Vom Warschauer Aufstand nach Frankfurt am Main. Polnische KZ-Häftlinge in den Frankfurter Adlerwerken
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Was wusste die Stadtgesellschaft und die Nachbarschaft?
Städtische Behörden waren auf vielfältige Weise mit dem Lager und der hohen Sterblichkeit der Häftlinge konfrontiert. Die Stadt besorgte nicht nur die standesamtliche Registrierung der Verstorbenen, sondern auch ihre Überführung ins Krematorium auf dem Hauptfriedhof und ihre Einäscherung und Bestattung. Im Oktober 1944 hatte Lagerführer Franz das Frankfurter Bestattungsamt informiert, dass die Toten der Außenlager in das nächstgelegene städtische Krematorium gebracht werden müssten. Sie sollten nach der Einäscherung auf einer abgelegenen Stelle des Friedhofs ohne Kenntlichmachung begraben werden. Die Kosten konnte die Stadt bei der Kommandantur des Konzentrationslagers Natzweiler in Rechnung stellen. (Abb. 18 . , 19 . )
Die Häftlinge hatten an ihren Arbeitsstellen Berührung mit Deutschen, vor allem mit den Meistern, die die Arbeit anwiesen und kontrollierten, sowie mit Hilfswachmännern, die die Adlerwerke zur Unterstützung der Bewachungsmannschaft zur Verfügung stellten. Die Nachbarschaft sah die Häftlinge, wenn sie zu Enttrümmerungsarbeiten auf den Straßen der Umgebung herangezogen wurden. Besonders gefährlich war die Arbeit im Minensuchkommando, das Blindgänger entschärfen musste. Einige Häftlinge wurden nach Bombenangriffen auch in Privathäusern von Adler-Mitarbeiter:innen eingesetzt. (Abb. 20 . ) Mindestens dreimal liefen die geschwächten Häftlinge zu Fuß in die Badeeinrichtungen der nahegelegenen Ackermannschule. (Abb. 21 . ) Die dort erfolgende sogenannte Entlausung war eine Tortur für die Häftlinge, die lange Stunden in der Kälte nackt auf ihre Kleidung warten mussten. Bei dieser Gelegenheit kamen sie mit den Angestellten in Kontakt. Ein Mitarbeiter war polnischer Herkunft und versuchte, die Häftlinge zu unterstützen – er gab beispielsweise Jan Kozłowski eine Hose, die ihm dann bei der Flucht nützlich war, da er in der gestreiften Häftlingshose aufgefallen wäre.
Die Ladeninhaber im Viertel kannten die SS-Leute des Lagers, insbesondere den Küchenchef Martin Weiß, der jeden Tag loszog, um Lebensmittel und Alkohol zu besorgen. Spätestens im März 1945 wurde das Lager zum Stadtgespräch, als die Lager-SS zwei flüchtige ukrainische Häftlinge, Georgij Lebedenko und Adam Golub, in der Lahnstraße erschoss, die am frühen Morgen aus dem Lager geflohen waren. Lebedenko wurde bereits kurz nach der Flucht von SS-Wachmännern erschossen. Golub gelang es, sich mehrere Stunden in Kellern der Mietshäuser zu verstecken. Anwohner:innen halfen der SS bei der Suche. Am Nachmittag wurde er ergriffen und vor den Augen mehrerer Nachbar:innen erschossen. An die beiden wird heute am Golub-Lebedenko-Platz erinnert. (Abb. 22 . )
Die mörderische Räumung des Lagers
Im März 1945, als der Einmarsch der Amerikaner kurz bevorstand, räumte die SS das Lager. 450 marschunfähige Häftlinge ließ sie Mitte März 1945 mit Zügen nach Bergen-Belsen abtransportieren. Mindestens 100 starben bereits auf dem Transport, die meisten anderen an den verheerenden Bedingungen im komplett überfüllten und unterversorgten Lager Bergen-Belsen. Nur elf Überlebende sind bekannt. Sie wurden am 15. April 1945 bei der Übergabe Bergen-Belsens an britische Truppen befreit. Die in Frankfurt verbliebenen rund 360 Häftlinge trieb die SS am Abend des 24. März 1945 auf einen Fußmarsch entlang der Bahnstrecke über Gelnhausen, Schlüchtern und Fulda bis nach Hünfeld, wo sie in Züge verladen wurden, die sie nach Buchenwald brachten. Auf diesem Marsch erschossen die SS-Wachleute alle, die aufgrund von Erschöpfung nicht schnell genug laufen konnten. Entlang der Strecke wurden in den folgenden Tagen, Wochen und zum Teil sogar noch Jahre später insgesamt 50 Leichen gefunden, die dem Todesmarsch zugeordnet werden konnten. (Abb. 23 . )
Die Nachkriegsuntersuchungen zeigen eindrücklich, wie stark die Zivilbevölkerung zu Zeugen dieser Verbrechen wurde. So erklärte Ferdinand Müller aus Fulda am 29. November 1947: „Am 29.3.1945 Gründonnerstag gegen 10 Uhr ging ich von Fulda nach Lehnerz in Richtung Hünfeld. Am Ausgang der Stadt, in Höhe der Kollmann’schen Scheune, kam aus dieser ein Transport von etwa 150 Mann KZ-Häftlingen. Auf der Straße beim Weitermarsch fiel plötzlich am Ende der Kolonne eine Person um. Diese Person wurde von einem SS-Mann und einer in Zivil bekleideten Person aus der Kolonne zur Seite gelegt. Nachdem der Ohnmächtige zur Seite geschleift war, hat ihn der SS-Mann ohne weiteres mit seiner Maschinenpistole durch den Kopf erschossen. Sodann wurde der Erschossene die Böschung hinunter in den Galgengraben geschmissen. Die Straße war zu dieser Zeit sehr belebt. Alle Verkehrsteilnehmer waren sehr erbost über die Handlungsweise des SS-Mannes, sie nahmen Stellung gegen den SS-Mann, worauf dieser den Leuten mit seiner Maschinenpistole drohte.“[6]
Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Buchenwald schickte die SS die Überlebenden auf weitere Todesmärsche, der größte Teil musste bis Flossenbürg und letztendlich Dachau laufen, wo am 29. April 1945 rund 40 ehemalige Häftlinge der Adlerwerke befreit wurden. Zahlreiche hatten die Todesmärsche nicht überlebt. Einigen war unterwegs die Flucht gelungen, wie beispielsweise Janusz Garlicki, der in seinem Buch genau beschrieb, wie die Entscheidungsfindung dazu ablief und welche Bedingungen zu ihrem Gelingen nötig gewesen waren.
[6] Aussage Ferdinand Müller, 29.11.1947, in: Arolsen Archives, 5.3.1/84598041. https://collections.arolsen-archives.org/de/document/84598041