"Zofia Posmysz – szrajberka"

Zofia Posmysz, Erkennungsbild (Fragment), aufgenommen bei der Registrierung im KL Auschwitz im Jahr 1942
Zofia Posmysz, Erkennungsbild (Fragment), aufgenommen bei der Registrierung im KL Auschwitz im Jahr 1942

Eines Tages, als wir aus Richtung der Lagerstraße kamen, sah ich eine Gefangenengestalt am Stacheldraht hängen. Sie hat die Lagerwirklichkeit nicht ausgehalten und Selbstmord begangen, indem sie den unter Strom stehenden Stacheldraht fasste. Mit den Händen am Draht verharrte sie in einer dramatischen, hängenden Haltung. Es war ein grausamer Anblick. Da sich solche Situationen häuften, lernte ich, nicht hinzuschauen. Oft hörte man nachts einen entsetzlichen Schrei – die Selbstmorde kamen vor allem nachts vor – der einen aus dem Schlaf riss. Ich wusste nicht, dass ein Mensch, der vom Stromschlag getroffen wird, einen so fürchterlichen Schrei von sich gibt. Nachdem man wach wurde, wusste man, dass wieder jemand im Stacheldraht hing. In einer solchen Situation habe ich immer meinen Kopf weggedreht. Ich wollte lieber nichts sehen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, finde ich in diesen Reaktionen mehr Entsetzen als Mitleid und vielleicht sogar einen Groll gegen die Person, die unsere Nachtruhe störte. Das erste, was ich empfand, war ein mit Hilflosigkeit unterfüttertes Entsetzen. Ich war über meine eigene Hilfslosigkeit entsetzt. Der Mensch im Lager fürchtet Mitleid, da Mitleid nach einer Reaktion verlangt. Ich dagegen habe mehrere Male gesehen, wie Menschen geschlagen wurden, geschlagen bis zur Bewusstlosigkeit und ich konnte nichts tun. Wenn man hilflos ist, fordert der Selbsterhaltungstrieb dazu auf, wegzuschauen. Könnte ich diesen Menschen zu Hilfe eilen und den Kampf mit den Mörderinnen aufnehmen? Wegschauen und Weghören waren eine Art Selbstverteidigung. Was habe ich damals empfunden? Wut? Vielleicht auch, eher aber Hilfslosigkeit. Eigentlich Wut der Hilfslosigkeit. So möchte ich es bezeichnen.

In dieser Zeit, es war Ende Januar 1942, kam ein SS-Mann in den Block, der neue Mitarbeiterinnen für die Küche suchte. Ich wagte, an ihn heranzutreten, meldete mich gehorsam und teilte mit, dass ich soeben gesund geworden sei, dass ich früher in der Küche gearbeitet hätte und daher gern dorthin zurückkehren würde. Er stimmte zu. Noch am selben Tag wurde ich wieder im Küchenblock aufgenommen.

Mitte 1943 wurden in Birkenau alle SS-Männer durch Frauen im Dienste der SS ersetzt. Sie kamen aus Ravensbrück nach Auschwitz, um hier Ordnung zu schaffen. Unter ihnen war die Aufseherin Franz. Sie erfuhr, dass ich Deutsch konnte. Sie musterte mich genau und sagte, dass ich [ab jetzt] die Eingangs- und Ausgangsbücher führen würde. Ich sollte am Ende der Küche arbeiten, dort wo ein kleiner, mit Buchführungsbüchern vollbelegter Tisch mit Schubladen aufgestellt wurde. Am nächsten Tag trat Aufseherin Franz zusammen mit einem polnischen Häftling, der das Abzeichen „P“ für politisch trug, in die Küche. Sie brachte ihn zum Tisch, an dem ich arbeitete und erklärte, dass dieser Häftling mir die Führung der Eingangs- und Ausgangsbücher beibringen werde. Er sagte, sein Vorname sei Tadeusz.[1]

Mein Treffen mit Tadeusz und ganz sicher die Tatsache, dass ich Auschwitz überlebt habe, verdanke ich in gewisser Weise der Aufseherin Franz. Vieles im Lager hing davon ab, auf welches Individuum man traf. Deswegen schaute ich mir sie gründlich an, als sie das erste Mal in die Küche kam. Sie war eine eher unscheinbare Person, nicht allzu groß, dunkelhaarig, von durchschnittlichem Aussehen und ziemlich füllig. Sie war einige Jahre älter als ich. Gleich zu Beginn hielt sie eine Rede. Sie verkündete, dass der SS-Frauen-Trupp hier angekommen sei, um diesen Sumpf in ein ordentliches Lager zu verwandeln, nach dem Vorbild von Ravensbrück. In Auschwitz sollte ein Musterlager entstehen. Um das zu erreichen, sei die Mitwirkung aller Häftlinge unabdingbar. Sie fügte noch hinzu, und das habe ich mir sehr gut gemerkt, dass sie niemanden schlagen werde, da sie sich nicht die Hände schmutzig machen wollte. Sollten wir gewissenhaft arbeiten, hätten wir ein ruhiges Leben, das wurde von ihr ebenfalls gesagt. Sie warnte uns vor allen Verstößen gegen das Reglement, da sie hart bestraft würden. Leider waren Verstöße gegen das Reglement nicht zu vermeiden, da im Lager fast alles eine Straftat war.

 

[1] Tadeusz Paolone (1909-1943), Häftling im KZ Auschwitz mit der Nummer 329, wurde wegen seiner konspirativen Tätigkeit im Lager erschossen. Zofia Posmysz beschrieb ihr Treffen mit ihm in ihrer Erzählung Chrystus oświęcimski [Christus von Auschwitz].