Wiarus Polski – Eine polnische Zeitung aus dem Ruhrrevier
Der „Wiarus Polski“ als Teil einer politischen Strömung
Der „Wiarus Polski“ als effektiver und einflussreicher Organisator nationalpolnischen Lebens im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war bereits mehrfach Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.[1] Deutlich wurde dabei aber nicht, dass er Teil eines politischen Konzepts aus dem Milieu der Ruch Ludowy (Volksbewegung) war und wie dieses aussah. Man muss aber, wenn man „Wiarus Polski“ liest, dieses Milieu mitdenken.
Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene Ruch Ludowy war Teil einer Neuorientierung unter nationalbewussten Polinnen und Polen in allen drei Teilungsgebieten. Sie betonten nach den gescheiterten Aufständen für die Wiederherstellung eines polnischen Staates den Vorrang für den Aufbau von polnischen Wirtschafts-, Gesellschafts- sowie Bildungsorganisationen, um eine polnische Infrastruktur und ein Nationalbewusstsein unter der polnischsprachigen Bevölkerung zu entwickeln. Der Katholizismus war dabei ein unverzichtbarer Bestandteil. Man war sich bewusst, dass sich nur ein relativ geringer Teil der polnischsprachigen Katholiken als Polinnen und Polen im nationalen Sinne verstand und bereit war, aktiv für einen eigenständigen polnischen Staat einzutreten. Deshalb musste perspektivisch v. a. die Land- wie auch die abhängig beschäftigte Bevölkerung der Städte vom Polentum überzeugt werden. Die sich als Teil dieser politischen Neuorientierung entwickelnde Ruch Ludowy lehnte darüber hinaus die althergebrachte ständische Gesellschaft ab. Sie forderte für die bisher am Rande der politischen Bedeutung stehenden Schichten der Bevölkerung das gleiche Recht und dieselben Möglichkeiten, sich in einer Gesellschaft zu entwickeln, wie das für die bisher vorherrschenden Schichten galt. Um ihre Interessen wirksam vertreten zu können, müssten sich diese eigenständig organisieren. Mit dieser Positionierung stellte sie sich in Gegensatz zu der mit der traditionellen nationalen Elite verbundenen Nationaldemokratie, zu der auch Teile der katholischen Kirchenhierarchie gehörten, wie auch zu der sich mehr und mehr herauskristallisierenden Christdemokratie.
Vom religiös-polnischen Blatt unter Pfarrer Liss ...
Ursprünglich gründete 1890 Pfarrer Liss aus Westpreußen, der als katholischer Seelsorger für die polnischsprachigen Katholiken im entstehenden Ruhrrevier eingesetzt worden war, den „Wiarus Polski“. Er wollte mit dieser in polnischer Sprache erscheinenden Zeitung den sich in der neuen Umgebung fremd fühlenden Menschen religiösen Halt, darüber hinaus aber auch gesellschaftliche Orientierung geben. Um das zu erreichen, musste man, so Liss im Herbst 1892, den Menschen im Ruhrgebiet „ein politisches Blatt an die Hand geben – und eine religiöse Zugabe als Würze. Anders würde sich ein religiöses Blatt gar nicht halten.“[2] Diese Äußerung wie auch die Wahl des Namens verdeutlicht bereits den Charakter, der den „Wiarus Polski“ von Beginn an auszeichnete: Einerseits war er eine Zeitung für die polnischsprachigen katholischen Arbeiter und sollte sie vor religiöser und moralischer Verwahrlosung sowie vor der erstarkenden Sozialdemokratie bewahren, andererseits war er gerade deshalb von Beginn an eine am gesellschaftlichen Tagesgeschehen orientierte Zeitung. Darüber hinaus drückte er aber auch, deutlich erkennbar an seinem Namen, einen nationalen ‚Auftrag‘ aus. Dieser bestand darin, sich für ein Wiedererstehen Polens einzusetzen. „Wiarus, ins Deutsche etwa übersetzbar mit „altgedienter, tapferer Soldat, Veteran, alter Krieger“ symbolisiert das Paradigma des in der Zeit der polnischen Romantik entstandenen polnischen Kämpfers, der nach den Teilungen Polens (1772-1795), vorwiegend aus dem Exil heraus, unermüdlich auf zahlreichen Schlachtfeldern und als Krieger in unterschiedlichen nationalen Armeen für die Wiedergeburt Polens kämpfte.“[3] Der „Wiarus Polski“ wandte sich an die wachsende Zahl polnischsprachiger Katholiken, die aus verschiedenen Regionen und Orten des preußischen Ostens in das sich herausbildende Ruhrrevier zur Arbeit gekommen waren. Die große Mehrheit fühlte sich als Ermländer, Oberschlesier, Posener usw. und war in der neuen Umgebung stark verunsichert. Die Selbstbewussteren unter ihnen gründeten deshalb, meist mit Unterstützung der örtlichen deutschen Pfarrer, polnisch-katholische Arbeitervereine, die ähnliche soziale und kulturelle Funktionen erfüllten wie die landsmannschaftlichen Vereine der deutschsprachigen Zuwanderer. Die Menschen der verschiedenen Regionen verband aber über die polnische Sprache und den katholischen Glauben hinaus kein umfassendes kulturell-ethnisches oder gar nationales Bewusstsein. Wollte man das vorhandene Regionalbewusstsein, das mit dem der zugewanderten deutschsprachigen Menschen beispielsweise aus Hessen, Saarland, Bayern oder Paderborner Land vergleichbar war, zu einem einheitlichen Nationalverständnis entwickeln, musste es überwunden und zugunsten eines gemeinsamen Paradigmas „Ich bin katholisch und Polin!“ bzw. „Ich bin katholisch und Pole!“ ersetzt werden.
Pfarrer Liss versuchte, den Regionalismus zu überwinden, indem er die katholische Religiosität zusammen mit der polnischen Sprache als einigendes Band unter diesen Menschen zu bewahren sowie zu stärken bemüht war. Ausdruck davon war die unter dem Zeitungstitel platzierte Losung „Bete und arbeite!“ (Módl się i pracuj!). Die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins war zunächst nachrangig, wurde aber durch die Vorstellung polnischer Nationalhelden und Feiertage, der Organisierung von Festen zu ihrem Gedenken wie auch durch den Abdruck polnischer Literatur gefördert. Sie war aber noch keine politische Losung. Deutlich wurde das durch die Feststellung in der ersten Ausgabe des „Wiarus Polski“, dass ein Pole im Westen bei Wahlen nur dem „Zentrum“ seine Stimme geben könne, da diese eine katholische Partei sei.[4] Polnische Kandidaten aufzustellen, um das nationale Bewusstsein zu entwickeln, wie das nach der Jahrhundertwende geschah, stand noch nicht zur Debatte.
[1] z. B. Christoph Kleßmann, Der „Wiarus Polski“ – Zentralorgan und Organisationszentrum der Polen im Ruhrgebiet 1891-1923, in Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark, Bd. 69, 1974, S. 383-397; Adam Gusowski, Wiarus Polski, www.portapolonica.de/de/Atlas-der-Erinnerungsorte/wiarus-polski
[2] Zit. nach Krystyna Murzynowska, Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, Dortmund 1979, S. 107
[3] Jacek Barski, „Odezwa do Polaków w Herne i okolicy!” Aufruf an die Polen in Herne und Umgebung, in Wölk, Ingrid (Hg.), Hundert sieben Sachen, Bochumer Geschichte in Objekten und Archivalien, Essen 2017, S. 249
[4] Murzynowska, a.a.O., S. 95