Vom Sokół-Verein zu Dariusz Wosz – Polnischer Sport in Bochum

Im Bochumer Ruhrstadion springt der Berliner Niko Kovac während der Fußball-Zweitliga-Begegnung VFL Bochum gegen Hertha BSC Berlin über den Bochumer Andrzej Rudy, rechts der Bochumer Kapitän Dariusz Wosz, 1996.
Für den VfL Bochum auf dem Platz: Andrzej Rudy und Kapitän Dariusz Wosz, 1996

Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg führte im Revier für die polnische Gemeinschaft zu einer völlig veränderten Situation. Die Gründung eines polnischen Nationalstaates im November 1918 veränderte nach dem Ende des Krieges den Spielraum der polnischen Minderheit: Durch Abwanderungen nach Polen, nach Nordfrankreich und Belgien, kam es zu einer Halbierung ihrer Zahl bis 1929. Gleichzeitig war die nationalpolnische Orientierung keine angemessene politische Option mehr. Der Sport, eben auch der Fußballsport, hielt jetzt Einzug in die Turnorganisation. In der Saison 1920/21 wurde bereits in 52 Vereinen Fußball gespielt. Am 18. Dezember 1921 wurde in Recklinghausen das erste Endspiel um die Fußballmeisterschaft der Sokółn ausgetragen, Castrop gewann gegen den Bochumer Sokół-Verein Linden 3:2.[14] Im Januar 1927 zogen die polnischen Sportler eine Konsequenz aus dieser politischen Situation und strichen die Wörter „polnisch“ und „Sokół“ aus dem Verbandsnamen. Die Organisation firmierte jetzt unter dem Etikett „Verband der Turn- und Sportvereine aus Westfalen und dem Rheinlande“ und trug Spiele mit deutschen Klubs aus.[15]

Die Integration in die deutsche Gesellschaft bis hin zur Assimilation erschien vielen Menschen in der Community nun als rationale und vernünftige Wahl. Die Mitgliedschaft im Fußballverein war gerade im Revier eine praktische Handlungsmöglichkeit. In der Meisterschaftsrunde 1937/38 standen in den Gauligen Westfalen und Niederrhein 68 Spieler mit polnischen Namenswurzeln in den Teams.[16] Der Zivilisationsbruch durch die Herrschaft des Nationalsozialismus bedeutete jedoch bald das Ende des organisierten polnischen Sports und der polnischen Organisationen in ganz Deutschland. Im Sommer 1939 wurden ihre Räume in der Klosterstaße in Bochum besetzt und das Vermögen beschlagnahmt[17], die endgültige Liquidierung wurde bezeichnenderweise durch eine Verordnung des „Ministerrates für die Reichsverteidigung“ am 27.2.1940 geregelt[18]. Funktionäre, auch aus Bochum, wurden während des Krieges ermordet oder kamen im KZ um.[19]

Die deutschen Nationalspieler aus dem Ruhrgebiet mit polnisch klingenden Namen waren dann nach dem Zweiten Weltkrieg ohne jede wirkliche Erinnerung an historische Vorgänge Teil der sportjournalistischen Fußball-Folklore und anekdotischer Geschichten. Die Geschichte von Segregation und Integration, für die auch die historische Realität des polnischen Sports in Bochum steht, wurde fragmentiert und unsystematisch zum Kapitel eines beschönigenden Narrativs, das von einem konfliktfreien Zusammenleben von Migranten und ansässiger Bevölkerung beim gemeinsamen Fußballspiel ausging. In dieser harmonisierten Form geriet die Geschichte der polnischen Minderheit auch in den politischen Diskurs.[20]

Eine neue Phase in der Beteiligung polnischer Spieler am Bochumer Fußball und am Ruhrgebietsfußball läutete dann die verspätete Einführung des professionellen Fußballs und die Gründung der Bundesliga in der Saison 1963/64 ein. Teil dieser dringend notwendigen Modernisierung des deutschen Fußballs war auch die Aufhebung des Verbots für den Frauenfußball im Jahre 1970. Bereits seit den 1950er Jahren hatten Frauen im Revier im Sinne des DFB nicht „legale“ Vereine, Spiele, ja sogar eine „Nationalmannschaft“ organisiert. Darunter Frauen aus masurischen und polnischen Zuwandererfamilien wie Brunhilde Zawatzky aus Dortmund und Lore Karlowski aus Essen.[21] Jetzt konnte tatsächlich jede und jeder, der Talent besaß, mitmachen. Anfang der 1970er Jahre war deshalb der Arbeiteranteil unter den deutschen Elitefußballern zum ersten Mal so hoch wie ihr Anteil in der Gesellschaft[22], der Mythos vom „Arbeitersport“ Fußball wurde zumindest partiell eingelöst. Der bezahlte Fußball machte es möglich. Gleichzeitig wurde der deutsche Markt attraktiv für ausländische Profis, damit auch für polnische Spieler. Seit Ende der 1980er Jahre erteilte der polnische Staat Freigaben für eine Karriere im Westen, einige Athleten setzten sich auch ohne diese Freigabe bei Auslandsaufenthalten in den Westen ab.

 

[14] Blecking, 1990, S. 195.

[15] Blecking, 1990, S. 197.

[16] Vgl. für diese Phase Blecking, Diethelm, Aus dem Pütt in die Profiliga. Polen und Masuren im Ruhrgebietsfußball (https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/aus-dem-puett-die-profiliga-polen-und-masuren-im-ruhrgebietsfussball, Zugriff am 26.12.2020)

[17] Schade, Wulf, Verkrüppelte Identität. Polnische und masurische Zuwanderung in der Bochumer Geschichtsschreibung, in: Bochumer Zeitpunkte 23 (2009), S. 25-51, hier S. 34 (https://www.kortumgesellschaft.de/tl_files/kortumgesellschaft/content/download-ocr/zeitpunkte/Zeitpunkte-23-2009OCR.pdf, Zugriff am 27.12.2020).

[18] Blecking, 1990, S. 207, Anm. 3.

[19] Schade, 2009, S. 33-34.

[20] Positive Bestimmungen des Sports als Vehikel der Integration mit Rekurs auf das „Vorbild“ der „Ruhrpolen“ finden sich bei Helmut Schmidt als Kanzler, Wolfgang Schäuble als Innenminister und Johannes Rau als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Siehe Diethelm Blecking, „Sport and Immigration in Germany“, in: The International Journal of the History of Sport, Vol. 25(2008), S. 955-973, hier S. 956 und S. 967, Anm. 10.

[21] Vgl. mit weiterer Literatur Blecking, Diethelm, Die Nummer 10 mit Migrationshintergrund. Fußball und Zuwanderung im Ruhrgebiet, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-3(2019), S. 24-29, hier S. 28-29 (https://www.bpb.de/apuz/283266/fussball-und-zuwanderung-im-ruhrgebiet?p=all, Zugriff am 29.12.2020).

[22] Eisenberg, Christiane, „Deutschland“, in: Eisenberg, Christiane (Hg.), Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München 1997, S. 115-116.

Mediathek
  • Der polnische Turnverein „Sokół”, 1920-1939 - Mitglieder des polnischen Turnvereins „Sokół”, 1920-1939.
  • Mannschaftsfoto des VfL Bochum, 1988

    In der Saison 1988/1989 im VfL-Kader u. a. Michael Rzehaczek und Andrzej Iwan.
  • Dariusz Wosz beim Derby VfL Bochum gegen SG Wattenscheid 09, 1993

    Die Bochumer Ikone Dariusz Wosz beim Derby VfL Bochum gegen SG Wattenscheid 09.
  • Marek Leśniak, 1993

    Marek Leśniak, ehemaliger Spieler und Goalgetter der Jahre 1992-1995 bei der SG Wattenscheid 09.
  • Marek Leśniak, 1993

    Marek Leśniak, ehemaliger Spieler und Goalgetter der Jahre 1992-1995 bei der SG Wattenscheid 09.
  • Der legendäre Torschütze Marek Leśniak am Ball für die SG Wattenscheid 09

    Eine Legende am Ball: Marek Leśniak, ehemaliger Spieler und Goalgetter der Jahre 1992-1995 bei der SG Wattenscheid 09.
  • Mirosław Giruc, 1994

    Mirosław Giruc, ehemaliger Spieler der SG Wattenscheid 09.
  • Henryk Baluszynski und Dariusz Wosz, 1996

    Der ehemalige Spieler des VfL Bochum Henryk Baluszynski lässt sich von Spielmacher Wosz feiern.
  • Andrzej Rudy und Dariusz Wosz, 1996

    Im Bochumer Ruhrstadion springt der Berliner Niko Kovac über den VfL Bochumer Andrzej Rudy, rechts der Bochumer Kapitän Dariusz Wosz, 1996.
  • Michał Probierz, 1996

    Michał Probierz, ehemaliger Spieler der SG Wattenscheid 09.
  • Krzysztof Kasak, 2013

    Krzysztof Kasak, ehemaliger Spieler der SG Wattenscheid 09.
  • Michał Probierz, 2016

    Michał Probierz, ehemaliger Spieler der SG Wattenscheid 09, machte sich nach seiner aktiven Fußballlaufbahn auch als Trainer in Polen einen Namen.
  • Thomas Eisfeld, Nils Quaschner, Piotr Ćwielong und Johannes Wurtz, 2017

    Torjubel auf Seiten des VfL Bochum bei der Begegnung gegen Greuther Fürth.
  • Marek Leśniak, Bayer Leverkusen

    Torjubel nach dem erzielten Siegtreffer am 21.10.1989 (FC Bayern - Bayer Leverkusen 0:1), Autogrammkarte
  • Marek Leśniak, Bayer Leverkusen

    Marek Leśniak, Bayer Leverkusen, Torjubel nach dem erzielten Siegtreffer am 21.10.1989 (FC Bayern - Bayer Leverkusen 0:1), Autogrammkarte - Rückseitte
  • Dariusz Wosz, VfL Bochum

    Dariusz Wosz, VfL Bochum, Autogrammkarte 1992
  • Tomasz Waldoch, VfL Bochum 1998/99

    Tomasz Waldoch, VfL Bochum 1998/99, Autogrammkarte
  • Tomasz Waldoch, VfL Bochum 1998/99

    Tomasz Waldoch, VfL Bochum 1998/99, Autogrammkarte - Rückseite
  • Henryk Baluszynski VfL Bochum

    Henryk Baluszynski VfL Bochum
  • Jacek Ratajczak VfL Bochum 1999/2000

    Jacek Ratajczak VfL Bochum 1999/2000, Autogrammkarte 
  • Jacek Ratajczak VfL Bochum 1999/2000 Rückseite

    Jacek Ratajczak VfL Bochum 1999/2000 Rückseite, Autogrammkarte
  • Miroslaw Giruc SG Wattenscheid 09

    Miroslaw Giruc SG Wattenscheid 09, Autogrammkarte 14.4.1998
  • Miroslaw Giruc SG Wattenscheid 09 Rückseite

    Miroslaw Giruc SG Wattenscheid 09 Rückseite, Autogrammkarte 14.4.1998