Raphael Lemkin – Der Schöpfer des Völkermord-Begriffs

Raphael Lemkin, Fotograf unbekannt
Raphael Lemkin, Fotograf unbekannt

Die Verbrechen der Barbarei und des Vandalismus

Schon vor der Konferenz in Madrid hatte Raphael Lemkin zwei Arten von Verbrechen unterschieden: die Barbarei als Vernichtung nationaler oder religiöser Gruppen sowie den Vandalismus als Zerstörung aller Kulturgüter, die sowohl die Auslöschung von Traditionen der verfolgten Gruppen als auch die Vernichtung ihres geistigen Lebens bezweckten. Die Notwendigkeit, beide Begriffe ins Strafrecht einzuführen, begründete der Jurist wie folgt: Ist die Vernichtung einer religiösen oder rassischen Gruppe denn nicht weitaus schädlicher für die Menschheit als die Zerstörung eines U-Bootes oder der Raub eines Schiffes? Wenn eine Nation vernichtet wird, dann geht nicht nur die Fracht eines Schiffes verloren, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Menschheit mit einem Kulturerbe, an dem die ganze Welt hätte teilhaben können. Diese Menschen werden aus keinem anderen Grund vernichtet als dem, dass sie einer bestimmten Religion oder Rasse angehören. Sie werden nicht in ihrer Eigenschaft als Individuen vernichtet, sondern als Mitglieder einer Gemeinschaft, die dem Unterdrücker missfällt. Die Opfer sind die unschuldigsten Menschen der Welt.[6]

Das Konzept stieß jedoch sowohl in Madrid als auch in seinem eigenen Land auf Unverständnis. Die polnische Regierung untersagte Lemkin, nach Spanien zu reisen. Und wenn auch seine Thesen auf der Konferenz eine Rolle spielten, hielt sich die Zahl ihrer Anhänger doch in bescheidenen Grenzen. Die in den Thesen enthaltenen Warnungen vor der politischen Lage im Dritten Reich und vor der Diskriminierung der Juden stießen nicht nur auf Unverständnis, sondern galten in Polen sogar als „Beleidigung der deutschen Freunde“.[7] Kurz darauf wurde Raphael Lemkin von seinem Posten als Staatsanwalt abberufen, was ihn allerdings nicht entmutigte, ganz im Gegenteil. Fortan sorgte er für die Verbreitung seiner Idee und warb um Unterstützer, indem er an zahlreichen Konferenzen in Europa und auf der ganzen Welt teilgenommen hat.

 

Das Leben im Exil

Der Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen unterbrach Lemkins Arbeit. In den ersten Septembertagen verließ er Warschau und flüchtete nach Osten. Als diese Gebiete von den Sowjets besetzt wurden, gelangte er nach Wilna (heute Vilnius, Litauen) und schließlich nach Kauen (heute Kaunas, Litauen), wo er sich dank seiner Kontakte, die er bei den internationalen Konferenzen geknüpft hatte, ein Visum nach Schweden besorgte. 1940 reiste er über Riga nach Stockholm. Schon nach wenigen Monaten, in denen er die schwedische Sprache lernte, hielt er juristische Vorlesungen an der dortigen Universität. In dieser Zeit beobachtete er die fortschreitende Entmenschlichung der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten sowie die Zerstörungen, die der Krieg anrichtete, aus dem Blickwinkel des neutralen Landes. 1941 erhielt Lemkin eine Stelle an der Duke Universität in North Carolina. Die Reise in die USA führte ihn über Moskau, wo er den letzten Zug der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok bestieg [bevor Deutschland die Sowjetunion angriff - Anm. d. Übers.]. Von dort gelangte er mit dem Schiff nach Japan und von dort aus in die USA. Neben seiner Beschäftigung an der Universität wirkte er auch im Rat des US-Präsidenten für Wirtschaftliche Kriegsführung. 1942 startete Lemkin in Amerika eine Informationskampagne über die Verbrechen der Nationalsozialisten in Europa. In diesem Zusammenhang übersetzte er die nationalsozialistischen Verordnungen ins Englische und führte auf dieser Grundlage Analysen durch. Dabei wies er nach, dass das deutsche Recht den schändlichen und zerstörerischen Zielen Adolf Hitlers untergeordnet wurde. 1942 wurde Raphael Lemkin zum Berater des Board of Economic Warfare in Washington ernannt, einer Behörde, die Präsident Franklin D. Roosevelt im zweiten Weltkrieg ins Leben rief. Hier setzte Lemkin seine Arbeit zur Verbreitung der Wahrheit über die Verbrechen in Europa fort, wobei er immer noch die beiden Begriffe „Barbarei“ und „Vandalismus“ benutzte. Indessen prägte sich seine Überzeugung aus, dass die Beispiellosigkeit der in diesem Krieg begangenen Morde ein Wort erforderlich machte, das den Charakter der Verbrechen besser zum Ausdruck brachte.[8]

 

Die Definition des Völkermords

1944 veröffentlichte Raphael Lemkin sein Buch „Axis Rule in occupied Europe“ (dt. „Die Achsenmächte im besetzten Europa“). Ein Kapitel versah er mit der Überschrift „Genocide - A New Term and New Conception for Destruction of Nations“ (dt. „Völkermord – ein neuer Begriff und ein neues Konzept für die Zerstörung von Nationen“). Diese Publikation stellte eine äußerst gründliche Dokumentation der Naziverbrechen dar, obwohl dem Autor damals das volle Ausmaß der Verbrechen noch gar nicht bekannt war. Die Publikation wirkte jedoch bahnbrechend, da sie erstmals überhaupt eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheit definierte. Gemeint ist hier der Völkermord (engl. Genocide), der darauf abzielt, Bevölkerungsgruppen oder ganze Nationen wegen ihrer Andersartigkeit zu vernichten. Das Konstrukt des Völkermords war nach Lemkin sehr weit gefasst und schloss auch Maßnahmen ein, die drauf abzielten, die Identität der Verfolgten zu zerstören. Es erstreckte sich somit gleichermaßen auf kulturelle, religiöse, politische, soziale und wirtschaftliche Aspekte. Die Veröffentlichung des Buches wurde unter anderem von der „Washington Post“ und der „New York Times“ positiv aufgenommen und der Begriff des Völkermords fand sowohl Eingang in die internationale Rechtssprache als auch in den allgemeinen Sprachgebrauch.

Dem zufolge wurde Raphael Lemkin im November 1945, als der Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof begann, als Berater von Robert H. Jackson, dem Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten, berufen. In Nürnberg erreichten Lemkin dann Informationen über weitere Mitglieder seiner Familie, die im Krieg ermordet wurden, unter anderem in Konzentrationslagern und im Warschauer Ghetto. Insgesamt verlor er 49 Angehörige, darunter die Eltern, die im KZ Treblinka umgekommen sind.

Für Lemkin endete der Nürnberger Prozess jedoch nur mit einem Teilerfolg. Der Begriff Völkermord wurde zwar in die Anklageschrift, nicht aber in das Urteil aufgenommen, da Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht als eigenständige Rechtskategorie anerkannt wurden. Lemkin konnte seine Enttäuschung darüber nicht verbergen und kommentierte diese Entscheidung in seiner Autobiografie wie folgt: „Das Nürnberger Urteil trug nur geringfügig zum Abbau der moralischen Spannungen in der Welt bei. Die Bestrafung der deutschen Kriegsverbrecher weckte zwar das Gefühl, dass sich Verbrechen auf der internationalen Bühne ebenso wenig wie in der Zivilgesellschaft auszahlen dürfen, doch rein juristisch waren die Konsequenzen der Prozesse gänzlich unzulänglich. [...] Die Alliierten machten zwar dem Hitler der Vergangenheit den Prozess, weigerten sich aber, die Hitler der Zukunft vorauszusehen. Sie wollten oder konnten keine völkerrechtliche Norm etablieren, die Verbrechen derselben Art künftig verhüten und bestrafen würde.[9]

Das unbefriedigende Urteil des Nürnberger Gerichtshofs führte dazu, dass Lemkin seinen Kampf um die offizielle Anerkennung des Begriffs „Völkermord“ durch die Vereinten Nationen fortgesetzt hat, was schließlich nach vielen Mühen am 9. Dezember 1948 von Erfolg gekrönt wurde. An diesem Tag nahm die UN-Generalversammlung die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ einstimmig an. Danach setzte sich Lemkin für die Ratifizierung der Konvention ein, indem er an die Staatengemeinschaft appellierte, dem völkerrechtlichen Vertrag zuzustimmen. Die Konvention trat daraufhin am 12. Januar 1951 endgültig in Kraft und wurde seither von 147 Staaten ratifiziert. Gleichwohl wurde die Konvention lange nicht angewandt, sondern wurde erst Ende des 20. Jahrhunderts genutzt, um mit den Tätern des Völkermords im ehemaligen Jugoslawien sowie in Ruanda abzurechnen.

 

[6] Ebd., S. 89 f.

[7] Zitiert nach Wikipedia, Stichwort „Raphael Lemkin“, hier nach S. Power: A Problem from Hell“. America and the Age of Genocide, Basic Books, New York 2002, S. 22.

[8] Rafał Lemkin, in: „Dzieje.pl Portal historyczny“, 23.02.2021 (in polnischer Sprache), URL: https://dzieje.pl/postacie/rafal-lemkin, (zuletzt aufgerufen am 08.07.2022).

[9] Frieze, Donna-Lee: Raphael Lemkin. Ohne Auftrag..., S. 219.

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  • Raphael Lemkin

    Raphael Lemkin, Fotograf unbekannt.
  • Ehrenurkunde für Raphael Lemkin

    Weibliche Mitglieder des Hebräischen Hilfsvereins für Einwanderer überreichen Lemkin eine Ehrenurkunde, Fotograf unbekannt.
  • Raphael Lemkin (rechts)

    Raphael Lemkin (rechts), Fotograf unbekannt.
  • Ratifizierung der Konvention, 1950

    Raphael Lemkin (obere Reihe, erster von rechts).
  • Raphael Lemkin, 1951

    Raphael Lemkin, 1951.
  • Das New York Times Jugendforum, 1954

    Raphael Lemkin (vierter von rechts).
  • Tag der Verabschiedung der Konvention durch die UNO, Paris 1948

    Raphael Lemkin (rechts) im Gespräch mit dem brasilianischen Diplomaten Gilbert Amado.
  • Raphael Lemkin

    Raphael Lemkin, Fotograf unbekannt.