Vom Warschauer Aufstand nach Frankfurt am Main. Polnische KZ-Häftlinge in den Frankfurter Adlerwerken
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Wie kam es zur Errichtung eines KZ-Außenlagers in Frankfurt am Main?
Die Adlerwerke in Frankfurt am Main waren ein bekanntes Traditionsunternehmen, das sich mit der Produktion von Autos, Fahrrädern und Schreibmaschinen einen Namen gemacht hatte. Im Krieg stellten sie ihre Produktion auf Rüstungsgüter um und spezialisierten sich auf den Bau von sogenannten Zugkraftwagen. Dabei handelte es sich um Halbkettenfahrzeuge, die eine lenkbare Vorderachse mit Rädern und hinten ein Kettenlaufwerk hatten. Sie wurden zum Beispiel als Fahrgestelle für leichte Schützenpanzerwagen genutzt. (Abb. 1 . , 2 . )
Wie alle deutschen Unternehmen hatten die Adlerwerke im Zweiten Weltkrieg mit einem Arbeitskräftemangel zu kämpfen. Sie kompensierten dies seit 1941 durch den Einsatz von zivilen Zwangsarbeitenden aus Polen, der Ukraine, Frankreich, der Sowjetunion und seit Herbst 1943 auch aus Italien. Da die Zuführungen und gewaltsamen Verschleppungen von Zwangsarbeiter:innen aufgrund des Vormarsches der alliierten Armeen weniger wurden, griffen Rüstungsunternehmen im letzten Kriegsjahr verstärkt auf Arbeitskräfte zurück, die die SS für eine tägliche Leihgebühr anbot: KZ-Häftlinge. Da die SS aber die Kontrolle über die Häftlinge behalten wollte, entstanden auf diese Weise im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten mehr als Tausend KZ-Außenlager – so auch mitten im Frankfurter Gallus, wo im August 1944 im Fabrikgebäude der Adlerwerke an der Kleyerstraße ein Vorkommando von 200 Häftlingen und eine SS-Bewachungsmannschaft eintraf. Der offizielle Antrag für die Stellung von 1.000 Häftlingen für die Fertigung von Zugkraftwagen und den dazugehörigen Getrieben und Motoren erging Anfang September 1944. (Abb. 3 . , 4 . ) Aus nicht bekannten Gründen erhielt das Außenlager den Tarnnamen „Katzbach“. Es wurde der Verwaltung des Konzentrationslagers Natzweiler unterstellt.
Wer waren die Häftlinge?
Insgesamt stellte die SS den Adlerwerken 1.616 Häftlinge zur Verfügung, die in vier größeren Transporten nach Frankfurt gebracht wurden. Alle Häftlinge der ersten drei Transporte waren polnische Männer, die während des Warschauer Aufstands seit August 1944 gefangengenommen und vom Durchgangslager Pruszków, das die Deutschen wenige Tage nach Beginn des Aufstands zur Deportation der Warschauer Bevölkerung eingerichtet hatten, in das deutsche KZ-System verschleppt worden waren. Ursprünglich hatten SS, Reichssicherheitshauptamt und Wehrmacht geplant, vor allem aktive Kämpfer der Heimatarmee (Armia Krajowa) in die Konzentrationslager und die übrigen Bewohner:innen Warschaus in den zivilen Zwangsarbeitseinsatz zu bringen. Die Zuteilung zu den Transporten im Durchgangslager Pruszków erfolgte jedoch chaotisch und willkürlich. Deswegen handelte es sich bei den nach Frankfurt Verschleppten nur zum Teil um Kämpfer; viele waren Zivilisten. Nach ihrer Ankunft in Buchenwald bzw. Dachau entschied der Zufall, in welches Außenlager sie letztendlich kamen. Dass Frankfurt einer der mörderischsten Einsätze mit geringen Überlebenschancen werden sollte, war im Herbst 1944 noch nicht absehbar.
Mit dem letzten Transport Anfang Februar 1945 kamen erstmals Häftlinge unterschiedlicher Herkunft ins Lager. Es handelte sich zum großen Teil um ehemalige zivile Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, die wegen verschiedener „Vergehen“ von der Gestapo in ein Konzentrationslager eingewiesen worden. Oftmals hatten sie versucht, zu fliehen oder ihre verheerenden Lebensbedingungen durch Diebstahl von Kleidung, Lebensmitteln oder Heizmaterial zu verbessern. Andere Häftlinge stammten aus Belgien, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien, den Niederlanden, Österreich, der Tschechoslowakei und Ungarn. Viele waren im Zuge von Räumungstransporten aus anderen Konzentrationslagern (z. B. Auschwitz) nach Buchenwald und von dort nach Frankfurt gebracht worden. Außerdem kamen mit dem letzten Transport auch 36 Häftlinge polnisch-jüdischer Herkunft sowie 28 deutsche Häftlinge ins Lager.
Für alle Transporte sind Häftlingslisten mit genauen Angaben zu Namen, Alter und Herkunft erhalten geblieben. (Abb. 5 . , 6 . ) Wir wissen daher, dass zahlreiche Minderjährige unter den Gefangenen waren, wie zum Beispiel der erst 14-jährige Andrzej Branecki, der nach dem Krieg mehrfach in Frankfurt war und von seinen Erfahrungen berichtete. (Abb. 7 . ) Von vielen sind Häftlingspersonalkarten der SS-Verwaltung erhalten, die Auskunft über ihre früheren Wohnorte und Familienverhältnisse geben. Von einigen haben Angehörige Fotos zur Verfügung gestellt. (Abb. 8 . , 9 . , 10 . )
Nur 30 Überlebende haben über ihre Erfahrungen im KZ der Adlerwerke Zeugnis abgelegt. Der frühste Bericht stammt aus dem Dezember 1945 und wurde von Witold Szuman geschrieben.[1] Mehrere Überlebende sagten als Zeugen in Ermittlungsverfahren aus oder gaben in den 1990er Jahren Interviews.[2] Außerdem gibt es zwei autobiographische Romane: das 1976 in Warschau unter Pseudonym erschienene „Tagebuch eines Hellsehers“ des ehemaligen Häftlings Józef Marcinkowski, das sich jedoch nur an wenigen Stellen mit dem Lager „Katzbach“ befasst,[3] sowie der inzwischen auf Deutsch vorliegende Roman von Janusz Garlicki „Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben“, der höchst anschaulich die Zeit vom Ausbruch des Warschauer Aufstands bis zu seiner eigenen Befreiung durch die Amerikaner beschreibt.[4] Kein anderes Zeugnis ermöglicht es uns so intensiv, den Alltag und die Gedanken der polnischen Häftlinge während der grausamen Haft im KZ „Katzbach“ nachzuvollziehen.
Da das Fotografieren im Innern der Fabrik zu dieser Zeit verboten war, gibt es keine Fotos vom Lager oder den Häftlingen. Ein besonderer Schatz sind daher die Zeichnungen des ehemaligen Häftlings Zygmunt Świstak (1924–2022). Seine Bilder dokumentieren das Leben und Leiden, den Arbeitseinsatz und die Gewalt aus der Perspektive der Häftlinge.
[1] Bericht Witold Szuman, Dezember 1945, in: Archiwum Akt Nowych, 1333–212, III-7.
[2] Ermittlungsverfahren zum KZ-Außenlager Adlerwerke in: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 67638; Interviews mit Überlebenden von Michael Knorn und Ernst Kaiser, in: ebenda, Abt. 1273, Depositum Kaiser/Knorn; Joanna Skibinska: Die letzten Zeugen. Gespräche mit Überlebenden des KZ-Außenlagers „Katzbach“ in den Adlerwerken in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main/Hanau 2005; vier Überlebende der Adlerwerke berichten im Film „Zwei Balkone – Zwangsarbeiter bei den Adlerwerken“ (Andrzej Falber, 2004) von ihren Erfahrungen.
[3] Akhara Jussuf Mustafa: Pamiętnik Jasnowidza, Warszawa 1976.
[4] Janusz Garlicki: Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben. Aus dem Warschauer Aufstand ins KZ-Außenlager Katzbach bei den Frankfurter Adlerwerken, Wiesbaden 2021. Originalausgabe: Janusz Garlicki: Spóźniał się Pan, generale Patton [Sie haben sich verspätet, General Patton], Bydgoszcz 2010.