Vom Warschauer Aufstand nach Frankfurt am Main. Polnische KZ-Häftlinge in den Frankfurter Adlerwerken
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Befreit und doch nicht befreit
Die wenigen Überlebenden kehrten in der Regel nach Polen zurück. Einige blieben in Deutschland, andere bemühten sich um eine Ausreise in die USA, nach Kanada oder Australien. Viele Überlebende blieben noch Monate, teilweise Jahre in DP-Lagern oder sie verbrachten eine lange Zeit in Sanatorien, um ihren Gesundheitszustand wiederherzustellen. Viele Familien in Polen warteten vergeblich auf eine Rückkehr ihrer Männer, Söhne, Väter und Brüder. Während diejenigen, deren Tod in Frankfurt am Main standesamtlich registriert worden war, durch den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen Auskunft erhalten konnten, war dies für die Angehörigen der vielen Hundert Menschen, die während der Todesmärsche gestorben waren, nicht möglich. Ihre Sterbeorte und -daten sind für immer unbekannt – für die Familien ein bis heute quälender Zustand.
Noch Jahre nach Kriegsende veröffentlichten sie Suchanzeigen für die Vermissten. (Abb. 24 . , 25 . ) Wiktoria Bittner, die Mutter von Zdzisław Bittner, die im Mai 1947 in der Zeitung „Repatriant“ nach ihrem Sohn suchte, erhielt Post von dessen Jugendfreund Zygmunt Świstak. Zygmunt war gemeinsam mit Zdzisław in das KZ-Außenlager „Katzbach“ deportiert, aber zu Weihnachten 1944 nach Vaihingen überstellt worden. Über die Todesumstände von Zdzisław wusste er daher nichts, schrieb aber ausführlich über ihre letzten Begegnungen, die Verhältnisse im Lager sowie seine eigene Situation nach der Befreiung. Er war zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder in die Adlerwerke deportiert worden: Beide hatten nicht überlebt. Seine Postkarten und Briefe an Zdzisławs Mutter zeigen, wie schwer es den Überlebenden fiel, wieder im Leben anzukommen. Jeglicher Lebensmut war ihnen durch den Verlust der Gesundheit, der Familie und Freunde, des Zuhauses, der Zukunftsperspektiven sowie der Zerstörung der Stadt Warschau verloren gegangen. Die Briefe von Wiktoria Bittner, der Mutter seines Freundes, die ihn von früher kannte, gaben Zygmunt Świstak das Gefühl, nicht völlig allein auf der Welt zu sein. In einem Brief schreibt er: „Nun weiß ich, dass jemand mich kennt und weiß, wer ich bin.“[7]
Gab es Sühne für die Verbrechen?
Schon 1945 fanden erste kriminalpolizeiliche Ermittlungen zu den Morden im Lager „Katzbach“ und auf dem Todesmarsch statt. Zwei Arbeiter der Adlerwerke, die als Hilfswachmänner Häftlinge misshandelt hatten, wurden 1946 zu Haftstrafen verurteilt; ein weiterer wurde nach Polen ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt.[8] Dass es im Fall der Adlerwerke ausschließlich Hilfswachmänner waren, die wegen Gewalt gegen Häftlinge zu Haftstrafen verurteilt wurden, ist kein Zufall. Anders als die ehemaligen SS-Männer lebten sie in Frankfurt und Umgebung und waren daher für die Justiz leicht auffindbar. Die SS-Männer hingegen befanden sich nicht mehr in der Stadt. Erst als sich die Ermittlungsarbeit der Justizbehörden durch die Gründung der Ludwigsburger Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen professionalisierte, gelang es in den 1960er Jahren, ehemalige SS-Angehörige des Lagers ausfindig zu machen. Verurteilt wurde von ihnen keiner mehr, obwohl es gegen den Lagerführer Erich Franz, seinen Stellvertreter Emil Lendzian und den Lagerkoch Martin Weiß zahlreiche belastbare Vorwürfe gab. Das Verfahren gegen Erich Franz wurde auf Grund seines Wohnorts an die österreichische Justiz abgegeben. Diese ermittelte nur halbherzig und stellte das Verfahren letztendlich wegen Mangels an Beweisen ein. Emil Lendzian war bereits 1956 in Mönchengladbach verstorben. Martin Weiß, ein Volksdeutscher aus Siebenbürgen, war nach dem Krieg nach Rumänien zurückgekehrt, so dass die deutschen Justizbehörden keine Handhabe sahen, ihn vor Gericht zu stellen.
Die Unternehmensverantwortlichen Ernst Hagemeier und Franz Engelmann befanden sich bis Frühjahr 1947 in US-Internierung und wurden dann im Rahmen einer Entlassungswelle wieder auf freien Fuß gesetzt. Versuche, sie später erneut vor Gericht zu stellen, scheiterten. Die halbherzige juristische Aufarbeitung der Verbrechen in den Adlerwerken ist keinesfalls ungewöhnlich, sondern kann als typisch für die Strafverfolgung von NS-Verbrechen angesehen werden. Ebenso skandalös war der Umgang mit den Entschädigungen. Die ersten zusätzlichen Rentenzahlungen erhielten die nach Polen zurückgekehrten Überlebenden der Adlerwerke erst in den 1970er Jahren im Nachgang der bundesdeutschen neuen Ostpolitik; einmalige Zahlungen folgten im Rahmen des „Vertrags über gute Nachbarschaft“ zwischen Deutschland und Polen von 1991 und durch die im Jahr 2000 errichtete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“. Nur wenige hatten bis dahin überlebt; eine ernsthafte Kompensation für die erlittenen Schäden stellten die Beträge nicht dar.
Die im Zuge der juristischen Aufarbeitung entstandenen Quellen, insbesondere die Aussagen von Belegschaftsmitgliedern und der unmittelbaren Nachbarschaft, dokumentierten schon früh und unverblümt das ganze Spektrum von zeitgenössischen Perspektiven auf dieses Lager. Ihre Berichte zeigen die Dynamiken, die dazu führten, dass der Hungertod so vieler Menschen in der eigenen Fabrikstätte als Teil einer Kriegsnormalität empfunden wurde. Sie zeigen aber auch, dass es etliche Betriebsangehörige und Nachbar:innen gab, die dies nicht „normal“ fanden und im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchten, zu intervenieren.
[7] Andrea Rudorff: Gemeinsames Trauern. Briefe eines Überlebenden des KZ „Katzbach“, in: Informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933–1945, Nr. 95, März 2022, 46. Jg., S. 13–17.
[8] Andrea Rudorff: Das Verfahren gegen Karl Grass. Ein Arbeiter der Adlerwerke vor einem Warschauer Gericht, in: Einsicht 2022, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, S. 80–89. https://www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/editorial/publikationen/einsicht/Einsicht-2022.pdf