Vom Schicksal des Herschel Grynszpan

Herschel Feibel Grynszpan bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung, Paris 1938
Herschel Feibel Grynszpan bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung, Paris 1938

Propaganda, Reichspogromnacht und der (geplante) Schauprozess

Im Deutschen Reich überschlagen sich derweil die Ereignisse: Schon am Tag des Attentats lanciert die NS-Führungsspitze unter Federführung von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels eine landesweite antisemitische Propagandakampagne mit der zentralen Aussage: Das Attentat in Paris sei ein „Anschlag des Weltjudentums“ gegen das Deutsche Reich, „die Juden“ seien die eigentlichen „Verbrecher am Frieden Europas“. In der propagandistisch aufgeheizten Gewaltatmosphäre kommt es bereits am Abend des 7. November in mehreren Städten und Ortschaften in den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt zu ersten judenfeindlichen Krawallen, die sich auch am 8. November fortsetzen.[22] Als am späten Nachmittag des 9. November Ernst vom Rath seinen Verletzungen erliegt, ist es reiner Zufall, dass in München fast die gesamte NS-Führungsspitze sowie zahlreiche Reichsleiter, Gauleiter, SA und SS-Führer zu Kameradschaftstreffen und den Gedenkfeiern an den Hitlerputsch vom 9. November 1923 versammelt sind. Hitler wird während des festlichen Abendessens von Goebbels über den Tod vom Raths und von den einzelnen Pogromen in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt unterrichtet. Hitler gibt daraufhin dem Propagandaminister die Anweisung, die Ausschreitungen weiterlaufen zu lassen und die Polizei zurückzuziehen. Nach der eindringlichen Unterredung mit Goebbels verlässt Hitler den Saal ohne vor der Versammlung zu sprechen. Goebbels leitet den Befehl zunächst intern an Polizei- und Parteiführer weiter und hebt dann zu einer antisemitischen Hetzrede vor der Parteiversammlung an: Nun agiert die nationalsozialistische Propaganda mit einem „deutschen Märtyrer“ und einem „jüdischen Mordbuben“ – ein willkommener Anlass um mit Gewalttaten gegen die „jüdische Weltverschwörung“ loszuschlagen. Sämtliche Parteifunktionäre drängen daraufhin zu den Telefonen und Telegrafen. Innerhalb weniger Stunden hat der mündlich erteilte Befehl alle regionalen Parteiverbände im gesamten Land erreicht. Die grausame Bilanz des losgetretenen „spontanen Volkszorns“, der als Reichspogromnacht als Teils des dunkelsten Kapitels in die deutsche Geschichte eingeht: 1.400 Synagogen und Betstuben sowie tausende Geschäfte und Wohnungen von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern werden verwüstet, geplündert oder in Brand gesteckt; ca. 30.000 jüdische Männer werden verhaftet und KZs deportiert, hunderte misshandelt und in Haft ermordet.

Herschel, der am nächsten Tag mit Erschrecken die grausamen Vorfälle um die Reichspogromnacht aus der französischen Presse entnimmt, ist derweil in Untersuchungshaft im Jugendgefängnis in Fresnes inhaftiert. Ihm steht jetzt – nach dem Versterben von Ernst vom Rath – ein Prozess wegen Mordes bevor, der von der NS-Propaganda als Schauprozess die „Kardinalschuld des Weltjudentums“ darlegen soll. Obwohl das Deutsche Reich sich nach französischem Recht sowie nach Grundsätzen des Völkerrechts nur über vom Raths Familie als Zivilpartei am anstehenden Prozess beteiligen kann, beginnt die NS-Seite unverzüglich und aufwändig mit den Ermittlungen und Prozessvorbereitungen. Hitler benennt den antisemitischen und nationalsozialistischen Juristen Friedrich Grimm als Vertreter für das Verfahren, der mit Erfahrung in der Bekämpfung von Widerstandskämpfern und NS-Gegnern glänzt. Es beginnen in Absprache mit dem NS-Propagandaministerium aufwändige Ermittlungen, die den gerademal 1,54 m großen Herschel Grynszpan (vergeblich) als „Schlägertypen“ mit „krimineller Vergangenheit“ darzustellen versuchen und außerdem angebliche Hintermänner aufdecken wollen. Auch die tatsächlichen Umstände der „Polenaktion“ und der Abschiebung von Herschels Familie sollen nur geschönt – wenn möglich gar nicht – in den Prozess einfließen.

Herschel ist in den ersten Wochen und Monaten nach der Tat ein „internationaler Star“, über den in viele Zeitungen in Europa und den USA berichtet wird.[23] Dem großen Interesse an seiner Person und der Bedeutung des anstehenden Prozesses ist er sich nicht zuletzt dadurch bewusst, dass er umkreist wird von willigen Strafverteidigern und Staranwälten, die von höherer Stelle der französischen Vereinigung der Fédération des sociétés juives initiiert und aus Kreisen der organisierten jüdischen Interessensvertretung unterstützt und finanziert werden.[24] Er bekommt auch Briefe ins Gefängnis von Menschen, die ihm meist Mut zusprechen –, aber auch von jenen, die seine Tat verurteilen. Wohl in Sorge um die zwiegespaltene öffentliche Bewertung seiner Tat und daher auch unter einem hohen Rechtfertigungsdruck, formuliert Herschel Briefe an seine deportierte Familie in Polen, seine Verwandten und Freunde in Deutschland und Frankreich, die sicher nicht zufällig über seine Anwälte auch vereinzelt den Weg in die internationale Presse und damit an die Öffentlichkeit finden: „Mir dreht sich alles im Kopf. Mein Gott! Glaubst du wirklich, dass ich der Grund zu der gegenwärtigen Katastrophe bin, die über die Juden gekommen ist? Dieser Gedanke bringt mich zum Wahnsinn. […] Ich lebe nur, um in meinem Prozess der Welt sagen zu können, dass sie etwas für uns tun muss“,[25] schreibt Herschel in einem Brief an einen Freund, der Anfang Dezember 1938 in der jüdischen Zeitung „Zeit“ in London und später auch in französischen Publikationen abgedruckt wird.

Am 8. Juni 1939 erhebt der französische Untersuchungsrichter offiziell Anklage. Nachdem die Verhandlung gegen Herschel trotz des Drängens der NS-Regierung mehrmals von den französischen Behörden verschoben wird, rücken aber schließlich weltpolitischen Ereignisse die Verhandlung gänzlich in den Hintergrund: Herschels Eltern, die aus dem Baracken-Lager in Zbąszyń weiter nach Radomsko gereist waren, dann weiter nach Łódź zu polnischen Verwandten und schließlich weiter nach Warschau, werden in der polnischen Hauptstadt am 1. September 1939 vom deutschen Überfall auf Polen überrascht.[26] England und Frankreich erklären am 3. September Deutschland den Krieg. Am 10. Mai 1940 beginnt der Westfeldzug. Den deutschen Angriff auf Frankreich erlebt Herschel in der Jugendhaftvollzugsanstalt Fresnes. Im Angesicht der anrückenden deutschen Wehrmacht wird er am 12. Juni 1940 gemeinsam mit 96 anderen Gefängnisinsassen unter französischer Bewachung nach Bourges in Südfrankreich geschafft. Als sie in Bourges eintreffen, herrschen chaotische Zustände: Die Stadt ist überfüllt mit Flüchtlingen aus dem französischen Norden, die Menschen sind in Panik vor den deutschen Truppen, die sich der Stadt bereits bedrohlich nähern. Bewusst, dass die Gestapo gezielt nach dem nun 19-jährigen prominenten Häftling suchen und ihn wahrscheinlich standrechtlich erschießen lassen wird, weigert sich der Gefängnisdirektor in Bourges allerdings, Herschel bei sich aufzunehmen. Herschel bleibt nichts anderes übrig, als sich daher weiter auf der Flucht vor den Deutschen alleine zu Fuß Richtung Chateauroux durchzuschlagen –, dort wird er allerdings wieder an den Gefängnismauern abgewiesen. Am 10. Juli 1940 erreicht Herschel schließlich Toulouse, wo er am Tag darauf den Deutschen schließlich doch in die Hände fällt.[27]

Am 14. Juli wird er der Gestapo übergeben und unmittelbar nach Berlin gebracht, wo er zunächst in Moabit in polizeilicher Schutzhaft einsitzt. Seit dem 18. Januar 1941 ist er unter bevorzugter Behandlung im Zellenbau des KZ Sachsenhausen inhaftiert. Das Deutsche Reich erhebt nun am 16. Oktober 1941 seinerseits Anklage gegen Herschel wegen Mordes und Hochverrats, ohne Herschel einen Verteidiger zu stellen. Der Prozessauftakt wird aber immer wieder verzögert, da die Prozessvorbereitungen nicht im Sinne der NS-Funktionäre verlaufen: Im Herbst 1941 behauptet Herschel zur Überraschung der Verantwortlichen in Berlin, sein Opfer zuvor gekannt und ein homosexuelles Verhältnis mit vom Rath gehabt zu haben. Ernsthafte bestätigte Hinweise auf ein solches Verhältnis sind bis heute allerdings nicht belegt.

Während der unerträglich langen Wartezeit auf seine eigentlich aussichtslose Verhandlung im Nazi-Deutschland versucht Herschel offenbar sich das Leben zu nehmen und tritt mehrfach in Hungerstreik.[28] In der unmittelbaren Phase vor der geplanten Prozesseröffnung verschlechtert sich seine Situation zusehends. Herschel ist rund um die Uhr gefesselt. Der lang erwartete Prozess aber wird nicht stattfinden: Wegen der mittlerweile hohen Verluste der deutschen Wehrmacht an der Ostfront und dem schwindenden Rückhalt in der deutschen Bevölkerung, Herschel den aufwändigen Prozess zu machen, wird der geplante Schauprozess auf Befehl Adolf Hitlers endgültig aufgeschoben. In deutschen Akten wird Grynszpan zuletzt im September 1942 erwähnt, kurz vor einer Mordaktion im KZ Sachsenhausen, bei der zahlreiche Häftlinge getötet werden. Dort verliert sich seine Spur.

 

[22] Armin Fuhrer, S. 13.

[23] Armin Fuhrer, S. 168.

[24] Armin Fuhrer, S. 150.

[25] Armin Fuhrer, S. 172.

[26] Armin Fuhrer, S. 236.

[27] Armin Fuhrer, S. 248 f.

[28] Armin Fuhrer, S. 258.

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    Herschel Feibel Grynszpan bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung, Paris 1938.
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