Vom Warschauer Aufstand nach Frankfurt am Main. Polnische KZ-Häftlinge in den Frankfurter Adlerwerken
Mediathek Sorted
Wie kam es zur Errichtung eines KZ-Außenlagers in Frankfurt am Main?
Die Adlerwerke in Frankfurt am Main waren ein bekanntes Traditionsunternehmen, das sich mit der Produktion von Autos, Fahrrädern und Schreibmaschinen einen Namen gemacht hatte. Im Krieg stellten sie ihre Produktion auf Rüstungsgüter um und spezialisierten sich auf den Bau von sogenannten Zugkraftwagen. Dabei handelte es sich um Halbkettenfahrzeuge, die eine lenkbare Vorderachse mit Rädern und hinten ein Kettenlaufwerk hatten. Sie wurden zum Beispiel als Fahrgestelle für leichte Schützenpanzerwagen genutzt. (Abb. 1 . , 2 . )
Wie alle deutschen Unternehmen hatten die Adlerwerke im Zweiten Weltkrieg mit einem Arbeitskräftemangel zu kämpfen. Sie kompensierten dies seit 1941 durch den Einsatz von zivilen Zwangsarbeitenden aus Polen, der Ukraine, Frankreich, der Sowjetunion und seit Herbst 1943 auch aus Italien. Da die Zuführungen und gewaltsamen Verschleppungen von Zwangsarbeiter:innen aufgrund des Vormarsches der alliierten Armeen weniger wurden, griffen Rüstungsunternehmen im letzten Kriegsjahr verstärkt auf Arbeitskräfte zurück, die die SS für eine tägliche Leihgebühr anbot: KZ-Häftlinge. Da die SS aber die Kontrolle über die Häftlinge behalten wollte, entstanden auf diese Weise im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten mehr als Tausend KZ-Außenlager – so auch mitten im Frankfurter Gallus, wo im August 1944 im Fabrikgebäude der Adlerwerke an der Kleyerstraße ein Vorkommando von 200 Häftlingen und eine SS-Bewachungsmannschaft eintraf. Der offizielle Antrag für die Stellung von 1.000 Häftlingen für die Fertigung von Zugkraftwagen und den dazugehörigen Getrieben und Motoren erging Anfang September 1944. (Abb. 3 . , 4 . ) Aus nicht bekannten Gründen erhielt das Außenlager den Tarnnamen „Katzbach“. Es wurde der Verwaltung des Konzentrationslagers Natzweiler unterstellt.
Wer waren die Häftlinge?
Insgesamt stellte die SS den Adlerwerken 1.616 Häftlinge zur Verfügung, die in vier größeren Transporten nach Frankfurt gebracht wurden. Alle Häftlinge der ersten drei Transporte waren polnische Männer, die während des Warschauer Aufstands seit August 1944 gefangengenommen und vom Durchgangslager Pruszków, das die Deutschen wenige Tage nach Beginn des Aufstands zur Deportation der Warschauer Bevölkerung eingerichtet hatten, in das deutsche KZ-System verschleppt worden waren. Ursprünglich hatten SS, Reichssicherheitshauptamt und Wehrmacht geplant, vor allem aktive Kämpfer der Heimatarmee (Armia Krajowa) in die Konzentrationslager und die übrigen Bewohner:innen Warschaus in den zivilen Zwangsarbeitseinsatz zu bringen. Die Zuteilung zu den Transporten im Durchgangslager Pruszków erfolgte jedoch chaotisch und willkürlich. Deswegen handelte es sich bei den nach Frankfurt Verschleppten nur zum Teil um Kämpfer; viele waren Zivilisten. Nach ihrer Ankunft in Buchenwald bzw. Dachau entschied der Zufall, in welches Außenlager sie letztendlich kamen. Dass Frankfurt einer der mörderischsten Einsätze mit geringen Überlebenschancen werden sollte, war im Herbst 1944 noch nicht absehbar.
Mit dem letzten Transport Anfang Februar 1945 kamen erstmals Häftlinge unterschiedlicher Herkunft ins Lager. Es handelte sich zum großen Teil um ehemalige zivile Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, die wegen verschiedener „Vergehen“ von der Gestapo in ein Konzentrationslager eingewiesen worden. Oftmals hatten sie versucht, zu fliehen oder ihre verheerenden Lebensbedingungen durch Diebstahl von Kleidung, Lebensmitteln oder Heizmaterial zu verbessern. Andere Häftlinge stammten aus Belgien, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien, den Niederlanden, Österreich, der Tschechoslowakei und Ungarn. Viele waren im Zuge von Räumungstransporten aus anderen Konzentrationslagern (z. B. Auschwitz) nach Buchenwald und von dort nach Frankfurt gebracht worden. Außerdem kamen mit dem letzten Transport auch 36 Häftlinge polnisch-jüdischer Herkunft sowie 28 deutsche Häftlinge ins Lager.
Für alle Transporte sind Häftlingslisten mit genauen Angaben zu Namen, Alter und Herkunft erhalten geblieben. (Abb. 5 . , 6 . ) Wir wissen daher, dass zahlreiche Minderjährige unter den Gefangenen waren, wie zum Beispiel der erst 14-jährige Andrzej Branecki, der nach dem Krieg mehrfach in Frankfurt war und von seinen Erfahrungen berichtete. (Abb. 7 . ) Von vielen sind Häftlingspersonalkarten der SS-Verwaltung erhalten, die Auskunft über ihre früheren Wohnorte und Familienverhältnisse geben. Von einigen haben Angehörige Fotos zur Verfügung gestellt. (Abb. 8 . , 9 . , 10 . )
Nur 30 Überlebende haben über ihre Erfahrungen im KZ der Adlerwerke Zeugnis abgelegt. Der frühste Bericht stammt aus dem Dezember 1945 und wurde von Witold Szuman geschrieben.[1] Mehrere Überlebende sagten als Zeugen in Ermittlungsverfahren aus oder gaben in den 1990er Jahren Interviews.[2] Außerdem gibt es zwei autobiographische Romane: das 1976 in Warschau unter Pseudonym erschienene „Tagebuch eines Hellsehers“ des ehemaligen Häftlings Józef Marcinkowski, das sich jedoch nur an wenigen Stellen mit dem Lager „Katzbach“ befasst,[3] sowie der inzwischen auf Deutsch vorliegende Roman von Janusz Garlicki „Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben“, der höchst anschaulich die Zeit vom Ausbruch des Warschauer Aufstands bis zu seiner eigenen Befreiung durch die Amerikaner beschreibt.[4] Kein anderes Zeugnis ermöglicht es uns so intensiv, den Alltag und die Gedanken der polnischen Häftlinge während der grausamen Haft im KZ „Katzbach“ nachzuvollziehen.
Da das Fotografieren im Innern der Fabrik zu dieser Zeit verboten war, gibt es keine Fotos vom Lager oder den Häftlingen. Ein besonderer Schatz sind daher die Zeichnungen des ehemaligen Häftlings Zygmunt Świstak (1924–2022). Seine Bilder dokumentieren das Leben und Leiden, den Arbeitseinsatz und die Gewalt aus der Perspektive der Häftlinge.
[1] Bericht Witold Szuman, Dezember 1945, in: Archiwum Akt Nowych, 1333–212, III-7.
[2] Ermittlungsverfahren zum KZ-Außenlager Adlerwerke in: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 67638; Interviews mit Überlebenden von Michael Knorn und Ernst Kaiser, in: ebenda, Abt. 1273, Depositum Kaiser/Knorn; Joanna Skibinska: Die letzten Zeugen. Gespräche mit Überlebenden des KZ-Außenlagers „Katzbach“ in den Adlerwerken in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main/Hanau 2005; vier Überlebende der Adlerwerke berichten im Film „Zwei Balkone – Zwangsarbeiter bei den Adlerwerken“ (Andrzej Falber, 2004) von ihren Erfahrungen.
[3] Akhara Jussuf Mustafa: Pamiętnik Jasnowidza, Warszawa 1976.
[4] Janusz Garlicki: Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben. Aus dem Warschauer Aufstand ins KZ-Außenlager Katzbach bei den Frankfurter Adlerwerken, Wiesbaden 2021. Originalausgabe: Janusz Garlicki: Spóźniał się Pan, generale Patton [Sie haben sich verspätet, General Patton], Bydgoszcz 2010.
Existenzbedingungen
Schon bald, nachdem die Männer in Frankfurt eingetroffen waren, wurde ihnen klar, dass sie die dort herrschenden Lebensbedingungen nicht lange durchhalten werden. Bis zum Jahresende waren 90 gestorben und mehr als 230 als „arbeitsunfähig“ aussortiert und zurück nach Natzweiler bzw. Dachau sowie in das Sterbelager Vaihingen abtransportiert worden. Die Häftlinge waren in großen Fabrikhallen auf Pritschenbetten untergebracht. Es regnete hinein und die Belüftung war mangelhaft, so dass sich bald ein übler Gestank im Schlafsaal ausbreitete. (Abb. 11 . ) Täglich zwölf Stunden schwere Arbeit in der Fabrik sorgten dafür, dass die Häftlinge schon bald an Kräften verloren. (Abb. 12 . ) Zermürbend waren außerdem die nächtlichen Fliegeralarme. Dann wurden die Häftlinge unter Schlägen hinunter in die Keller getrieben und mussten dort ausharren. (Abb. 13 . )
Besonders verheerend war der Bombenangriff vom 8. Januar 1945, als 50 Häftlinge, die in einem nicht ausreichend sicheren Luftschutzkeller untergebracht waren, ums Leben kamen. Elisabeth Bäuerle, eine Mitarbeiterin der Adlerwerke, die sich um die zahlreichen Verletzten kümmerte, berichtete später: „Es ist kaum zu beschreiben, welch ein Bild sich mir zeigte. Blutüberströmt und kohlenschwarz durch die Verschüttung saßen welche vor mir. Einige weinten, erzählten mir von ihren Frauen und strichen mir zum Dank über die Hände.“[5] Rund 40 verletzte Häftlinge sind im Städtischen Krankenhaus in der Eschenbachstraße notdürftig versorgt worden.
Die meisten Todesopfer forderte jedoch die katastrophale Unterernährung. Die Häftlinge erhielten völlig unzureichende Nahrungsmengen. Waren die vorgesehenen Rationen ohnehin nicht groß, verringerten sie sich weiter, da der SS-Küchenchef Martin Weiß Lebensmittel, die für die Häftlinge gedacht waren, für eigene Zwecke verschob. Schon bald waren viele Häftlinge arbeitsunfähig. Spätestens ab Dezember 1944 gab es fast täglich Todesfälle im Lager.
Je nach verbliebener Kraft setzten die Häftlinge den Zumutungen und Erniedrigungen der SS zahlreiche Maßnahmen der Selbstbehauptung entgegen. Sie fanden Mittel und Wege, um durch Tauschhandel an benötigte Lebensmittel und Gegenstände zu gelangen, sich gegen Kälte zu schützen und bildeten kleine Gemeinschaften, die sich emotional stützten. Aus den Tagesrapporten der Adlerwerke, die die Amerikaner nach dem Krieg beschlagnahmten, erfahren wir außerdem von zahlreichen Fluchtversuchen (37 sind insgesamt dokumentiert). (Abb. 14 . ) Wurde jemand wieder aufgegriffen, wurde er bei nächster Gelegenheit mit Krankentransporten abtransportiert. Nur von einem erfolgreich geflohenen Häftling liegt ein Bericht vor: Jan Kozłowski floh Anfang Februar 1945 aus der Fabrik. Seine Geschichte ist im Buch „Die letzten Zeugen“ von Joanna Skibinska veröffentlicht.
Die Verantwortung von SS und Unternehmen für die hohe Sterblichkeit im Lager
Die SS-Wachmannschaft bestand aus ca. 35 Männern, geleitet vom Lagerführer Erich Franz, der aus Wien stammte und in seinem vorherigen Leben Verkäufer bei der Firma Julius Meinl gewesen war. (Abb. 15 . ) In den regelmäßig ins Stammlager gesandten Wochen- und Monatsberichten gab er Auskunft über die Geschehnisse im Lager. Diese sind jedoch nur für das Jahr 1944 erhalten. (Abb. 16 . )
Viele SS-Bewacher waren erst kurz zuvor von der Wehrmacht in den KZ-Dienst versetzt worden. Andere hatten bereits im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek gearbeitet und waren dort an Erschießungen von Jüdinnen und Juden beteiligt gewesen. Etliche ließen im Außenlager der Adlerwerke ihrer Gewalt ungehemmt freien Lauf. Willkürliche Schläge waren ebenso an der Tagesordnung wie angekündigte Strafgewalt in Form von 25 Peitschenhieben auf den nackten Rücken. Zwei Häftlinge wurden im Januar 1945 aufgrund eines Sabotagevorwurfs an einem im Lager errichteten Galgen erhängt.
Auch die Unternehmensleitung trug Verantwortung für die Verelendung der Häftlinge. Sie konzentrierte sich in dieser Zeit darauf, Betriebseinrichtungen und Maschinen an sichere Standorte zu verlagern, um sie für die Nachkriegszeit zu retten. Die eigentliche Produktion am Frankfurter Standort, die bereits seit Ankunft der Häftlinge aufgrund der kriegsbedingt unzuverlässigen Rohstoff- und Energieversorgung sowie der Zulieferungs- und Transportprobleme stagnierte, hielt sie nur pro forma aufrecht. Die Häftlinge hatten für sie keinen Nutzen mehr; daher investierte sie nicht in den Erhalt ihrer Arbeitskraft und übernahm keine Verantwortung für ihr Leben. Sie sorgte nicht dafür, dass die von ihr gestellten Lebensmittel die Häftlinge erreichten, verbesserte nichts an der miserablen Unterbringungssituation mit minimalen Heizmöglichkeiten und unzureichenden Sanitäreinrichtungen und setzte der Gewalt der SS nichts entgegen. Der für die ausländischen Zwangsarbeiter zuständige Prokurist Franz Engelmann war gleichzeitig politischer Abwehrbeauftragter des Unternehmens und hatte enge Verbindungen zur Gestapo. Werksmitarbeiter:innen, die Häftlinge unterstützten, wurden bedroht und in einem dokumentierten Fall sogar durch die Gestapo in Arrest genommen. (Abb. 17 . )
[5] Bericht Elisabeth Bäuerle an die US-Militärregierung, 1945, in: HHStAW, 649/409.
Was wusste die Stadtgesellschaft und die Nachbarschaft?
Städtische Behörden waren auf vielfältige Weise mit dem Lager und der hohen Sterblichkeit der Häftlinge konfrontiert. Die Stadt besorgte nicht nur die standesamtliche Registrierung der Verstorbenen, sondern auch ihre Überführung ins Krematorium auf dem Hauptfriedhof und ihre Einäscherung und Bestattung. Im Oktober 1944 hatte Lagerführer Franz das Frankfurter Bestattungsamt informiert, dass die Toten der Außenlager in das nächstgelegene städtische Krematorium gebracht werden müssten. Sie sollten nach der Einäscherung auf einer abgelegenen Stelle des Friedhofs ohne Kenntlichmachung begraben werden. Die Kosten konnte die Stadt bei der Kommandantur des Konzentrationslagers Natzweiler in Rechnung stellen. (Abb. 18 . , 19 . )
Die Häftlinge hatten an ihren Arbeitsstellen Berührung mit Deutschen, vor allem mit den Meistern, die die Arbeit anwiesen und kontrollierten, sowie mit Hilfswachmännern, die die Adlerwerke zur Unterstützung der Bewachungsmannschaft zur Verfügung stellten. Die Nachbarschaft sah die Häftlinge, wenn sie zu Enttrümmerungsarbeiten auf den Straßen der Umgebung herangezogen wurden. Besonders gefährlich war die Arbeit im Minensuchkommando, das Blindgänger entschärfen musste. Einige Häftlinge wurden nach Bombenangriffen auch in Privathäusern von Adler-Mitarbeiter:innen eingesetzt. (Abb. 20 . ) Mindestens dreimal liefen die geschwächten Häftlinge zu Fuß in die Badeeinrichtungen der nahegelegenen Ackermannschule. (Abb. 21 . ) Die dort erfolgende sogenannte Entlausung war eine Tortur für die Häftlinge, die lange Stunden in der Kälte nackt auf ihre Kleidung warten mussten. Bei dieser Gelegenheit kamen sie mit den Angestellten in Kontakt. Ein Mitarbeiter war polnischer Herkunft und versuchte, die Häftlinge zu unterstützen – er gab beispielsweise Jan Kozłowski eine Hose, die ihm dann bei der Flucht nützlich war, da er in der gestreiften Häftlingshose aufgefallen wäre.
Die Ladeninhaber im Viertel kannten die SS-Leute des Lagers, insbesondere den Küchenchef Martin Weiß, der jeden Tag loszog, um Lebensmittel und Alkohol zu besorgen. Spätestens im März 1945 wurde das Lager zum Stadtgespräch, als die Lager-SS zwei flüchtige ukrainische Häftlinge, Georgij Lebedenko und Adam Golub, in der Lahnstraße erschoss, die am frühen Morgen aus dem Lager geflohen waren. Lebedenko wurde bereits kurz nach der Flucht von SS-Wachmännern erschossen. Golub gelang es, sich mehrere Stunden in Kellern der Mietshäuser zu verstecken. Anwohner:innen halfen der SS bei der Suche. Am Nachmittag wurde er ergriffen und vor den Augen mehrerer Nachbar:innen erschossen. An die beiden wird heute am Golub-Lebedenko-Platz erinnert. (Abb. 22 . )
Die mörderische Räumung des Lagers
Im März 1945, als der Einmarsch der Amerikaner kurz bevorstand, räumte die SS das Lager. 450 marschunfähige Häftlinge ließ sie Mitte März 1945 mit Zügen nach Bergen-Belsen abtransportieren. Mindestens 100 starben bereits auf dem Transport, die meisten anderen an den verheerenden Bedingungen im komplett überfüllten und unterversorgten Lager Bergen-Belsen. Nur elf Überlebende sind bekannt. Sie wurden am 15. April 1945 bei der Übergabe Bergen-Belsens an britische Truppen befreit. Die in Frankfurt verbliebenen rund 360 Häftlinge trieb die SS am Abend des 24. März 1945 auf einen Fußmarsch entlang der Bahnstrecke über Gelnhausen, Schlüchtern und Fulda bis nach Hünfeld, wo sie in Züge verladen wurden, die sie nach Buchenwald brachten. Auf diesem Marsch erschossen die SS-Wachleute alle, die aufgrund von Erschöpfung nicht schnell genug laufen konnten. Entlang der Strecke wurden in den folgenden Tagen, Wochen und zum Teil sogar noch Jahre später insgesamt 50 Leichen gefunden, die dem Todesmarsch zugeordnet werden konnten. (Abb. 23 . )
Die Nachkriegsuntersuchungen zeigen eindrücklich, wie stark die Zivilbevölkerung zu Zeugen dieser Verbrechen wurde. So erklärte Ferdinand Müller aus Fulda am 29. November 1947: „Am 29.3.1945 Gründonnerstag gegen 10 Uhr ging ich von Fulda nach Lehnerz in Richtung Hünfeld. Am Ausgang der Stadt, in Höhe der Kollmann’schen Scheune, kam aus dieser ein Transport von etwa 150 Mann KZ-Häftlingen. Auf der Straße beim Weitermarsch fiel plötzlich am Ende der Kolonne eine Person um. Diese Person wurde von einem SS-Mann und einer in Zivil bekleideten Person aus der Kolonne zur Seite gelegt. Nachdem der Ohnmächtige zur Seite geschleift war, hat ihn der SS-Mann ohne weiteres mit seiner Maschinenpistole durch den Kopf erschossen. Sodann wurde der Erschossene die Böschung hinunter in den Galgengraben geschmissen. Die Straße war zu dieser Zeit sehr belebt. Alle Verkehrsteilnehmer waren sehr erbost über die Handlungsweise des SS-Mannes, sie nahmen Stellung gegen den SS-Mann, worauf dieser den Leuten mit seiner Maschinenpistole drohte.“[6]
Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Buchenwald schickte die SS die Überlebenden auf weitere Todesmärsche, der größte Teil musste bis Flossenbürg und letztendlich Dachau laufen, wo am 29. April 1945 rund 40 ehemalige Häftlinge der Adlerwerke befreit wurden. Zahlreiche hatten die Todesmärsche nicht überlebt. Einigen war unterwegs die Flucht gelungen, wie beispielsweise Janusz Garlicki, der in seinem Buch genau beschrieb, wie die Entscheidungsfindung dazu ablief und welche Bedingungen zu ihrem Gelingen nötig gewesen waren.
[6] Aussage Ferdinand Müller, 29.11.1947, in: Arolsen Archives, 5.3.1/84598041. https://collections.arolsen-archives.org/de/document/84598041
Befreit und doch nicht befreit
Die wenigen Überlebenden kehrten in der Regel nach Polen zurück. Einige blieben in Deutschland, andere bemühten sich um eine Ausreise in die USA, nach Kanada oder Australien. Viele Überlebende blieben noch Monate, teilweise Jahre in DP-Lagern oder sie verbrachten eine lange Zeit in Sanatorien, um ihren Gesundheitszustand wiederherzustellen. Viele Familien in Polen warteten vergeblich auf eine Rückkehr ihrer Männer, Söhne, Väter und Brüder. Während diejenigen, deren Tod in Frankfurt am Main standesamtlich registriert worden war, durch den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen Auskunft erhalten konnten, war dies für die Angehörigen der vielen Hundert Menschen, die während der Todesmärsche gestorben waren, nicht möglich. Ihre Sterbeorte und -daten sind für immer unbekannt – für die Familien ein bis heute quälender Zustand.
Noch Jahre nach Kriegsende veröffentlichten sie Suchanzeigen für die Vermissten. (Abb. 24 . , 25 . ) Wiktoria Bittner, die Mutter von Zdzisław Bittner, die im Mai 1947 in der Zeitung „Repatriant“ nach ihrem Sohn suchte, erhielt Post von dessen Jugendfreund Zygmunt Świstak. Zygmunt war gemeinsam mit Zdzisław in das KZ-Außenlager „Katzbach“ deportiert, aber zu Weihnachten 1944 nach Vaihingen überstellt worden. Über die Todesumstände von Zdzisław wusste er daher nichts, schrieb aber ausführlich über ihre letzten Begegnungen, die Verhältnisse im Lager sowie seine eigene Situation nach der Befreiung. Er war zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder in die Adlerwerke deportiert worden: Beide hatten nicht überlebt. Seine Postkarten und Briefe an Zdzisławs Mutter zeigen, wie schwer es den Überlebenden fiel, wieder im Leben anzukommen. Jeglicher Lebensmut war ihnen durch den Verlust der Gesundheit, der Familie und Freunde, des Zuhauses, der Zukunftsperspektiven sowie der Zerstörung der Stadt Warschau verloren gegangen. Die Briefe von Wiktoria Bittner, der Mutter seines Freundes, die ihn von früher kannte, gaben Zygmunt Świstak das Gefühl, nicht völlig allein auf der Welt zu sein. In einem Brief schreibt er: „Nun weiß ich, dass jemand mich kennt und weiß, wer ich bin.“[7]
Gab es Sühne für die Verbrechen?
Schon 1945 fanden erste kriminalpolizeiliche Ermittlungen zu den Morden im Lager „Katzbach“ und auf dem Todesmarsch statt. Zwei Arbeiter der Adlerwerke, die als Hilfswachmänner Häftlinge misshandelt hatten, wurden 1946 zu Haftstrafen verurteilt; ein weiterer wurde nach Polen ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt.[8] Dass es im Fall der Adlerwerke ausschließlich Hilfswachmänner waren, die wegen Gewalt gegen Häftlinge zu Haftstrafen verurteilt wurden, ist kein Zufall. Anders als die ehemaligen SS-Männer lebten sie in Frankfurt und Umgebung und waren daher für die Justiz leicht auffindbar. Die SS-Männer hingegen befanden sich nicht mehr in der Stadt. Erst als sich die Ermittlungsarbeit der Justizbehörden durch die Gründung der Ludwigsburger Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen professionalisierte, gelang es in den 1960er Jahren, ehemalige SS-Angehörige des Lagers ausfindig zu machen. Verurteilt wurde von ihnen keiner mehr, obwohl es gegen den Lagerführer Erich Franz, seinen Stellvertreter Emil Lendzian und den Lagerkoch Martin Weiß zahlreiche belastbare Vorwürfe gab. Das Verfahren gegen Erich Franz wurde auf Grund seines Wohnorts an die österreichische Justiz abgegeben. Diese ermittelte nur halbherzig und stellte das Verfahren letztendlich wegen Mangels an Beweisen ein. Emil Lendzian war bereits 1956 in Mönchengladbach verstorben. Martin Weiß, ein Volksdeutscher aus Siebenbürgen, war nach dem Krieg nach Rumänien zurückgekehrt, so dass die deutschen Justizbehörden keine Handhabe sahen, ihn vor Gericht zu stellen.
Die Unternehmensverantwortlichen Ernst Hagemeier und Franz Engelmann befanden sich bis Frühjahr 1947 in US-Internierung und wurden dann im Rahmen einer Entlassungswelle wieder auf freien Fuß gesetzt. Versuche, sie später erneut vor Gericht zu stellen, scheiterten. Die halbherzige juristische Aufarbeitung der Verbrechen in den Adlerwerken ist keinesfalls ungewöhnlich, sondern kann als typisch für die Strafverfolgung von NS-Verbrechen angesehen werden. Ebenso skandalös war der Umgang mit den Entschädigungen. Die ersten zusätzlichen Rentenzahlungen erhielten die nach Polen zurückgekehrten Überlebenden der Adlerwerke erst in den 1970er Jahren im Nachgang der bundesdeutschen neuen Ostpolitik; einmalige Zahlungen folgten im Rahmen des „Vertrags über gute Nachbarschaft“ zwischen Deutschland und Polen von 1991 und durch die im Jahr 2000 errichtete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“. Nur wenige hatten bis dahin überlebt; eine ernsthafte Kompensation für die erlittenen Schäden stellten die Beträge nicht dar.
Die im Zuge der juristischen Aufarbeitung entstandenen Quellen, insbesondere die Aussagen von Belegschaftsmitgliedern und der unmittelbaren Nachbarschaft, dokumentierten schon früh und unverblümt das ganze Spektrum von zeitgenössischen Perspektiven auf dieses Lager. Ihre Berichte zeigen die Dynamiken, die dazu führten, dass der Hungertod so vieler Menschen in der eigenen Fabrikstätte als Teil einer Kriegsnormalität empfunden wurde. Sie zeigen aber auch, dass es etliche Betriebsangehörige und Nachbar:innen gab, die dies nicht „normal“ fanden und im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchten, zu intervenieren.
[7] Andrea Rudorff: Gemeinsames Trauern. Briefe eines Überlebenden des KZ „Katzbach“, in: Informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933–1945, Nr. 95, März 2022, 46. Jg., S. 13–17.
[8] Andrea Rudorff: Das Verfahren gegen Karl Grass. Ein Arbeiter der Adlerwerke vor einem Warschauer Gericht, in: Einsicht 2022, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, S. 80–89. https://www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/editorial/publikationen/einsicht/Einsicht-2022.pdf
Jahrzehntelanger Kampf um die Erinnerung
In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die in den Adlerwerken verübten Verbrechen an KZ-Häftlingen in der Stadtgesellschaft bekannt; ihnen wurde aber angesichts des allgemeinen Ausnahmezustands, der in der zerstörten Stadt herrschte, keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Frankfurter Rundschau berichtete über die Ermittlungen und Prozesse. Die über 500 auf dem Hauptfriedhof begrabenen Häftlinge wurden nach dem Krieg umgebettet. Auch in Orten entlang der Todesmarschstrecke wie etwa in Dörnigheim, wo erschossene Häftlinge notdürftig verscharrt worden waren, wiesen die Amerikaner die örtliche Bevölkerung an, die Toten zu exhumieren und würdig zu bestatten. Bei der Exhumierung in Dörnigheim waren sogar zwei Überlebende anwesend. Sie waren an die Stätte ihres Leidens zurückgekehrt. (Abb. 26 . )
Die Grabstätte auf dem Hauptfriedhof wurde zur sichtbarsten Spur des Lagers im Stadtraum, die im Lauf der Nachkriegsjahrzehnte mehrfach um Gedenkelemente erweitert wurde.[9] Im Jahr 1972 ließ das hessische Innenministerium die Ruhestätte mit Steinplatten einfassen, auf denen die Namen aller in Frankfurt Verstorbenen eingraviert waren. Im Jahr 1988 fand Zygmunt Świstak hier das Grab seines Bruders Tadeusz. (Abb. 27 . , 28 . ) Seit dem Jahr 2025 erinnert eine Glasstele an der Grabstätte mit in alphabetischer Reihenfolge eingravierten Namen an jeden einzelnen in Frankfurt ums Leben gekommenen Häftling. (Abb. 29 . )
Wie an vielen anderen Verbrechensorten des Nationalsozialismus geriet die Geschichte des KZ „Katzbach“ im Laufe der Jahre in Vergessenheit. Seit den 1980er Jahren begannen zivilgesellschaftliche Akteure auf die Geschichte des Ortes aufmerksam zu machen und sich für eine öffentliche Erinnerung an das KZ-Außenlager einzusetzen. Ernst Kaiser und Michael Knorn leiteten Forschungsprojekte, nahmen Kontakt mit Überlebenden auf und veröffentlichten 1994 die erste Monographie zum Lager. Der Betriebsrat der Adlerwerke unter seinem Vorsitzenden Lothar Reiniger brachte das Thema innerbetrieblich auf die Tagesordnung. Im Jahr 1992 gründete sich der Verein LAGG (Leben und Arbeiten in Griesheim und Gallus e.V.), der sich bis heute für das Gedenken an das KZ-Außenlager engagiert und Besuche von Überlebenden organisierte. (Abb. 30 . ) Im Jahr 1998 erstritt er bei der Dresdner Bank, der als große Anteilseignerin eine Mitverantwortung zugesprochen wurde, eine Zahlung von 8.000 Mark an elf zu diesem Zeitpunkt bekannte Überlebende.
Die Stadt Frankfurt am Main brachte diesen Initiativen zunächst wenig Interesse entgegen; teilweise wurde die Existenz eines KZ-Außenlagers in den Adlerwerken sogar angezweifelt. Seit dem Jahr 2016 setzte sie sich jedoch für die Errichtung einer Gedenkstätte ein. Der „Geschichtsort Adlerwerke: Fabrik – Zwangsarbeit – Konzentrationslager“ konnte im März 2022 am Ort des Verbrechens in der Kleyerstraße eröffnen. Dort wurde die Möglichkeit geschaffen, sich intensiv mit den Geschehnissen im KZ-Außenlager der Adlerwerke auseinanderzusetzen. Ziel ist es, Wissen über die Vergangenheit zu vermitteln und damit zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beizutragen. Auch im öffentlichen Raum wird weiterhin an die Verbrechen erinnert. Eine vom Verein LAGG organisierte Aktion fand im März 2022 statt, als sich Tausende Frankfurter:innen entlang des Mainufers versammelten und mit selbstgestalteten Schildern an jeden einzelnen Häftling erinnerten. Viele nutzten die Gelegenheit, sich intensiver mit dem Schicksal der jeweiligen Person zu beschäftigen. (Abb. 31 . , 32 . ) Im März 2025, zum 80. Jahrestag des Todesmarsches, wurde mit zahlreichen Veranstaltungen in Frankfurt und in den Gemeinden entlang der Todesmarschstrecke an die Geschehnisse erinnert.
Andrea Rudorff, Juli 2025
(Das Forschungsprojekt von Dr. Andrea Rudorff zu „Katzbach“ war von 2018 bis 2020 am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main angesiedelt.)
Literatur:
Andrea Rudorff: Katzbach – Das KZ in der Stadt. Zwangsarbeit in den Adlerwerken Frankfurt am Main 1944/45, Göttingen 2021.
Ernst Kaiser und Michael Knorn: „Wir lebten und schliefen zwischen den Toten. Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit und Vernichtung in den Frankfurter Adlerwerken“, Frankfurt am Main/New York, 1994.
Joanna Skibinska: Die letzten Zeugen. Gespräche mit Überlebenden des KZ-Außenlagers „Katzbach“ in den Adlerwerken in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main/Hanau 2005.
Janusz Garlicki: Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben. Aus dem Warschauer Aufstand ins KZ-Außenlager bei den Frankfurter Adlerwerken, Wiesbaden 2021.
https://geschichtsort-adlerwerke.de/
[9] Zur Geschichte des Grabes siehe den Text von Joanna de Vincenz: https://www.porta-polonica.de/de/kriegsgraeber/gemeinschaftsgrab-der-kz-haeftlinge-des-kz-katzbach-den-adlerwerken.