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Generationsübergreifend – Polnische Kunst in Marl 6. März bis 12. Juni 2016

Ausstellung im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl.

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  • Abb. 1: Katarzyna Kobro - Frauenakt, 1948.
  • Abb. 2: Władysław Strzemiński - Gelber Stuhl, ca. 1948.
  • Abb. 3: Edward Krasiński - Intervention, 1985; Würfel mit blauem Klebeband, o.J.
  • Abb. 4: Edward Krasiński - Kreuz, 1981/82.
  • Abb. 5: Alina Szapocznikow - Fajrant (dt. Feierabend), 1973.
  • Abb. 6: Teresa Murak - Objekt 3, 1975.
  • Abb. 7: Józef Robakowski - From My Window 1978-1999, 2000.
  • Abb. 8a: Józef Robakowski - Idle Line, 1992.
  • Abb. 8b: Józef Robakowski - Idle Line, 1992.
  • Abb. 9: Józef Robakowski - Termogram, 2001.
  • Abb. 10: Ryszard Waśko - Vier Filme, ab 1972.
  • Abb. 11: Ryszard Waśko - Cut-up Portrait 4, 1973.
  • Abb. 12: Ryszard Waśko - Four-Dimensional Photography, 1972.
  • Abb. 13: Ryszard Waśko - Black Film No. 3, 1983.
  • Abb. 14: Ryszard Waśko - Ausstellungsansicht.
  • Abb. 15: Ryszard Waśko - Dark into Light 2, 1987.
  • Abb. 16: Ryszard Waśko - Black to White / Holistic Painting, 1988.
  • Abb. 17: Ryszard Waśko - Time Sculpture at Black Paint, 1986.
  • Abb. 18: Wilhelm Sasnal - Tonbandspulen, 1999.
  • Abb. 19: Wilhelm Sasnal - Mann mit Kind, 2001.
  • Abb. 20: Wilhelm Sasnal - Developing Tank, 2015.
  • Abb. 21: Marlena Kudlicka - the weight of 8, 2013.
  • Abb. 22: Paweł Książek - Gemälde, Ausstellungsansicht.
  • Abb. 23: Paweł Książek - Spatial Construction No. 30, 2011.
  • Abb. 24: Paweł Książek - Gemälde, Ausstellungsansicht.
  • Abb. 25: Natalia Stachon - Dawn Words Falling, 2015.
  • Abb. 26: Natalia Stachon - Parade of Remains, 2014.
  • Abb. 27: Natalia Stachon - The History of Aberrations 03, 2014.
  • Abb. 28: Agnieszka Polska - How the Work Is Done, 2011.
  • Abb. 29: Agnieszka Polska - I Am the Mouth, 2014.
Generationsübergreifend – Polnische Kunst in Marl 6. März bis 12. Juni 2016
Ausstellung im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl.

Unter den Arbeiten der älteren Generation, die alle aus der Sammlung Jerke stammten und die in dieser Ausstellung die inhaltlichen und künstlerischen Entwicklungslinien für die nachfolgenden Generationen vorgaben, bildeten zwei weibliche „Akte“ von Katarzyna Kobro (1898-1951), Gipsplastiken von 1948 mit einer Höhe zwischen zwanzig und dreißig Zentimetern (Abb. 1), mindestens für den deutschen Besucher eine Sensation. Denn Kobro ist international eigentlich für ihre konstruktivistischen, vom russischen Suprematismus abgeleiteten „Raumkompositionen“ (Kompozycje Przestrzenne) der 1920er-Jahre aus geschweißtem und bemaltem Stahl bekannt. Seit 1925 schuf sie jedoch auch eine Serie kubistischer Kleinplastiken, sämtlich Akte, über die ihr Ehemann Władysław Strzemiński (1893-1952) urteilte, sie stünden Arbeiten von August Zamoyski nahe, „nur seien sie besser“. Einige von ihnen sind im Kunstmuseum in Łódź (Muzeum Sztuki w Łodzi) erhalten. 1948, kurz bevor Kobro ihre künstlerische Arbeit aufgab, entstand noch einmal eine Serie solcher „Akte“, die expressive Kraft und Dynamik, aber auch noch die kubistischen Wurzeln erkennen lassen. Zu ihnen gehören die beiden Stücke aus der Sammlung Jerke. Von Strzemiński selbst waren in der Ausstellung zwei figürliche Zeichnungen vom Ende der Dreißigerjahre zu sehen, als er den „Unismus“ schon lange aufgegeben hatte und sich auf biomorphe Formen mit festen Umrissen konzentrierte. Sein „Gelber Stuhl“ von 1948 wirkt wie eine Hommage an die konstruktivistischen Arbeiten seiner Frau (Abb. 2).

Obwohl in dieser Ausstellung zum Kern der älteren Künstlern gerechnet, gehören Edward Krasiński (1925-2004) und Alina Szapocznikow (1926-1973) eigentlich schon der nächsten Generation an. Denn beide konnten ihr Studium erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnen. Krasiński „ist einer der wenigen authentischen Neuerer in Polen“, urteilte Wojciech Skrodzki 1977 in einem Standardwerk über die „Polnische Bildhauerkunst der Gegenwart“. Bis heute gilt Krasiński als einer der wichtigsten Protagonisten der polnischen Neo-Avantgarde der Sechziger- und Siebzigerjahre. Seine künstlerischen Wurzeln liegen einerseits im polnischen Konstruktivismus, den Henryk Stażewski (1894-1988) mit begründete und mit dem er bis zu dessen Tod zusammen wohnte, andererseits gehörte er zur 1948 gegründeten Krakauer Gruppe (Grupa Krakowska II) um Tadeusz Kantor (1915-1990), an dessen Happenings er Mitte der Sechzigerjahre teilgenommen hatte. Sein international bekanntes Markenzeichen wurde das hellblaue Scotch-Klebeband, das er seit 1968 auf Wänden, Objekten und in Ausstellungen montierte oder bei künstlerischen Aktionen um Menschen und Bäume wickelte. Mit ihm gestaltete er aber auch konstruktivistische Objekte wie die aus der Sammlung Jerke (Abb. 3). Seine Plastik „Kreuz“ wirkt zwar ebenfalls streng konstruktivistisch, gehört aber zu einer Gruppe von Objekten, die die „Speere“ der Sechziger‑ und die „Kreuze“ vom Beginn der Achtzigerjahre umfasst. Sie sind wie die Objekte und Installationen von Kantor mit Bedeutungen aufgeladen und sollen „Energien freisetzen“ (Abb. 4). Alina Szapocznikow, die fünf Ghettos und Konzentrationslager überlebte, studierte Bildhauerei in Prag und an der Ecole des beaux-arts in Paris. Seit 1951 in Polen, schuf sie stark abstrahierte figürliche Skulpturen. Seit ihrer Rückkehr nach Paris 1963 schloss sie sich dem Nouveau Réalisme um den Kunstkritiker Pierre Restany und die Künstler Arman, Daniel Spoerri und Niki de Saint Phalle an. Seitdem beschäftigte sie sich mit Abgüssen von Körperteilen in Polyurethan, in die sie Alltagsobjekte einfügte und die sich seit ihrer Krebserkrankung 1968 auf Krankheitssymptome und Relikte ihres eigenen Körpers bezogen. Kurz vor ihrem Tod entstand 1973 das Objekt „Fajrant“ (dt. Feierabend) aus der Sammlung Jerke (Abb. 5). 

Von diesem zum benachbarten Objekt, dem nur ein Jahr später entstandenen ebenfalls aufrecht stehenden und in Epoxidharz gegossenen Handschuh („Objekt 3“) der neunzehn Jahre jüngeren Teresa Murak (*1945), zeigte sich der Ausstellung der Sprung zur mittleren Generation (Abb. 6). Anders als das Stück von Szapocznikow ist die Arbeit von Murak eigentlich kein künstlerisch gestaltetes Objekt mehr, sondern das konservierte Dokument eines Prozesses. Murak, die von 1970 bis 1976 an der Akademie in Warschau unter anderem bei Jan Tarasin studiert hatte, begann 1972 mit Kressesamen zu arbeiten, die sie auf Kleidungsstücken an ihrem eigenen Körper – oder eben auf dem für „Objekt 3“ verwendeten Handschuh – zum Keimen brachte und damit der Natur zu einer neuen Ausdrucksform verhalf. Murak repräsentiert für Polen den Übergang von der Objekt- zur Prozesskunst und die Einführung neuer Materialien am Beginn der Siebzigerjahre.

Die mittlere Generation der Ausstellung wurde auch durch die Experimentalfilm‑ und Videokünstler Józef Robakowski (*1939) und Ryszard Waśko (*1947) repräsentiert, die am Anfang der 1970er-Jahre gemeinsam in der Filmklasse der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Łódź (Państwowa Wyższa Szkoła Filmowa, Telewizyjna i Teatralna im. Leona Schillera w Łodzi) studierten. Robakowski, eine der Schlüsselfiguren der osteuropäischen Videokunst und in Deutschland mit Arbeiten unter anderem im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe und im Neuen Berliner Kunstverein vertreten, analysiert in seinen Werken die Sprache der Medienkunst. Sein künstlerischer Zugang ist vom Konstruktivismus und von der Neo-Avantgarde der Sechzigerjahre geprägt. Zu sehen war einer seiner bekanntesten Filme, „From My Window“, eine filmische Chronik, in der er seit 1978 Alltagsszenen aus dem Küchenfenster seiner Wohnung im Zentrum von Łódź  aufnahm, die durch das Spannungsverhältnis zwischen dem konstanten Ort und dem kontinuierlichen Wechsel der politischen und sozialen Ereignisse absurd erscheinen. Er beendete die Aufnahmen 1999, als die Stadtverwaltung beschloss, dass auf dem bislang gefilmten Platz ein Fünf-Sterne-Hotel errichtet werden sollte (Abb. 7). Von ihm war außerdem eine 35mm-Film-Installation zu sehen, bei der eine auf das Filmmaterial aufgebrachte Linie sich in der Projektion über die Leinwand schlängelt, während sich auch der Film selbst, mehrfach umgeleitet, schlangenförmig durch den Raum bewegt (Abb. 8a, b). Diese und auch die Arbeit „Termogram“ (2001) aus einer Serie über mehrere Jahre entstandener Werke auf wärmeempfindlichem Papier (Abb. 9) dokumentieren Robakowskis zugleich konstruktiven und spielerischen Umgang mit der Medienkunst.

Waśko war mit dreizehn Arbeiten, die eine große Bandbreite seines Schaffens abdeckten, einer der zentralen Künstler der Ausstellung. Die frühesten Arbeiten, die zu sehen waren, stammen noch aus seiner Zeit an der Staatlichen Filmhochschule in Łódź 1970-1975, während der er auch Mitglied der Werkstatt für Filmform (Warsztat Formy Filmowej) wurde –eine der wichtigsten polnischen Künstlergruppen in den Siebzigerjahren, in der Maler, Filmemacher, Kritiker, Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler sich mit Experimentalfilm und Multimedia beschäftigten. Die ab 1972 entstandenen Filme „Space out of“, „A Corner 1-2“, „?????“ und „Soundline“, alles Leihgaben der polnischen Galerie Żak|Branicka in Berlin, waren auf historischen Röhrenbildschirmen zu sehen. In ihnen lotet der Künstler das Verhältnis zwischen Raum und Zeit, Kamera und Bildschirm, Film und Gefilmtem, der eigenen Person und dem Betrachter in minimaler räumlicher Distanz aus (Abb. 10). In der ebenfalls frühen Fotoarbeit „Cut-up Portrait 4“ (1973) überwindet er in zusammengeschnittenen Fotostreifen die Distanz zwischen Fernsichten und Nahaufnahmen des eigenen Bildnisses (Abb. 11). 

Waśko, 1947 in Nysa geboren, hatte bereits 1976 und 1981 Einzelausstellungen in der Bochumer Galerie m (gegründet 1968 von Alexander von Berswordt-Wallrabe als Galerie für Neue Konkrete Kunst, Fotografie, Film und Video) und war 1977 auf der documenta 6 in Kassel vertreten. Aus dem Lager der Galerie waren in der Ausstellung, von Waśko selbst ausgewählt, eine Serie von Fotos, Text und schematischen Darstellungen mit dem Titel „Four-Dimensional Photography“ (oder ausführlicher: „A theory of a four-dimensional photography – the empirical photographic/verification /proof/ of the permanence of a time-space section“, 1972, Abb. 12) zu sehen sowie zwei Serien von Tusche- und Bleistiftzeichnungen, „Hypothetical Photography“ (1978) und „Hypothetical Film“ (1979), die sich ebenfalls mit der Bestimmung von Fotografie bzw. Film zum Raum beschäftigen und die den Übergang des Künstlers zur Konzeptkunst markieren.

1983, im dritten Jahr des Kriegsrechts in Polen, emigrierte Waśko zunächst nach England und ging schließlich nach Deutschland, wo er sich mit einem DAAD-Stipendium in Berlin niederließ. Bis 1990 lehrte er unter anderem an der Kunstakademie Düsseldorf, der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, der Universität der Künste in Berlin und der Folkwang Universität der Künste in Essen. Neben Einzelausstellungen unter anderem 1984 im  Kunstverein in Kassel und 1986 im Neuen Berliner Kunstverein nahm er an zahlreichen Gruppenausstellungen in Deutschland teil und profilierte sich während dieser Zeit als Maler. In der Ausstellung waren vier Gemälde zu sehen, darunter „Black Film No. 3“ (Abb. 13) und „Yellow Film No. 1“ (beide 1983, Abb. 14), in denen er abstrahierte Filmstreifen zu Flächenkompositionen verarbeitete. Seine abstrakten Gemälde „Dark into Light 2“ (1987, Abb. 15) und „Black to White/Holistic Painting“ (1988, Abb. 16) greifen auf die Tradition des polnischen Konstruktivismus der Gruppe Blok mit Katarzyna Kobro und Władysław Strzemiński zurück und zeigen rhythmisch mäandrierende Bänder in einem kaum wahrnehmbaren Relief. Die Bodenskulptur „Time Sculpture at Black Paint“ (1986), die während der Ausstellung in der Schausammlung des Skulpturenmuseums Glaskasten Marl zu sehen war (Abb. 17), zeigt ebenfalls in feinstem Relief 35mm-Filmstreifen auf einer schwarzen Fläche, die rhythmisch und in zeitlichen Intervallen von roten Stäben unterbrochen werden und so das zeitliche Phänomen des Films in die dritte Dimension der Skulptur übertragen. Waśko war von 1990 bis 1992 Programmdirektor des P.S.1 Museum and Institute of Contemporary Art (heute MoMA PS1) in New York. 1993 bis 2008 war er in verschiedenen Funktionen in Łódź tätig, unter anderem als Präsident des 1990 von ihm mit gegründeten International Artists' Museum. Seit 2008 lebt er wieder in Berlin.

Wilhelm Sasnal, geboren 1972 in Tarnów, wo er bis heute lebt und arbeitet, führte in der Ausstellung die jüngere Generation der in den Siebziger‑ und Achtzigerjahren geborenen Künstlerinnen und Künstler an. Eigentlich Maler von der Akademie der bildenden Künste in Krakau (Akademia Sztuk Pięknych im. Jana Matejki w Krakowie), wurden seine Gemälde aus der Zeit bis 2001, während der er der Künstlergruppe Ładnie angehörte, gelegentlich als „Pop-Banalismus“ kategorisiert. Sich selbst bezeichnet er als Realist ­mit starkem Interesse für die Objekte und Medien seiner beziehungsweise unserer Zeit. In der Ausstellung repräsentierte Sasnal mit zwei Gemälden aus der Sammlung von Werner Jerke, „Tonbandspulen“ (1999, Abb. 18) und „Mann mit Kind“ (2001, Abb. 19), eine ähnliche Verbindung zwischen Medien‑ und bildender Kunst wie der eine Generation ältere Waśko. Dass sich Sasnal den Traditionen der polnischen Kunst verpflichtet fühlt und damit im Sinne der Ausstellung ein Bindeglied zwischen der älteren und der jüngeren Generation darstellt, zeigte sein neuester Videofilm „Developing Tank“ (2015) als Leihgabe der Berliner Johnen Galerie. In einer verwirrenden Melange aus biographischen und historischen Bezügen, Gegenwart, Vergangenheit und Fiktion entspinnt sich um das Auffinden eines nicht entwickelten Films eine Geschichte zwischen dem Protagonisten und dessen verstorbenem Vater. In historischen Sequenzen konfrontiert Sasnal die Erforschung und Bedeutung des Lichts (nicht nur als Medium der Filmentwicklung), zuletzt mit der Geschichte von Władysław Strzemiński,  der 1948/49 optische Eindrücke des Sonnenlichts in abstrakte Kompositionen übertrug. Während der Sohn in der finalen Atelierszene ein Buch über den polnischen Konstruktivisten studiert (Abb. 20), ist der Vater als Maler in seinem Bilderlager zu sehen. 

Die Auswahl der jüngeren Künstler war, so Georg Elben, vor allem der Ausrichtung des Marler Museums auf Skulptur, Video‑ und Klangkunst geschuldet. Marlena Kudlicka, geboren 1973 in Tomaszów Lubelski und in Berlin ansässig, war bereits in dem Ausstellungsprojekt „Skulptur 2015“ des Museums vertreten. Im Frühjahr 2016 war eine Einzelausstellung von ihr im Rahmen des Projekts „Breslau – Berlin 2016 Europäische Nachbarn“ im Museum für zeitgenössische Kunst in Breslau (Muzeum Współczesne Wrocław) zu sehen. Absolventin der Kunstakademie in Poznań (Akademia Sztuk Pięknych w Poznaniu), stehen ihre in der Schlosserwerkstatt gefertigten Rauminstallationen, Skulpturen und Wandcollagen in der Tradition des Konstruktivismus und der Konkreten Poesie von Stanisław Dróżdż (1939-2009). In ihrer Installation „the weight of 8“ (2013) – in der Marler Ausstellung als Leihgabe der Galerie Żak|Branicka – ist die typographische Collage, die sich auf der Wand entwickelt, mit einer dreidimensionalen graphischen Zeichnung aus im Raum verspannten Metallstäben verbunden (Abb. 21).

Der gleichaltrige Paweł Książek (*1973 in Andrychów) war vorwiegend mit Malerei, aber auch mit einem Video-Loop vertreten. Nach seinem Studium an der Kunstakademie in Krakau und einem DAAD-Stipendium an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main lebt und arbeitet er in Krakau. Ähnlich wie Sasnal verarbeitet er in seiner Malerei Fotografien, Filme, Fundstücke, Musik und Material aus dem Internet und ist insofern durchaus als Medienkünstler zu verstehen. Den bedeutendsten Teil seiner Arbeit investiert er in die Recherche ikonografischer Motive, die er dann in eine klassische, technisch ausgefeilte und am Realismus geschulte Malerei umsetzt. Zu sehen waren unter anderem Gemälde und der Video-Loop nach den „Raumkonstruktionen“ des russischen Avantgarde-Künstlers Alexander Rodtschenko (1891-1956) aus den Jahren 1918 bis 1921, die heute (bis auf ein Exemplar im Museum of Modern Art in New York) nur noch von historischen Fotografien und aus dessen Skizzenbüchern bekannt sind (Abb. 22, 23). Außerdem war eine Serie von weiblichen Porträts ausgestellt, die Książek als nummerierte „Figuren“ anonymisiert und die sämtlich den Blickkontakt mit dem Betrachter vermeiden (Abb. 24).

Auftakt und Blickfang der Ausstellung bildeten Skulpturen und graphische Arbeiten von Natalia Stachon (*1976 in Kattowitz), die an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich studierte und heute in Berlin lebt und arbeitet. Seit 2015 unterrichtet sie an der HfbK in Hamburg. Auch sie sieht ihre Wurzeln in den visionären Raumkonzepten der russischen und polnischen Avantgarde der 1920er-Jahre, die sie aber über die Konkrete Kunst und Minimal Art weiterverfolgt. Stachon, die ebenso wie Kudlicka ihre Arbeiten in der Ausstellung selbst aufgebaut hat, arbeitet bei ihren Skulpturen (Abb. 25, 26) mit räumlichen Dimensionen, architektonischen Setzungen und einer rhythmischen Sprache materieller Formen, die der Minimal Art nahesteht. In ihren fotografisch exakten Kohlezeichnungen (Abb. 27) kehren ähnliche skulpturale und räumliche Situationen in geheimnisvollen Alltagsszenen wieder.  

Neben den Filmen von Robakowski und Sasnal stammte der dritte sehr persönlich und auf hohem Niveau mit historischem Bezug erzählte Videofilm der Ausstellung von Agnieszka Polska, die 1985 in Lublin geboren wurde und zuletzt in Krakau und Berlin lebte. Die Videokünstlerin und Fotografin, von der allein sieben Filme auf der Online-Filmothek des Museums für Moderne Kunst in Warschau (Muzeum Sztuki Nowoczesnej w Warszawie) zu sehen sind, erzählt unter dem Titel „How the Work Is Done“ (2011) in einer Art Neuinszenierung am selben Schauplatz, nämlich in den Ateliers der Krakauer Kunstakademie, an der sie selbst von 2005 bis 2010 studierte, über einen Studentenstreik an der Hochschule im Jahr 1956 (Abb. 28). Während sich die Studenten weigern zu arbeiten oder zu gehen, verwandelt sich deren Keramikwerkstatt während zehn Tagen in einen vorübergehenden Wohn‑, Schlaf‑ und Küchenraum. Erst als die studentischen Wachen eines Nachts müde werden, stürmt die Polizei das Gebäude, räumt es und wirft allen beweglichen Inhalt auf die Straße, bevor es einige Zeit später abgerissen wird. Ähnlich wie in Robakowskis Video „From My Window“ (1978-1999) lebt auch Polskas Arbeit von der Spannung, die aus dem Gegensatz zwischen politisch unterschiedlichen Zeiten und wenig veränderten menschlichen und künstlerischen Empfindungen entsteht. In einem ihrer neuesten Videos, „I Am the Mouth“ (2014), das 2014/15 auf ihrer gleichnamigen und ersten Einzelausstellung in Großbritannien im Nottingham Contemporary zu sehen war, zeigt sie einen animierten und meditativ wirkenden, halb im Wasser untergetauchten Mund, der für das Kunstwerk spricht (Abb. 29). Beeinflusst von Samuel Becketts auch „One-Mouth-Play“ genanntem dramatischem Monolog „Not I“ (1972) bezieht sich ihr Film auf wissenschaftliche Untersuchungen, wie sich Schallwellen durch unterschiedliche Materialien bewegen.

Georg Elbens Konzept, historische, inhaltliche und formale Bezüge in Längs- und Querschnitten zwischen drei oder besser vier Generationen polnischer Künstlerinnen und Künstler von der Avantgarde der Zwanzigerjahre bis in die jüngste Gegenwart sichtbar zu machen und mit qualitativ erstklassigen Werke zu belegen, war sicherlich aufgegangen. Mit Leihgaben aus in Deutschland ansässigen Sammlungen und Galerien war das, soviel sei abschließend bemerkt, vor allem für jene Besucher gelungen, die genügend Zeit, Kontemplation und eigene Recherche aufwenden konnten, diese zu entdecken. Ein Katalog, der weniger erfahrene Kunstinteressierte auf die richtigen Fährten hätte führen können, war aufgrund der kurzfristig anberaumten Ausstellungsreihe der in Bochum, Recklinghausen und Marl beheimateten Museen anlässlich der Eröffnung des Museums Jerke nicht zu realisieren.

 

Axel Feuß, Juni 2016