Mariusz Hoffmann – Vom schlesischen Dorf über Werne nach Berlin
Mariusz Hoffmann kam 1986 im Krankenhaus von Strzelce Opolskie (Groß Strehlitz) zur Welt. Seine Familie lebte im nahegelegenen Dorf Zalesie (Salesche). Dort wohnten die Hoffmanns in einer Siedlung, die aus ganzen vier Plattenbauten bestand. Drumherum Felder, Wiesen, vereinzelte Häuschen, viel Landwirtschaft. Vor Ort gab es im Großen und Ganzen alles, was man brauchte: eine Schule, einen Kindergarten, einen damals noch aktiven Bahnhof, einen Friedhof, natürlich eine Kapelle, die Freiwillige Feuerwehr und gegenüber die Dorfschänke. Hoffmanns Kindheit in Polen beschränkte sich auf diese kleine Welt. Damals kam sie ihm nach eigener Aussage noch ziemlich groß und aufregend vor. Eine Tendenz zum Weggehen attestiert er sich im Rückblick allerdings schon als Dreikäsehoch. Eine seiner frühesten Erinnerungen erzählt das Einzelkind so: „Ich war keine vier Jahre alt, mein Freund Mirek gerade mal fünf, und wir versuchten, zu Fuß ins nächste Dorf zu kommen, in dem Mireks Mutter damals lebte. Wir gingen ganz allein im Straßengraben die Landstraße entlang. Aber ein Nachbar kam auf seinem Traktor vorbeigefahren und aus der hohen Position erblickte er uns und beendete unseren Ausflug.“
Eine weitaus größere Reise trat der kleine Mariusz 1990 an. Auf Einladung der Großmutter verließ er mit seinen Eltern das kleine Dorf und reiste nach Deutschland aus. Offiziell musste es bei den polnischen Behörden umständlich als Urlaub beantragt werden. Tatsächlich aber lösten die Hoffmanns ihren Haushalt in Zalesie auf, ließen sich von einem Bekannten aus Deutschland abholen und zusammen mit ein paar Habseligkeiten nach Nordrhein-Westfalen fahren, um dort zu bleiben. In Polen hatte die Mutter als Buchhalterin im örtlichen großlandwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet, der Vater als Bergmann. In Deutschland suchten sie ein besseres Leben für sich und ihren Sohn. Mariusz Hoffmann erklärt es so: „Die 70er und 80er Jahre waren in Polen harte Zeiten. Wirtschaftlich, politisch. Als sich dann die Möglichkeit ergab, Polen zu verlassen und in Deutschland das Glück herauszufordern, ergriffen meine Eltern die Gelegenheit.“ Deutschland galt damals laut Mariusz Hoffmann vielen Menschen in Polen als gelobtes Land. Gerade in einem kleinen schlesischen Dorf, dessen Name wörtlich übersetzt „hinterm Wald“ bedeutet, verklärte man das ferne Nachbarland zu einem märchenhaften Ort, in dem alles möglich war.
„Es gab diesen Witz“, erinnert sich Mariusz Hoffmann, „in dem ein alter Mann ein Päckchen aus Deutschland bekommt. Darin ist ein Brillengestell ohne Gläser. Er setzt es auf und sagt: Großartig. Dank des deutschen Gestells kann ich schon viel besser sehen!“
Die Erwartungen der Hoffmanns waren realistischer. Sie kannten finanzielle Engpässe und wirtschaftlich Not und waren dafür gewappnet, sich ein neues Leben aufzubauen. Auch unter schwierigen Bedingungen. Frau Hoffmann gelang es schließlich durch Umschulungen und Weiterbildungen als Bürokauffrau Fuß zu fassen. Herr Hoffmann fand eine Anstellung als Beschichtungstechniker. Die Stationen bis in ein bürgerliches Leben in Deutschland waren recht typisch: eine Nacht in Hamm, dann ins Lager Unna-Massen, danach in die Sporthalle der Barbaraschule in Werne, dann an den Stadtrand in eine Notwohnung bis die Hoffmanns nach über zwei Jahren in eine richtige Wohnung (mit eigener Toilette und Küche) ziehen konnten. Der kleine Mariusz fühlte sich anfangs in dem fremden Land gar nicht wohl. Im Kindergarten spielte er allein, weil die anderen Kinder nichts von dem verstanden, was er sagte. Zwar lernte Mariusz Hoffmann die deutsche Sprache ziemlich schnell, aber die Zeit der Isolation und Ausgrenzung war lang genug, um einen Eindruck bei ihm zu hinterlassen. Da half es ihm wenig, dass er väterlicherseits einen deutschen Nachnamen vererbt bekommen hatte und seine beiden Großmütter Deutsch sprachen, wenn auch ein recht altertümliches. Außerdem war Deutsch für die Großeltern mit Erinnerungen an den 2. Weltkrieg verbunden, man sprach nach Möglichkeit lieber Polnisch.
Mit elf Jahren begann Mariusz Hoffmann zu schreiben. Zunächst Tagebuch, schließlich auch lange Briefe, da er als Teenager verschiedene Freundschaften per Post pflegte. Im Alter von 20 nutzte er erzählerische Passagen aus seinen Briefen als Ausgangsmaterial für Kurzgeschichten. „Schon damals“, sagt Mariusz Hoffmann, „hatte ich die heimliche Hoffnung, damit ein größeres Publikum zu erreichen.“
Die Faszination fürs Geschichtenerzählen verdankt er seiner Oma Agnieszka. In seinen Augen war sie die beste Geschichtenerzählerin seiner Kindheit. Er liebte es, wenn sie Erinnerungen, Märchen oder gruselige Ereignisse zum Besten gab. „Ihre Stimme klang anders, wenn sie erzählte“, sagt er. „Das hat mich jedes Mal gebannt.“ So entwickelte sich auch die Freude am Lesen beim jungen Hoffmann. Wenn er besonders fesselnde Bücher las, dachte er: „Das will ich auch. Spannend, pointiert, humorvoll schreiben. Nicht für mich, sondern für ein Publikum.“
In der Jugend gibt es zahlreiche Autorinnen und Autoren, deren Bücher Mariusz Hoffmann begeistern. Ein Schlüsselerlebnis war für ihn jedoch Irvine Welshs Roman Trainspotting, den er 2006 für einen Euro auf einem Flohmarkt in Hamburg kaufte. Er erzählt: „Ich kannte den gleichnamigen Film. Dass es aber eine Romanverfilmung war, wusste ich nicht. Ohne Erwartungen begann ich das Buch zu lesen und konnte es nicht fassen. Dieser Stil, die Figuren, die Stimmungen, die kritischen Stiche gegen die schottische Gesellschaft. Das war für mich die Erkenntnis, was in der Literatur alles möglich ist.“
Aber wie wird man Autor? Vor allem, wenn für die Familie „Literatur“ ein exotisches Hobby der Wohlhabenden ist? Wie bei vielen Schriftstellern verlief auch Hoffmanns bisheriger Werdegang nicht komplett ohne interessante Schlenker. Nachdem Abitur machte er zunächst einmal Zivildienst in Hamburg. Dann begann er in der Hansestadt ein Philosophiestudium, merkte aber bald, dass das nichts für ihn war. Er beschließt, etwas „Normales“ zu machen und jobbt in einer Einrichtung für verhaltensauffällige Jugendliche. Da es ihm aber auch dort nicht rundum gefällt, bewirbt er sich auf Studienplätze in Leipzig und Hildesheim, die einzigen Städte, in denen man in Deutschland „kreatives Schreiben“ studieren kann. Als aus Hildesheim tatsächlich eine Zusage kommt, ist Hoffmann euphorisiert. Er erinnert sich, dass es auch den anderen aus seinem Jahrgang so ging. „Aber spätestens im dritten Semester war die Euphorie weg“, sagt er. „Jetzt gab es Phasen, in denen alles Geschriebene plötzlich banal und schlecht klang, und dann wuchsen die Zweifel, ob man überhaupt das Zeug zum Autor hat.“
Durch die zahlreichen Sitzungen, in denen man über eigene und fremde Texte sprach, konnten die Selbstzweifel durchaus Nahrung finden. Andererseits sieht Hoffmann gerade diese Textbesprechungen als wichtigsten Teil der Ausbildung. In seinen Augen halfen die Hinweise, auch die schmerzhaften, sehr dabei, den eigenen Text besser zu machen und das Gespür für gut klingende und funktionierende Texte zu schärfen.
In Hildesheim lernten die Autor:innen in spe allerdings nicht nur, ihre Texte kritisch zu besprechen, sondern auch, dass es im Kulturbetrieb weit mehr Betätigungsfelder gibt als die reine Schriftsteller-Existenz. Hofmann nennt als Beispiele: Kulturveranstaltungen organisieren, Lektorieren, Radiobeiträge schreiben, Bloggen und Formate wie das „Litradio“ oder die Literaturzeitschrift „Bella triste“, bei der Hoffmann als Mitherausgeber fungiert. Diese Perspektiven helfen ihm dabei, in den Phasen der Selbstzweifel nicht zu mutlos zu werden. Und so bewarb sich Hoffmann während seiner Ausbildung in Hildesheim auf zahlreiche Literaturförderungen. Oft erfolglos, so dass auch hier Geduld und Frustrationstoleranz gefragt waren. Die aber zahlten sich aus, denn schließlich konnte Hoffmann Schreibaufenthalte unter anderem in Broumov in Tschechien und Ahrenshoop an der Ostsee antreten.
Während solcher bezahlter Schreibstipendien entsteht auch die Kurzgeschichte „Dorfköter“. Darin gibt es einen Ich-Erzähler, der 1990 mit seinen Eltern das schlesische Dorf Zalesie verlässt und nach Deutschland auswandert. Ursprünglich wollte Hoffmann nicht autobiografisch schreiben, nicht die eigene Familiengeschichte als Ausgangspunkt nehmen. Dann aber drängte sich ihm der Stoff auf. Im Mittelpunkt der Geschichte stand der Verlust einer Freundschaft. Aber der Text war durchtränkt mit Hoffmanns Kindheitserinnerungen und mit Beschreibungen des ländlichen Ortes, aus dem er stammte. Beim renommierten Literaturwettbewerb open mike gewann Hoffmann 2017 mit „Dorfköter“ den ersten Preis in der Kategorie „Prosa“. Durch die Auszeichnung und den Zuspruch fühlte er sich motiviert, den Stoff auszubauen. Hoffmann führte Gespräche mit seinen Eltern und seiner Großmutter und versucht, die familiäre Geschichte nachzuzeichnen. Schließlich hat er mehr als genug Material, um die Romanfamilie Sobota auf ihre Reise zu schicken. Bevor das fertige Buch jedoch unter dem Titel „Polnischer Abgang“ beim berlin Verlag erschien, beendete Mariusz Hoffmann erst einmal seine Ausbildung in Hildesheim, zog nach Berlin, arbeitete im Pflegebereich und feilte nach Dienstschluss an seinem Manuskript. Über eine Agentur fand er schließlich seinen Verlag. Hoffmann erinnert sich an die Reaktion seiner Eltern: „Anfangs waren sie skeptisch, wenn ich davon berichtete, ein Buch zu schreiben. Aber als es dann mit dem Verlag ernst wurde, waren sie begeistert, dass ihr Sohn so etwas ungewöhnliches wie Schriftsteller geworden ist.“
Der Roman „Polnischer Abgang“ ist ein tragikomischer Familien-Roadtrip, der 2023 für den Literaturpreis Ruhr nominiert und von Nico Bleutge im Deutschlandfunk als „wundersam schräg“ und „wahrnehmungssatt“ gelobt wurde. Der schlesische Germanist Andrzej Kaluza bemängelte hingegen in einem Aufsatz für das Deutsche Polen-Institut, Hoffmanns Roman stehe in einer Tradition mit anderen polnischen Auswanderergeschichten, die Fakt und Fiktion vermischten und im Kern nicht glaubwürdig seien. Mariusz Hoffmann erklärt dazu: „Es handelt sich um einen Roman, nicht um ein Sachbuch. Der Ich-Erzähler ist jung und unzuverlässig und interessiert sich nicht für ‚Identitäten‘. Mein Wahrheitsanspruch hat nichts mit der korrekten Wiedergabe der Geschichte Oberschlesiens zu tun, sondern mit der wahrheitsgemäßen Wiedergabe einer subjektiven Sichtweise. Als ich die Figur Jarek entwickelte, orientierte ich mich an den Jugendlichen, die ich in Zalesie und Strzelce kennenlernte, als ich selbst als Jugendlicher dort zu Besuch war. Jungs aus einfachen Verhältnissen. Die kennt Herr Kaluza womöglich nicht so gut.“
Heute arbeitet Hoffmann freiberuflich als Autor und Dozent für kreatives Schreiben. Auch hat er eine feste Stelle als Dozent für Sprachkurse. Davon abgesehen schreibt er an einem neuen Roman, über den er noch nicht viel verraten will. Nur so viel gibt Hoffmann preis: Auch im neuen Buch sucht die Hauptfigur nach einem Zuhause.
Nach Polen fährt er zwei-, dreimal im Jahr. Diesen Sommer reist er das erste Mal nach Warschau und freut sich darauf, wieder einmal in der Öffentlichkeit Polnisch zu sprechen, ohne damit aufzufallen.
Anselm Neft, August 2024