Sabina Kaluza. Kunst und „Postmemory“
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Video 1/3: maske (2005)
Video 2/3: reduktion (2005)
Video 3/3: gegen die zeit (2005)
Dokumentarfilm „PIERWSZY DZIEŃ“ [DER ERSTE TAG] (2014)
Dokumentarfilm „DER ERSTE TAG“ (2014)
„Atelier digital #16“ zu Gast bei der Künstlerin Sabina Kaluza
DIE WEIBLICHE ERINNERUNG
„Wenn ich nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution.“ Diese Worte werden Emma Goldman, einer anarchistischen und feministischen politischen Aktivistin und Schriftstellerin des beginnenden 20. Jahrhunderts zugeschrieben. Sie könnten aber ebenso gut Sabina Kaluzas Motto sein. Ihr Werk „impetus“ (Abb. 12.1–12 . ) stellt eine tanzende Frau aus der Vogelperspektive dar. Durch den Blick von oben erscheinen die Silhouette und die Gesten der Tänzerin noch dynamischer, als wenn wir ihr auf Augenhöhe gegenüberstünden. Kaluza konfrontiert uns hier mit einem Ritual, das für Freiheit, Lebensfreude und Vitalität steht, aber auch für die Loslösung von den passiven sozialen Rollen, die Frauen so oft zugeordnet werden. Die Musik können wir uns nur dazudenken, doch unsere Spiegelneuronen lassen die Gestalt der Tänzerin und ihre Posen in unseren Körpern stark widerhallen. Laut der amerikanischen Forscherin Barbara Montero[4] kann sich der Tanz anderer Menschen somästhetisch auf uns auswirken, auch wenn wir selbst regungslos bleiben: Ihre Tanzbewegungen „resonieren“ in unseren Körpern und haben somit nicht nur eine visuelle, sondern auch eine kinästhetische Repräsentanz. Sobald wir diese „Resonanz“ spüren, fangen wir an, die Bewegungen zu interpretieren und hinterfragen die Bedeutung der einzelnen Gesten; im Fall des zwölfteiligen Bilderzyklus „impetus“ von Sabina Kaluza verweisen diese auf den Tanz als Suche nach dem Weg zur Befreiung von den sozialen Rollen, die traditionell Frauen zugeschrieben werden.
RITUAL UND EINHEIT
Ein vergleichbares Konzept ist im Werk „einheit“ zu erkennen (Abb. 13 . , 18 . ), das – diesmal auf rundem Format – ebenfalls eine tanzende Frau aus der Vogelperspektive zeigt, die in ihrem Tanz wie ein Derwisch in Trance vertieft zu sein scheint. Wir können ihr zwar ins Gesicht schauen, doch keinen Kontakt aufnehmen, denn sie ist voll und ganz ihrem Inneren zugewandt; davon zeugen die geschlossenen Augen und der von Ekstase, Besonnenheit und Erfüllung zugleich geprägte Gesichtsausdruck. Die Tänzerin ist mit sich selbst, ihren Gesten und der ganzen Welt im Einklang. Alles um sie herum scheint sich zu drehen und ihre Gestalt wirkt, als könnte ihr die Schwerkraft nichts anhaben. Sie ähnelt der leichtfüßigen, vielarmigen Gottheit Kali, die in der Lage ist, mit jedem ihrer zahlreichen Arme Dämonen zu töten (Abb. 14 . ).
Die Installation „reigen“ (Abb. 15 . , 16 . ) zeigt wiederum nackte Frauenfüße, die – wie bei einer Ballerina – auf Zehenspitzen tanzen. Die darunterliegende Glasplatte zerspringt unter dem Druck dieser Füße; an der Oberfläche bilden sich zentrifugale Risse, die ein höchst ästhetisches, zugleich aber auch gefährliches Ornament erzeugen. So verdeutlicht Kaluza das Risiko, bei einer „Revolution durch Tanz“ verletzt zu werden. Doch die Tänzerin verlässt die Bühne nicht, sie verharrt an ihrer Stelle in der festen Überzeugung, dass die Rebellion der Frauen gegen gesellschaftliche Gebote und Verbote stattfinden muss, koste es, was es wolle.
KÖRPER – TRANSFORMATION – MACHT
Das Werk „3,33″“ (Abb. 17 . , 18 . ) bezieht sich auf den Zeitraum, den wir als Gegenwart wahrnehmen. Es zeigt eine transparent wirkende, nackte, weibliche Doppelgestalt, deren Gesten ebenfalls als Tanz interpretiert werden können. Die fast schon gläsern anmutenden Gestalten scheinen von tiefem Gewässer oder von bläulicher Luft umgeben zu sein; sie schweben unheimlich leicht in einem nicht näher erkennbaren Raum und erwecken den Eindruck, als würden sie sich auf uns zubewegen – aktiv und aus jeglichen Kontexten gelöst. An der Stelle, an der sich beide Gestalten überlappen, entsteht eine vaginaähnliche Form, die uns an die Macht der Weiblichkeit denken lässt. Ähnliche Formen sind in einem früheren Fotozyklus der Künstlerin zu sehen, dem „sinus animi“ (Abb. 19 . , 20.1–10 . ). Darin setzt sich Kaluza mit Darstellungsstrategien des weiblichen Körpers auseinander, die sich der androzentrischen Sichtweise entziehen. Die unscharfen Fotografien verbinden zarte, glatte Menschenhaut mit einer typischen Wiesenfauna, die den Körper gleichzeitig verdeckt und enthüllt – als eine Art Land(schaft).
Dieser weibliche Körper und die glatte Haut altern jedoch; ein Prozess, der Frauen mit der Zeit „unsichtbar“ macht und außerhalb des Interessenspektrums der Gesellschaft positioniert, die unentwegt der ewigen Jugend und der makellosen Schönheit nacheifert. In ihren Videoarbeiten (Abb. 27 . ) „maske” (Video 1), „reduktion” (Video 2) und „gegen die zeit” (Video 3) hinterfragt die Künstlerin auf diverse Art und Weise die (Un-)Möglichkeit, das wahre Gesicht eines Menschen zu zeigen, das Reduziertwerden auf die als begehrt und sexy geltenden Körperbereiche sowie die Vergänglichkeit der Schönheit und den unerbittlichen Lauf der Zeit.
[4] Barbara Montero: Proprioception as an Aesthetic Sense, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 64 (2006) 2, S. 231–242, S. 237.