Vom Warschauer Aufstand nach Frankfurt am Main. Polnische KZ-Häftlinge in den Frankfurter Adlerwerken
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Existenzbedingungen
Schon bald, nachdem die Männer in Frankfurt eingetroffen waren, wurde ihnen klar, dass sie die dort herrschenden Lebensbedingungen nicht lange durchhalten werden. Bis zum Jahresende waren 90 gestorben und mehr als 230 als „arbeitsunfähig“ aussortiert und zurück nach Natzweiler bzw. Dachau sowie in das Sterbelager Vaihingen abtransportiert worden. Die Häftlinge waren in großen Fabrikhallen auf Pritschenbetten untergebracht. Es regnete hinein und die Belüftung war mangelhaft, so dass sich bald ein übler Gestank im Schlafsaal ausbreitete. (Abb. 11 . ) Täglich zwölf Stunden schwere Arbeit in der Fabrik sorgten dafür, dass die Häftlinge schon bald an Kräften verloren. (Abb. 12 . ) Zermürbend waren außerdem die nächtlichen Fliegeralarme. Dann wurden die Häftlinge unter Schlägen hinunter in die Keller getrieben und mussten dort ausharren. (Abb. 13 . )
Besonders verheerend war der Bombenangriff vom 8. Januar 1945, als 50 Häftlinge, die in einem nicht ausreichend sicheren Luftschutzkeller untergebracht waren, ums Leben kamen. Elisabeth Bäuerle, eine Mitarbeiterin der Adlerwerke, die sich um die zahlreichen Verletzten kümmerte, berichtete später: „Es ist kaum zu beschreiben, welch ein Bild sich mir zeigte. Blutüberströmt und kohlenschwarz durch die Verschüttung saßen welche vor mir. Einige weinten, erzählten mir von ihren Frauen und strichen mir zum Dank über die Hände.“[5] Rund 40 verletzte Häftlinge sind im Städtischen Krankenhaus in der Eschenbachstraße notdürftig versorgt worden.
Die meisten Todesopfer forderte jedoch die katastrophale Unterernährung. Die Häftlinge erhielten völlig unzureichende Nahrungsmengen. Waren die vorgesehenen Rationen ohnehin nicht groß, verringerten sie sich weiter, da der SS-Küchenchef Martin Weiß Lebensmittel, die für die Häftlinge gedacht waren, für eigene Zwecke verschob. Schon bald waren viele Häftlinge arbeitsunfähig. Spätestens ab Dezember 1944 gab es fast täglich Todesfälle im Lager.
Je nach verbliebener Kraft setzten die Häftlinge den Zumutungen und Erniedrigungen der SS zahlreiche Maßnahmen der Selbstbehauptung entgegen. Sie fanden Mittel und Wege, um durch Tauschhandel an benötigte Lebensmittel und Gegenstände zu gelangen, sich gegen Kälte zu schützen und bildeten kleine Gemeinschaften, die sich emotional stützten. Aus den Tagesrapporten der Adlerwerke, die die Amerikaner nach dem Krieg beschlagnahmten, erfahren wir außerdem von zahlreichen Fluchtversuchen (37 sind insgesamt dokumentiert). (Abb. 14 . ) Wurde jemand wieder aufgegriffen, wurde er bei nächster Gelegenheit mit Krankentransporten abtransportiert. Nur von einem erfolgreich geflohenen Häftling liegt ein Bericht vor: Jan Kozłowski floh Anfang Februar 1945 aus der Fabrik. Seine Geschichte ist im Buch „Die letzten Zeugen“ von Joanna Skibinska veröffentlicht.
Die Verantwortung von SS und Unternehmen für die hohe Sterblichkeit im Lager
Die SS-Wachmannschaft bestand aus ca. 35 Männern, geleitet vom Lagerführer Erich Franz, der aus Wien stammte und in seinem vorherigen Leben Verkäufer bei der Firma Julius Meinl gewesen war. (Abb. 15 . ) In den regelmäßig ins Stammlager gesandten Wochen- und Monatsberichten gab er Auskunft über die Geschehnisse im Lager. Diese sind jedoch nur für das Jahr 1944 erhalten. (Abb. 16 . )
Viele SS-Bewacher waren erst kurz zuvor von der Wehrmacht in den KZ-Dienst versetzt worden. Andere hatten bereits im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek gearbeitet und waren dort an Erschießungen von Jüdinnen und Juden beteiligt gewesen. Etliche ließen im Außenlager der Adlerwerke ihrer Gewalt ungehemmt freien Lauf. Willkürliche Schläge waren ebenso an der Tagesordnung wie angekündigte Strafgewalt in Form von 25 Peitschenhieben auf den nackten Rücken. Zwei Häftlinge wurden im Januar 1945 aufgrund eines Sabotagevorwurfs an einem im Lager errichteten Galgen erhängt.
Auch die Unternehmensleitung trug Verantwortung für die Verelendung der Häftlinge. Sie konzentrierte sich in dieser Zeit darauf, Betriebseinrichtungen und Maschinen an sichere Standorte zu verlagern, um sie für die Nachkriegszeit zu retten. Die eigentliche Produktion am Frankfurter Standort, die bereits seit Ankunft der Häftlinge aufgrund der kriegsbedingt unzuverlässigen Rohstoff- und Energieversorgung sowie der Zulieferungs- und Transportprobleme stagnierte, hielt sie nur pro forma aufrecht. Die Häftlinge hatten für sie keinen Nutzen mehr; daher investierte sie nicht in den Erhalt ihrer Arbeitskraft und übernahm keine Verantwortung für ihr Leben. Sie sorgte nicht dafür, dass die von ihr gestellten Lebensmittel die Häftlinge erreichten, verbesserte nichts an der miserablen Unterbringungssituation mit minimalen Heizmöglichkeiten und unzureichenden Sanitäreinrichtungen und setzte der Gewalt der SS nichts entgegen. Der für die ausländischen Zwangsarbeiter zuständige Prokurist Franz Engelmann war gleichzeitig politischer Abwehrbeauftragter des Unternehmens und hatte enge Verbindungen zur Gestapo. Werksmitarbeiter:innen, die Häftlinge unterstützten, wurden bedroht und in einem dokumentierten Fall sogar durch die Gestapo in Arrest genommen. (Abb. 17 . )
[5] Bericht Elisabeth Bäuerle an die US-Militärregierung, 1945, in: HHStAW, 649/409.