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„Polenaktion“ 1938

Deportation der polnischen Juden aus Nürnberg während der sogenannten „Polenaktion“, 1938

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Deportation der polnischen Juden aus Nürnberg während der sogenannten „Polenaktion“, 1938
Deportation der polnischen Juden aus Nürnberg während der sogenannten „Polenaktion“, 1938

Zu ihnen gehörte sicher auch der damals 18-jährige Gerhard Klein (1920-1999), ein Jungstar im Film und auf der Bühne, der unter anderem mit der Rolle des Professors in „Emil und die Detektive“ bekannt wurde – einer Theaterfassung des zu dieser Zeit beliebten Romans gleichen Namens von Erich Kästner. Klein trat unter anderem auf den Bühnen des Berliner Theaters, des Jüdischen Theaters und des Kindertheaters des Kulturbundes auf. Außerdem spielte er eine tragende Rolle in „Dann schon lieber Lebertran“ (1931), einem Film von Max Ophüls, bevor seine Karriere unterbrochen wurde als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und Schauspieler jüdischer Herkunft mit einem Spielverbot belegten. Gerhard Klein wurde wie sein Bruder in Berlin geboren. Beide hatten nichts mit Polen zu tun und sprachen noch nicht einmal Polnisch. Die polnische Staatsbürgerschaft hatten sie durch ihren Vater, der aus der Nähe von Oświęcim (Auschwitz) stammte. Nichts desto trotz mussten sie Deutschland verlassen und sich in ein fremdes Land begeben.

Die polnische Staatsbürgerschaft und ihre deutsche Identität waren für viele Vertriebene charakteristisch, so auch für Marcel Reich-Ranicki, der Deutschland im Zuge der „Polenaktion“ mit 18 Jahren verlassen musste. Der spätere „Literaturpapst“ wurde 1920 in Włocławek geboren. Er sagte von sich selbst, er sei „ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude“. Polen verließ er im Alter von neun Jahren, als seine Familie, die unter Existenzproblemen litt, nach Berlin zog. Die Machtergreifung durch die Nazis war für Ranicki, wie für die anderen Juden auch, mit immer härteren Einschränkungen ihrer Rechte verbunden. Zwar wurde er 1938 noch zum Abitur noch zugelassen, doch sein Antrag auf Zulassung zum Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (nach dem Krieg „Humboldt-Universität“) wurde auf Grund seiner jüdischen Herkunft abgelehnt.

Einige Monate später klopfte die Polizei am 28. Oktober, kurz vor sieben Uhr morgens, an der Tür zu dem winzigen Zimmer in der Spichernstraße 16, im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Dem 18-jährigen Ranicki wurde die Anordnung mit der Auflage ausgehändigt, Deutschland innerhalb von 14 Tagen zu verlassen, doch sie wurde sofort ausgeführt. „Daß ich alles, was ich in dem kleinen Zimmer besaß, zurücklassen mußte, versteht sich von selbst. Nur fünf Mark durfte ich mitnehmen und eine Aktentasche. Aber ich wußte nicht recht, was ich in ihr unterbringen sollte. Ich steckte in der Eile nur ein Reservetaschentuch ein und vor allem etwas zu lesen.“[20]

Anfangs vermutete Ranicki noch, dass jemand ihn denunziert hatte – so unrealistisch erschien ihm die grundlose Festnahme. Dann erfuhr er, dass der einzige „Grund“ in seiner polnischen Herkunft lag. In seiner Jahrzehnte später erschienen Autobiographie „Mein Leben“ beschreibt der berühmte Literaturkritiker seine Leidensgenossen wie folgt: „Es waren Juden und nur Männer, alle älter als ich, der Achtzehnjährige. Sie sprachen tadellos Deutsch und kein Wort Polnisch. Sie waren in Deutschland geboren oder als ganz kleine Kinder hergekommen und hier zur Schule gegangen. Doch hatten sie allesamt, das erfuhr ich bald, aus irgendwelchen Gründen einen polnischen Paß – ebenso wie ich.“[21]

Dank der Memoiren von Marcel Reich-Ranicki ist eine der detailliertesten Schilderungen der Judentransporte erhalten geblieben: „Wohin der Zug fuhr, sagte man uns nicht, doch bald war klar, daß die Fahrt in Richtung Osten ging, also zur polnischen Grenze. Wir froren, denn die Waggons waren nicht geheizt, aber jeder hatte einen Sitzplatz. Verglichen mit späteren Transporten waren es noch menschliche, ja nahezu luxuriöse Bedingungen. (…) An der deutschen Grenze mußten wir aus den Waggons stiegen und uns in Kolonnen aufstellen. Es war vollkommen dunkel, man hörte laute Kommandos, zahlreiche Schüsse, gellende Schreie. Dann kam ein Zug an. Es war ein kurzer polnischer Zug, in den uns die deutschen Polizisten brutal hineinjagten. In den Waggons war es drängend voll. Sofort wurden die Türen kräftig zugeschlagen und plombiert, der Zug fuhr ab.[22]

Die Züge mit den Vertriebenen aus Deutschland liefen in Beuthen (Bytom), Konitz (Chojnice) und Kreuz (Krzyż) ein. Für die meisten deportierten Juden ging die Fahrt zur Endstation in Zbąszyń weiter, dem kleinen Städtchen, das nach der Wiederentstehung des polnischen Staates direkt an der Grenze zu Deutschland lag. Die ersten Züge kamen noch über die Grenze, da die Polen vollkommen überrumpelt waren: die aufkommende Ausweisungswelle wurde weder dem Grenzschutz noch den Behörden der grenznahen Ortschaften angezeigt. Als jedoch immer mehr Züge kamen, weigerte sich die polnische Seite zunächst, sie nach Polen einzulassen, so dass sie einige Kilometer vor der Grenze, im sogenannten Niemandsland, halten mussten. Von dort aus wurden die Juden durch Wälder und Sümpfe Richtung Polen gejagt – begleitet von Drohungen und unter Beschuss der Nazis. „Wir wussten weder wohin uns dieser Weg führt, noch wie unser weiteres Schicksal aussieht. Stunden später erblickten wir in der Ferne einen weiß-roten Schlagbaum quer über dem Weg und als wir näher kamen – eine polnische Fahne. In der Nähe der Grenze gab es Sümpfe und schlammige Feuchtgebiete auf beiden Seiten des Wegs. Das war das „Niemandsland“ zwischen Deutschland und Polen. Plötzlich begannen die Deutschen auf die lange Judenkolonne – Männer, Frauen und Kinder – zu schießen. Wir flüchteten in die Feuchtgebiete. Mein Vater zog mich herunter und drückte meinen Kopf tief in den Schlamm. In dem Augenblick dachte ich, mein geliebter Vater würde mich ertränken! Schließlich hörten die Schüsse auf. Schlammverklebt krochen wir langsam aus den Sümpfen heraus, durchwateten den Fluss und erreichten das polnische Staatsgebiet. Sechs polnische Grenzbeamte – mehr waren es nicht, die den bewaffneten deutschen Soldaten gegenüberstanden.“[23] So berichtete der damals 9-jährige Willi Najman, den die deutsche Polizei aus einer Hamburger Schule holte und anschließend mit seiner ganzen Familie deportierte, seinen Weg nach Zbąszyń.

[20] Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, DVA, Stuttgart 1999, 4. Auflage, S. 157.

[21] Ebenda, S. 158.

[22] M. Reich-Ranicki, Mein Leben..., S. 159.

[23] Do zobaczenia za rok w Jerozolimie..., S. 162.