Marek Pelc: Ein polnisch-jüdischer Dichter in Frankfurt am Main

Passfoto von Marek Pelc, Frankfurt am Main 2020, Privatbesitz
Passfoto von Marek Pelc, Frankfurt am Main 2020, Privatbesitz

Marek Pelc

 

Ich lebe in einer fremden Stadt

und wundere mich, dass die Straßen

Mir so bekannt vorkommen, dass das Laternenlicht

auf dem Pflaster leuchtet - wie gestern

wie vor einer Woche. Heute ging ich

wieder über den Eisernen Steg

auf die andere Seite des Mains.

Danach umhüllte mich ein unsichtbares Netz

unklarer Erinnerungen -

Brücken über dem Fluss meiner Heimatstadt.

 

Die greifbare Realität einer fremden Stadt ist

immer schmerzhaft. Früh morgens zum Beispiel

kaufst du ein Bauernbrot in der Bäckerei um die Ecke

rechnest das Geld in einer fremden Sprache

spürst aber noch deutlich die schlummernden Laute

einer anderen in dir.

 

Wie lange - fragst du - kann man

in einer fremden Stadt leben, ohne

ihr zu erlauben, in die Seele einzubrechen?

Wie lange kannst du in Gesichter schauen

und auf das Stimmgewirr der Straße lauschen

ohne zu spüren, dass sie ein Teil von dir ist?

 

Und dennoch ist das eine fremde Stadt

du ahnst es und kannst es doch nicht erklären -

vielleicht, weil du an keinem Ort

zu Hause bist.

 

Denn zu Hause ist kein Ort

sondern nur eine Beschwerde der Seele.

 

Aus dem Gedichtband „Czarnowidzenia“, Paris 2015 - aus dem Polnischen ins Deutsche vom Autor übersetzt

 

 

***

 

wieder sind wir zusammen

in Jerusalem

ich halte dich

in offenen Armen

ohne Zweifel

dass es möglich ist

(im Traum ist alles möglich)

 

morgens

öffne ich die eisernen Fensterläden

die Katzen wärmen sich schon

in der Sonne bei den Mülltonnen

ein junger Baum zittert leicht im Wind

der Ausschnitt des gemauerten Abhangs

vom Haus gegenüber

und an der Mauer schlängelt sich

die fingerähnliche Pflanze

genannt hier

„Wandernder Jude“

 

10. Februar 1987

 

Aus der Anthologie „Napisane w Niemczech. Geschrieben in Deutschland“, Jestetten 2000 – aus dem Polnischen ins Deutsche vom Autor übersetzt

 

Mediathek
  • Marek Pelc als zehnjähriger Junge

    Wrocław 1963
  • Marek Pelc im Alter von 19 Jahren

    Israel 1971
  • Marek Pelc (rechts) mit dem Regisseur Andrzej Falber

    Frankfurt am Main Ende der 1990er Jahre
  • Privates Treffen anlässlich der Frankfurter Buchmesse, Frankfurt am Main 2004.

    Vorderste Reihe: Andrzej Stasiuk und Jurij Andruchowytsch; dahinter links Agata Przyborowska-Stolz, daneben Monika Sznajderman; in der Mitte Ewa Kobylińska und Wolfgang Dehe; dahinter links (im weißen...
  • Marek Pelc am See Genezareth

    Israel 2007
  • Buchcover des 2015 in Paris erschienenen Lyrikbandes „Czarnowidzenia“

    Buchcover des 2015 in Paris erschienenen Lyrikbandes „Czarnowidzenia“
  • Marek Pelc auf dem Balkon seiner Wohnung

    Frankfurt am Main um 2010
  • Passfoto von Marek Pelc

    Frankfurt am Main 2020