die Familie zog nach Deutschland.

Der achtjährige Marcel wurde mangels deutscher Sprachkenntnisse in die erste Klasse zusammen mit den Sechsjährigen eingeschult. Das war der zweite sprachliche Albtraum in seinem jungen Leben. Traumatisiert von dieser Situation lernte er verbissen Deutsch und hatte damit rasch Erfolg. Er entdeckte in sich Sprachbegabung und Zielstrebigkeit.

Nach dem Abitur in Heidelberg, wo die Familie später hingezogen war, studierte er an der Universität Mainz u. a. Amerikanistik und entwickelte ein Faible für Amerika und Großbritannien. London sollte auch bald zu einer seiner Lieblingsstädte werden, spätestens seitdem er dort zwei Jahre als politischer Korrespondent für das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) tätig war. Mit dieser ersten beruflichen Erfahrung in den Medien hatte er auf Anhieb einen durch die Fachwelt und durch das Fernsehpublikum bestätigten Erfolg. Die fehlende Zugehörigkeit zu einer der damals in Deutschland herrschenden politischen Parteien machte allerdings eine weitere Karriere auf diesem Gebiet praktisch unmöglich. Dass sich Zugereiste in der neuen Heimat nur schwer von politischen oder gesellschaftlichen Institutionen vereinnahmen lassen wollen, eine sich immer wieder bewahrheitende Eigenschaft von ihnen in der neuen Migrationsumgebung, kommt bei Marcel Reif zu dieser Zeit seines Werdegangs zum Vorschein: Er war, ist und bleibt ein ungebundener Individualist.

Mediathek
  • Marcel Reif mit dem Vater in Schlesien 1953

    Marcel Reif mit dem Vater in Schlesien 1953
  • Überfahrt von Neapel nach Haifa 1956

    Lucie und Leon Reif mit Eva und Marcel