Sabina Kaluza. Kunst und „Postmemory“
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„Atelier digital #16“ zu Gast bei der Künstlerin Sabina Kaluza

DER WEG IN DIE FREIHEIT
Sabina Kaluza beschreibt sich selbst als „deutsch-polnische Konzeptkünstlerin“. 1967 im oberschlesischen Bytom (Beuthen) geboren und in Polen aufgewachsen, war sie von klein auf vom katholischen Glauben geprägt, der sie die Unterdrückung der Frau spüren ließ und in ihr das Bedürfnis erweckte, die existierenden patriarchalischen Strukturen zu durchbrechen. 1987 flüchtete sie nach Deutschland, da sie sich in der sozialistischen Volksrepublik Polen nicht mehr sicher fühlte. In den darauffolgenden Jahren studierte sie an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig bei Mara Mattuschka, Lienhard von Monkiewitsch und John Armleder.
DAS TOR ZUR ERINNERUNG
Zwei Hauptmotive zeichnen sich in Kaluzas Werk ab: die Stellung der Frau in der heutigen Gesellschaft aus einer feministischen Perspektive sowie das Familientrauma, das sich aus dem Kriegsschicksal ihres Großvaters und seinem anschließenden Tod ergab. Ihre Kunstwerke sind tief von den eigenen Erfahrungen geprägt – vom Heranwachsen in einem prüden, katholisch-konservativen Umfeld, in dem jegliche Form von Körperlichkeit verpönt war. Wir haben es also mit einer Frau und einer Künstlerin zu tun, die sich konstant zwischen der eigenen Erinnerung und Postmemory hin und her bewegt: Ihre Werke vereinen aktuelle Themen mit Fragen an die Vergangenheit und stellen die dramatische Familiengeschichte als Vorbedingung für die Gegenwart dar. Um Kaluzas Werk eingehender zu betrachten, schauen wir auf ihr Werk „schleuse“ von 2006 (Abb. 1 . ), das als ein symbolisches Tor zur geistigen Welt der Künstlerin, aber auch zu unserem eigenen Bewusstsein betrachtet werden kann.
POSTMEMORY
Als Teil der sogenannten postmemorialen Generation verweist Sabina Kaluza auf verdrängte Erinnerungen, die mit den schwierigen historischen Erfahrungen ihrer Eltern und vor allem ihrer Großeltern zusammenhängen. Marianne Hirsch, Schöpferin des Begriffs „Postmemory“, verbindet diese Art von Erinnerungen eindeutig mit der Wirkung von Fotografien als Träger der Familiengeschichte: „Meiner Meinung nach liegt der Unterschied zwischen Postmemory und Erinnerung in der Distanz zwischen den Generationen, der Unterschied zwischen Postmemory und Geschichte hingegen – in der tiefen, emotionalen Verbundenheit. Postmemory ist eine mächtige und besondere Form der Erinnerung, gerade weil sie nicht unmittelbar durch eigene Erinnerungen an einen Gegenstand oder eine Quelle gebunden ist, sondern durch Vorstellungskraft und Kreation. […] Postmemory beschreibt die Erfahrung all derer, deren Kindheit und Jugend von Narrativen aus einer Zeit vor ihrer Geburt überschattet waren, deren eigene, verspätete Geschichten von den Erzählungen der vorherigen Generation verdrängt und von traumatischen Ereignissen geprägt werden, die sie weder verstehen noch selbst erleben können.“[1] Bei Kaluza waren dies jedoch nicht nur Fotografien, sondern auch Briefe, die ihr Großvater in der Kriegszeit geschrieben hat. Diese wurden ihr in ihrer Kindheit von der Oma wie eine Art Reliquien gezeigt und vorgelesen.
Eine Reminiszenz an diese Erinnerungen und die Eindrücke, die das Familiendrama bei Kaluza hinterlassen hatte, ist ihre Installation „JEDEM DAS SEINE, LEO!“ (Abb. 2 . ), die die Betrachter:innen mit den verschiedenen Häftlingsnummern des verstorbenen Großvaters konfrontiert (Abb. 3 . ). Von der Gestapo verhaftet, musste er auf seinem Leidensweg durch immer weitere Konzentrationslager unvorstellbare Qualen erleiden: 1939–1940 in „Schutzhaft“ in Beuthen, 1940–1941 im KZ Sachsenhausen, 1941–1942 im KZ Neuengamme, 1942 im KZ Arbeitsdorf bei Wolfsburg und schließlich ab 1942 im KZ Buchenwald, wo er zwei Tage nach der Befreiung an Tuberkulose verstarb.
[1] Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative, and Postmemory, Harvard University Press, Cambridge 1997, S. 22. Hier Übersetzung aus dem Englischen.