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Jesekiel David Kirszenbaum (1900–1954). Ein Bauhaus-Schüler

Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

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Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

„Was anderen Kindern erlaubt war, war für mich verboten“, schreibt Kirszenbaum in seinen Erinnerungen über Kindheit und Jugend in Staszów.[1] Da er als jüngstes Kind des Rabbi Natan Majer Kirszenbaum und dessen Ehefrau Alta, geborene Ledermann, dazu berufen war ebenfalls Rabbiner zu werden, sei es für ihn nicht schicklich gewesen, an den Spielen der anderen Kinder teilzunehmen. Im Cheder, der religiösen Grundschule, galt sein Interesse den phantastisch ausgeschmückten Geschichten des Chumasch, also der fünf gedruckten Bücher der Tora, und den Volkslegenden im Sefer ha-Jaschar, dem mittelalterlichen Buch des Aufrechten, während der Talmud und die zugehörigen Kommentare ihn eher langweilten. Er lebte in einer Traumwelt und sehnte sich nach phantasievollen Geschichten. Nachdem er im Alter von zehn und dreizehn Jahren seine beiden älteren Brüder durch Krankheit verloren hatte, verstiegen sich die Eltern in eine fanatische Religiosität, während er, anstatt sich im Beth Midrasch, dem Studiensaal, über den Talmud zu beugen, auf der Wiese lag, Tagträumen nachhing und über Dinge nachdachte, die nur in seinem Unterbewusstsein existierten.

Freude bereitete ihm das Leben der einfachen jüdischen Leute, die durchziehenden Musiker mit ihren Papageien, die an den jüdischen Festtagen aufspielten, die Lasten- und Wasserträger mit ihren farbenfrohen Gewändern. Es drängte ihn zu zeichnen, vor allem Porträts, was ihm wegen des jüdischen Bilderverbots nicht erlaubt war und wofür der Vater ihn schlug. Während des Ersten Weltkriegs erlebte er in Staszów durchziehende Kosaken und den an den Juden verübten Pogrom, österreichische und deutsche Truppen, plündernde und mordende Zaristen, die Juden mit sich fortnahmen. Mit 16 oder 17 Jahren begann er klassische jiddischsprachige Schriftsteller wie Jizchok Leib Perez (I.L. Peretz) und Spinoza zu lesen und wurde ein Epikoros, ein Kritiker der jüdischen Religion. Er trieb sich mit Freunden und Mädchen herum, wurde Mitglied der sozialistisch-zionistischen Hashomer-Hatzair-Jugend, wurde wieder von den Eltern geschlagen und floh zu Verwandten in ein Nachbardorf.

Zu den Eltern zurückgekehrt, begann er wieder Bücher zu lesen und zu zeichnen. Seine Porträts von jüdischen Ideologen, Theodor Herzl, Karl Marx und Wladimir Medem, hingen in den Clubs von Staszów und den umliegenden Orten, von jiddischen Schriftstellern, Mendele Moicher Sforim, Scholem Alejchem und Perez, in der örtlichen Bibliothek (Abb. 1 . ).[2] Ein zweiter Fluchtversuch galt dem Vorhaben, in Krakau Kunst zu studieren, scheiterte aber an der mangelnden Schulbildung und dem fehlenden Geld. Nach erneuter Rückkehr besserte sich das Verhältnis zu den Eltern. Als er 1920 während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs zur polnischen Armee eingezogen werden sollte, verkauften sie den gesamten Besitz, um ihm die Reise nach Będzin[3] an die Grenze zum preußischen Oberschlesien und die Flucht nach Deutschland zu ermöglichen.

Auf welchen Wegen Kirszenbaum schließlich ins Ruhrgebiet gelangte, ist unbekannt. Wie die über eine halbe Million Ruhrpolen, die seit der deutschen Reichsgründung dorthin ausgewandert waren, verdiente auch er sein Geld als Arbeiter im Bergbau, lebte, wie eine Postkarte an seine Familie belegt,[4] seit 1920 zur Untermiete in Duisburg. Nebenher erteilte er Hebräischunterricht, muss aber auch künstlerisch tätig gewesen sein. Denn der Kunsthistoriker August Hoff (1892-1971), später Direktor des Duisburger Kunstmuseums, wurde auf Kirszenbaum aufmerksam, drängte ihn, ein Kunststudium aufzunehmen und vermittelte ihn offenbar an das Staatliche Bauhaus in Weimar. 1923 begann Kirszenbaum dort sein Studium im Vorkurs von Johannes Itten und besuchte während der folgenden drei Semester Kurse bei Wassily Kandinsky und Paul Klee. Kandinsky habe ihn mit der Klarheit seiner Gedanken am meisten beeinflusst, schrieb er später. Vor allem habe Kandinsky ihn, entgegen dessen eigenen künstlerischen Interessen, von einer formalistischen zur figürlichen Malerei gebracht.[5] Zu Klee soll er eine kollegiale Verbindung gepflegt haben. Klee habe ihn durch seine „innere Welt“ und die Vielfalt und Unendlichkeit seiner Traumbilder beeinflusst.[6] Als das Bauhaus zum Jahreswechsel 1924/25 auf politischen Druck hin aufgelöst und nach Dessau verlegt wurde, soll Kandinsky ihn als Kandidaten für eine Dozentenstelle am neuen Standort vorgesehen haben, was jedoch am Einspruch des Direktors, Walter Gropius, scheiterte.[7]

 

[1] Jechezkiel Kirszenbaum: Childhood and Youth in Staszów, in: J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 129

[2] Ebenda, Seite 155

[3] Ebenda, Seite 167 f.

[4] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 49

[5] Ebenda, Seite 48

[6] Ebenda, Seite 49

[7] Linsler 2013 (siehe Literatur), Seite 293. Linsler bezieht sich auf einen Aufsatz von Ernst Collin: J.D. Kirschenbaum, in: Ausstellungs-Katalog Galerie Fritz Weber, Berlin 1931 [Bauhaus-Archiv, Inv.-Nr. 2239], auf einen Aufsatz von Frédéric Hagen: J.D. Kirszenbaum = Ausstellungs-Katalog Galerie Karl Flinker, Paris 1961, sowie auf den Artikel von Hanna Bartnicka-Górska: Jecheskiel Dawid Kirszenbaum, in: Słownik Artystów Polskich i obcych w polsce działających. Malarze rzeżbiarze graficy, 3, Polska Akademia Nauk, Instytut Sztuki, Warschau 1979, Seite 412. Bei Ernst Collin (1886-1942 in Auschwitz ermordet) handelt es sich um den Berliner Buchbinder, Schriftsteller, Kunstredakteur und Antiquar, vergleiche https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/6661. Über Frédéric (Friedrich) Hagen siehe weiter unten.

Kirszenbaum ging stattdessen 1925 nach Berlin und arbeitete dort in den folgenden acht Jahren als freier Künstler. In Verbindung blieb er mit seinen Studienkollegen vom Bauhaus, dem Maler, Zeichner und Fotografen Paul Citroen (1896-1983), mit dem zusammen er im Vorkurs bei Itten studiert hatte, der aus Berlin stammte, dort ebenfalls ab 1925 als freischaffender Maler tätig war und 1927 über Paris und Basel nach Amsterdam ging, sowie mit dessen Schwägerin, Ruth Citroën (1906-2002),[8] geborene Margarete Vallentin, die bis 1923 in der Teppichweberei des Bauhauses gearbeitet hatte und 1925 den angehenden Berliner Pelzhändler Hans Citroen (1905-1985), Pauls Bruder, heiratete. Im Dezember 1925 erschien von Kirszenbaum in der Berliner Zeitschrift Gebrauchsgraphik. Illustratoren. Monatsschrift zur Förderung künstlerischer Reklame, offizielles Organ des Bundes Deutscher Gebrauchsgraphiker, die Radierung „Im Beth Hamedrasch“ (Abb. 7 . ), allerdings mit dem Titel „Illustrationen zu jüdischen Novellen“ und unter dem neuen Pseudonym „J. Duwdiwani“, dem hebräischen Wort für „Kirschbaum“, sowie der in Klammern hinzugesetzten deutschen Schreibweise des Nachnamens, „Kirschenbaum“.[9] Ansässig war der Künstler in Charlottenburg in der Kantstraße 114.[10] Im selben Jahr schuf er zahlreiche weitere Zeichnungen und Radierungen mit Szenen aus dem jüdischen Leben (Abb. 6 . , 8-10 . ).

Zum Jahresbeginn 1926 erhielt der Künstler den Auftrag, künftig für die Satirezeitschrift Ulk, einer selbstständigen Wochenschrift des liberalen Berliner Tageblatts, Illustrationen und Karikaturen zu liefern. Beide Organe erschienen im Berliner Verlagskonzern Rudolf Mosse und standen der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) nahe. Der Ulk existierte bereits seit 1872, von 1918 bis 1920 unter der Leitung von Kurt Tucholsky, und erschien bis 1922 als Gratisbeilage zum Berliner Tageblatt und zur Berliner Volks-Zeitung. Weil das Tageblatt ab 1926 Verluste erwirtschaftete, wurde der Ulk gelegentlich wieder kostenlos beigelegt. Die ersten vier Illustrationen von Kirszenbaum mit den Signaturen „D“ und „Duwdiwani“ erschienen am 19. Februar 1926, harmlose Gesellschaftssatiren, darunter ein „expressionistischer Politiker“,[11] zu denen für gewöhnlich die Redaktion die Texte und Bildunterschriften erfand. Während der über dreijährigen Zusammenarbeit erschienen bis zum 17. Mai 1929 29 Seiten im Ulk, auf denen eine oder mehrere satirische Illustrationen oder Karikaturen von Kirszenbaum abgedruckt waren (Abb. 15-31 . ).[12] Die Beendigung der Mitarbeit hatte vermutlich finanzielle Gründe, denn der Ulk galt zu diesem Zeitpunkt bereits als zahlungsunfähig.

Weitere Illustrationen von Kirszenbaum erschienen seit Juli 1926 in dem 1921 von Alfred Flechtheim gegründeten und seit 1924 von Hermann von Wedderkop bei Hermann Ullstein im Propyläen-Verlag herausgegebenen führenden Kultur- und Zeitgeist-Magazin Der Querschnitt.[13] Dies waren vor allem stilisierte Figuren in russischer oder jüdischer Tracht, die zu den jeweiligen literarischen Artikeln passten wie etwa zu dem Essay von Darius Milhaud, „Das musikalische Leben in Sowjetrussland“,[14] Mutter und Kind sowie eine Trinkszene in einem Artikel von Adam Olearius, „Die erste russische Revolution (1656)“,[15] ein Wasserträger im selben Text (Abb. 12 . ), ein Harmonikaspieler als Illustration zu einem Essay von S. Dimitrijewski, „Stalin – Aufstieg eines Mannes“ (Abb. 13 . ), und ein jüdischer Geiger, wie Kirszenbaum ihn aus seiner Zeit in Staszów kannte, in einer russischen Novelle von Ramon Gomez de la Serna, „Maria Wassiljewna“ (Abb. 14 . ). Insgesamt erschienen im Querschnitt zehn Illustrationen in den Jahren 1926, 1927, 1929 und 1931, zuletzt zwei vollwertige Karikaturen, „Der Stammtisch“ (Abb. 35 . ) und eine Zeichnung mit offiziell gekleideten alten Herren vor der alten Reichsflagge (Abb. 36 . ) zu der mehrseitigen Glosse „Matadore des Reichstags“ von einem Autor mit dem Pseudonym „O.B. Server“. Möglicherweise hatte die Redaktion des Querschnitts zu einem frühen Zeitpunkt ein ganzes Konvolut von Kirszenbaums Zeichnungen erworben, denn der Geiger aus Staszów (Abb. 14 ) und ein Bauer mit Schwein und Gänsen im Korb[16] sind in den schwer leserlichen Signaturen mit dem Kürzel „JDK“ offenbar „26“ datiert, erschienen jedoch erst 1929 und 1931 in passenden Zusammenhängen.

 

[8] Brief von Ruth Cidor-Citroën an das Goethe-Institut Paris vom 23.9.1969, Archiv Nathan Diament, Tel Aviv. Die freundschaftliche Verbindung belegen außerdem Briefe und Postkarten von Kirszenbaum an Paul Citroen in Amsterdam aus dem Jahr 1930 im Bauhaus-Archiv, Inv. Nr. 8034/119, 120, 122; ausführlich hierzu Goudz 2012 (siehe Literatur), Seite 533 f.

[9] Gebrauchsgraphik. Monatszeitschrift zur Förderung künstlerischer Reklame, Band 2, Heft 6, Berlin 1925, Seite 82, online-Ressource: https://www.arthistoricum.net/werkansicht/dlf/157261/88/?tx_dlf%5Bhighlight_word%5D=Kirschenbaum. Das Pseudonym ist dort fälschlich mit „Duwdiwam“ wiedergegeben.

[11] Ulk. Wochenschrift des Berliner Tageblatts, 55. Jahrgang, Nr. 8, 19.2.1926, Seite 62, online-Ressource: Universitätsbibliothek Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ulk1926/0062

[12] Die Suche in der Zeitschrift Ulk in den Heidelberger historischen Beständen, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ulk, hier Bände 1925-1930, ist nur Seite für Seite möglich, da eine Volltextsuche nicht zur Verfügung steht. Die Abbildungen in der unten angeordneten Mediathek zeigen nur eine Auswahl.

[13] Alle Illustrationen von Kirszenbaum in den Zeitschriften Gebrauchsgraphik und Der Querschnitt sind auf dem Webportal Illustrierte Magazine der Klassischen Moderne in der Volltextsuche unter den Stichwörtern „Kirschenbaum“ und „Duwdiwani“ zu finden, https://www.arthistoricum.net/themen/textquellen/illustrierte-magazine-der-klassischen-moderne/kollektion/suche/

[14] Der Querschnitt, Band 6, Heft 7, Berlin, Juli 1926, Seite 526, online-Ressource: https://www.arthistoricum.net/werkansicht/dlf/73192/48/?tx_dlf%5Bhighlight_word%5D=Kirschenbaum

[16] Der Querschnitt, Band 11, Heft 3, Berlin, März 1931, Seite 163, online-Ressource: https://www.arthistoricum.net/werkansicht/dlf/73271/31/?tx_dlf%5Bhighlight_word%5D=Kirschenbaum

Vermutlich durch Paul Citroen lernte Kirszenbaum den Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm und Leiter der Sturm-Galerie, Herwarth Walden (1878-1941), kennen. Citroen hatte schon 1917 für Walden neben der Galerie in der Potsdamer Straße 134a die Kunstbuchhandlung Der Sturm eingerichtet und war im selben Jahr als Repräsentant des Sturms in die Niederlande gegangen. Im August 1917 publizierte Citroen in der Sturm‑Zeitschrift einen expressionistischen Essay über Marc Chagall.[17] Kirszenbaum jedenfalls bekam im April 1927 von Walden eine umfangreiche Ausstellung in der Sturm-Galerie, in der er 71 Kohle-, Kreide-, Tusche- und Aquarellzeichnungen sowie neun Ölgemälde zeigen konnte und zu der einer der üblichen kleinen Kataloghefte mit drei Abbildungen erschien (siehe PDF 1). Die Kritik sah einen deutlichen Einfluss von Marc Chagall auf Kirszenbaums Arbeiten. Ernst Collin (1886-1942 in Auschwitz ermordet), einer der Schriftleiter der linksliberalen, der DDP nahestehenden und im Mosse-Verlag erscheinenden Berliner Volks‑Zeitung, schrieb am 30. April in der Feuilleton-Spalte des zweimal täglich erscheinenden Blattes, die Motive der Zeichnungen und Aquarelle würden dreierlei verraten: „Erstens, dass er Russe, zweitens, dass er Jude ist, und drittens ein Jünger seines Landsmannes und Glaubensgenossen Marc Chagall. Die Seele des russischen Gettos ist in seinen Blättern. Nicht müde wird er, von alten bärtigen Juden, die den Talmud lieben, zu erzählen. Im nervösen Strich seiner Zeichnungen, in der farbigen Andeutung bei den Aquarellen zeigt sich – trotz aller Gebundenheit an Chagall – doch auch die Selbständigkeit eines überlegten stilistischen Ausdrucks.“[18]

Auch wenn spätere Arbeiten von Kirszenbaum (Abb. 49 . ) einen deutlichen Einfluss von Chagall zeigen, so reichen die wenigen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg überlieferten Werke des Künstlers im Grunde nicht aus, um dies zu bestätigen. Sicher scheint, dass sich Kirszenbaum mit Chagall, den Walden 1913 in Paris kennen gelernt und der 1922/23 nur vorübergehend in Berlin gelebt hatte, durch die gemeinsame chassidische Herkunft verbunden fühlen konnte. Chagall schilderte neben vielen anderen Themen Rabbiner, Volkstypen und Szenen aus dem Alltag der Ostjuden. Im Mai 1917 erschienen in der Sturm‑Zeitschrift vier Zeichnungen von Chagall, von denen das Porträt eines Rabbis und eine Straßenszene mit einem Geiger[19] den späteren Arbeiten von Kirszenbaum, und zwar dem Gemälde „Disput“ im Sturm-Katalog (siehe PDF 1) und dem Geiger in der Zeitschrift Querschnitt (Abb. 14 . ), vom Sujet her verblüffend ähneln, stilistisch jedoch unterschiedlich sind. Bekanntestes Vorbild für Kirszenbaums Bildmotiv des am Tisch vor seinen Schriften sitzenden Rabbi dürfte jedoch Chagalls Aquarell „On dit“ aus dem Jahr 1921 gewesen sein, das in der Sturm‑Zeitschrift als Vierfarbendruck erschien[20] und seitdem vom Verlag Der Sturm durchgehend bis in die 1930er-Jahre als Kunstdruck vertrieben und in der Sturm-Zeitschrift beworben wurde.[21] Das Motiv entsprach bis auf geringe Abweichungen der ersten, 1912 entstandenen Fassung von Chagalls Gemälde „Der Rabbiner (Die Prise)“, dessen Zweitfassung aus dem Jahr 1926 von der Kunsthalle Mannheim angekauft, später von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, ab 1937 in der Ausstellung Entartete Kunst gezeigt und schließlich 1939 auf einer Auktion in Luzern vom Kunstmuseum Basel ersteigert wurde.[22]

Die Titel der von Kirszenbaum 1927 in der Sturm‑Galerie gezeigten Arbeiten deuten bis auf wenige Ausnahmen auf Volkstypen, alltägliche oder religiöse Themen, wie der Künstler sie aus dem jüdischen Leben in Staszów, einem Städtchen mit seinerzeit rund neuntausend Einwohnern und über der Hälfte jüdischer Bevölkerung, kannte. Möglicherweise knüpfte Herwarth Walden an die Ausstellung mit ihm die Hoffnung, an die frühen Erfolge mit Chagall, dessen Werke er im Juni 1914 in der Sturm-Galerie gezeigt hatte, anknüpfen zu können.[23] Walden verfolgte in diesen Jahren aber auch mit großem Interesse die gesellschaftliche Entwicklung in der Sowjetunion, hatte selbst im Mai 1924 dazu aufgerufen, für die Liste der KPD zu stimmen, veröffentlichte in der Sturm-Zeitschrift regelmäßig Anzeigen der Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland und reiste selbst 1927 aus Anlass des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution nach Moskau.[24] Nach der Rückkehr von seiner Reise, auf der er auch die podolische Kreisstadt Proskurow/Płoskirów (heute Chmelnyzkyj) besucht hatte, berichtete er in der September-Ausgabe des Sturms von den Segnungen des Bolschewismus.[25]

 

[17] Der Sturm, 8. Jahrgang, 5. Heft, Berlin, August 1917, Seite 68, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1917_1918/0074/image

[18] E.C.: Kunstwanderung. […] Kirschenbaum, in: Berliner Volks‑Zeitung, 75. Jahrgang, Nr. 202, Sonnabend, 30. April 1927, Morgen-Ausgabe, Seite 2, online-Ressource: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bimage%5D=2&set%5Bzoom%5D=default&set%5Bdebug%5D=0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27971740-19270430-1-0-0-0.xml. Die Autorschaft von Ernst Collin (vergleiche Anmerkung 7) ist unstrittig, da dieser sich in dem von ihm verfassten Ausstellungs-Katalog zu Kirschenbaum 1931 in der Berliner Galerie Fritz Weber auf die frühere Rezension bezog.

[19] Der Sturm, 8. Jahrgang, 2. Heft, Berlin, Mai 1917, Seite 21 und 25, weitere Zeichnungen von Chagall auf Seite 23 und 27, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1917_1918/0027/image

[20] Der Sturm, 12. Jahrgang, 12. Heft, Dezember 1921, Seite 209, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1921/0261/image

[21] Werbeanzeige für farbige Kunstdrucke von Mark Chagall: Intérieur / Der Barbier / Kutscher / On dit (Jude) / Akt / Aquarell, Der Sturm, 13. Jahrgang, 5. Heft, Berlin, Mai 1922, Seite 81, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1922/0105/image; 17. Jahrgang, 12. Heft, Berlin, März 1927, Rückumschlag, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1926_1927/0246/image; 20. Jahrgang, 8. Heft, Berlin August/September 1930, 4. Umschlagseite.

[22] Christoph Zuschlag: „… eines seiner stärksten Bilder“. Das Schicksal des „Rabbiners“ von Marc Chagall, in: Uwe Fleckner (Herausgeber), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im „Dritten Reich“ = Schriften der Forschungsstelle Entartete Kunst, 4, Berlin 2009, Seite 401-426

[23] Goudz 2012 (siehe Literatur), Seite 535

[24] Georg Brühl: Herwarth Walden und „Der Sturm“, Leipzig, Köln 1983, Seite 71, 77

[25] „ … hier ist kein Land der Zerstörung. Die USSR ist ein Land des Aufbaus. Ein Land der Arbeit. Und ein Land der Sehnsucht nach Menschenglück.“ Herwarth Walden: USSR 1927, in: Der Sturm, 18. Jahrgang, 6. Heft, Berlin, September 1927, Seite 73-75, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1927_1928/0082/image

Damit einher ging Waldens begeisterte Förderung für Künstler aus Osteuropa. Entgegen seiner Ablehnung des Konstruktivismus förderte er den polnischen Künstler Henryk Berlewi (1894-1967) 1924 durch den Abdruck von dessen Manifest „Mechano-Faktur“[26] sowie durch eine Ausstellung in der Sturm-Galerie, ebenso die Künstler der von Berlewi mit gegründeten Warschauer Gruppe Blok, Teresa Żarnowerówna (1897-1949) und Mieczysław Szczuka (1898-1927). Als Szczuka im August 1927 bei einer Bergwanderung in der Tatra tödlich verunglückte, schrieb Walden im Sturm einen engagierten Nachruf.[27] Insofern war Kirszenbaum im April 1927 ein weiterer für Walden willkommener Künstler, der eine Herkunft aus dem zuvor russisch regierten Teil Polens mit expressiven Bildmotiven des chassidischen Judentums vereinigte. Kirszenbaum selbst berichtete noch 1930 in einem Brief an Paul Citroen, der Kunstkritiker Max Osborn (1870-1946), Redakteur der bürgerlichen Vossischen Zeitung, habe ihn als einen „sehr starken Maler“ bezeichnet, jedoch bedauert, dass er nicht „in den Jahrgang von Marc Chagall“ gehöre oder vor ihm auf den Markt gekommen sei.[28] Collin wiederum bemerkte im Ausstellungs-Katalog der Galerie Fritz Weber, die Kirszenbaums Arbeiten ab November 1931 in der Derfflingerstraße 28 im Bezirk Tiergarten zeigte, dass der Künstler sich in den zurückliegenden vier Jahren „von seinem Vorbild Chagall freigemacht“ und zu einem selbstständigen stilistischen Ausdruck gefunden habe.[29]

Den Verlust des Ulks als Auftraggeber konnte Kirszenbaum 1929 vorübergehend kompensieren, indem er die Münchner Zeitschrift Jugend, ein seit 1896 als Wochenschrift für Kunst und Leben erscheinendes vielseitiges Unterhaltungsblatt mit zahlreichen Karikaturen und Wiedergaben von Kunstwerken, für sich interessieren konnte. Wie der Kontakt zustande kam, ist nicht bekannt. Jedoch weiß man von anderen Karikaturisten der Zeit, dass es für Künstler üblich war, sich bei unterschiedlichen Zeitschriften zu bewerben oder dass die Zeichner durch Agenten und Schriftsteller, die für verschiedene Publikationsorgane tätig waren, vermittelt wurden.[30] Die erste Zeichnung von Kirszenbaum für die Jugend, zwei Herren in konspirativem Gespräch, erschien unter dem Pseudonym „J. Duwdiwani“ im Juli 1929.[31] Bis zum Juli 1931 konnte Kirszenbaum dort allerdings nur sieben Zeichnungen (Abb. 32-34 . ) platzieren, die meist in kleinem Format und auf unattraktiven Seiten erschienen und zu denen sicherlich die Redaktion die satirischen Textzeilen erfand.[32] Karikaturen, die Kirszenbaum sicherlich in keiner der bislang genannten Zeitschriften hätte veröffentlichen können, finden sich 1932 und 1934 in Briefen an Paul Citroen in der Sammlung des Bauhaus-Archivs in Berlin, darunter eine Karikatur auf Hitler: „Der schöne Adolf als Akrobat“ sowie eine Zeichnung „Professor der Rassenkunde im Dritten Reiche“.[33]

Ob Kirszenbaum nach seiner Ausstellung in der Sturm-Galerie mit Herwarth Walden in Kontakt blieb, ist ungewiss. 1929 war er jedoch mit mindestens einem Werk in der Jubiläumsausstellung 10 Jahre Novembergruppe im Rahmen der Juryfreien Kunstschau im Berliner Landes-Ausstellungsgebäude am Lehrter Bahnhof vertreten.[34] Die Novembergruppe, eine 1918 als Reminiszenz an die Novemberrevolution gegründete Vereinigung mit durchschnittlich 120 bis 170 Mitgliedern, rekrutierte sich zum großen Teil aus den Künstlern des Sturm-Kreises.[35] Spätestens zu dieser Zeit knüpfte Kirszenbaum enge Kontakte zu radikal linken Kreisen. Er wurde Mitglied der Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands (ARBKD), kurz Asso genannt, die im März 1928 von jungen Künstlern aus Kreisen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), dem kommunistischen Künstlerbund Rote Gruppe um George Grosz, John Heartfield und Rudolf Schlichter und kommunistischen Mitgliedern anderer Künstlerverbände nach dem Vorbild der Assoziation der Künstler des revolutionären Russlands (AChRR) gegründet worden war. Der KPD soll Kirszenbaum ebenfalls beigetreten sein.[36]

1930 heiratete er Helma Joachim (1904-1944 in Auschwitz ermordet), die als Sekretärin für die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger arbeitete. Zunächst wohnte das Ehepaar in Eichwalde bei Berlin, Anfang 1932 in Berlin-Adlershof.[37] Im Juli 1930 wandte sich Kirszenbaum aus Eichwalde mehrfach an Paul Citroen in Amsterdam mit der Frage, ob dieser sich nicht für Veröffentlichungen seiner Werke in jüdischen Zeitschriften oder für eine „graphische Ausstellung in Amsterdam“ einsetzen könnte, aus dem Grunde, „dass ich arm war und es noch bin“.[38] Vermutlich durch die Vermittlung von Citroen stellte der Kunsthändler Carel van Lier (1897-1945 im KZ-Außenlager Hannover-Mühlenberg) Zeichnungen von Kirszenbaum 1931 in seiner Galerie in Amsterdam aus.[39]

 

[26] Der Sturm, 15. Jahrgang, 3. Heft, Berlin, September 1924, Seite 155-159, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1924/0173/image

[27] „Die neue Kunst Polens hat ihren größten Vertreter verloren.“ Herwarth Walden: Mieczyslaw Szczuka, in: Der Sturm, 19. Jahrgang, 1. Heft, Berlin, April 1928, Seite 185 f., gefolgt von einem „Architektonischen Projekt“ des polnischen Konstruktivisten, Seite 187-193, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1928_1929/0007/image

[28] Brief J.D. Kirszenbaum an Paul Citroën vom 21.10.1930, Bauhaus-Archiv 8034/120, zitiert nach Inna Goudz 2012 (siehe Literatur), Seite 534

[29] Zitiert nach Goudz 2012 (siehe Literatur), Seite 534

[30] Beispielsweise wurde der Flensburger Karikaturist Herbert Marxen 1928 von dem Berliner Schriftsteller Reinhard Koester, der unter dem Pseudonym Karl Kinndt für die Satire-Zeitschriften Ulk und Simplicissimus schrieb, sowohl an den Verlag von Rudolf Mosse in Berlin und damit an die Zeitschrift Ulk als auch an die Münchner Jugend vermittelt. (Axel Feuß: Herbert Marxen – Ein Leben für die Karikatur, in: Politisch inkorrekt. Der Flensburger Karikaturist Herbert Marxen (1900-1954), Ausstellungs-Katalog Museumsberg Flensburg, 2014, Seite 19)

[31] Jugend, 34. Jahrgang, München 1929, Nr. 27, Seite 437, online-Ressource: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/jugend1929/0440

[32] Der Umgang der Redakteure mit den satirischen Zeichnungen auf den regelmäßig stattfindenden Redaktionskonferenzen ist für Herbert Marxen (siehe Anmerkung 30, Feuß 2014, Seite 20 f.) gut dokumentiert. Alle Zeichnungen von Kirszenbaum in der Jugend sind mit dem Suchwort „Duwdiwani“ in den Heidelberger historischen Beständen – digital zu finden, https://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/digilit.html

[33] „Der schöne Adolf als Akrobat“, Brief an Paul Citroen vom 2.1.1932, Inv. Nr. 8034/134; „Professor der Rassenkunde im Dritten Reiche“, Brief an Paul Citroen vom 23.4.1934, Inv. Nr. 8034/161, beide Bauhaus-Archiv, Berlin

[34] Beteiligung von Künstler*innen und Architekt*innen an Ausstellungen der Novembergruppe 1919-1932. Version 1.3. Stand: 2. April 2019, herausgegeben von der Berlinischen Galerie. Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Berlin, Seite 53, online: https://www.berlinischegalerie.de/fileadmin/content/bilder/sammlungen/kuenstlerarchive/findbuecher/beteiligung_von_k%C3%BCnstler_innen_u._architekt_innen_an_ausst.pdf. Danach war Kirszenbaum (Kirschenbaum) jedoch nicht auf den beiden bekannten Mitgliederlisten der Novembergruppe von 1925 und 1930 verzeichnet.

[35] Brühl 1983 (siehe Anmerkung 24), Seite 66-69

[36] Revolution und Realismus 1978 (siehe Literatur), Seite 49 f.

[37] Geschichte der Berliner Kirschenbaumstraße, https://berlin.kauperts.de/Strassen/Kirschenbaumstrasse-12524-Berlin. Vergleiche außerdem das Zeugnisblatt des Cousins von Helma Kirschenbaum, geborene Joachim, für Yad Vashem. Martyrs‘ and Heroes‘ Remembrance Authority, https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de&s_lastName=Kirschenbaum&s_firstName=Helma&s_place=&s_dateOfBirth=, ebenso den Eintrag im Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung …, https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1089586

[38] Brief J.D. Kirszenbaum an Paul Citroen vom 5.7.1930, Bauhaus-Archiv 8034/122; Postkarte J.D. Kirszenbaum an Paul Citroen vom 31.7.1930, Bauhaus-Archiv 8034/119; zitiert nach Goudz 2012 (siehe Literatur), Seite 533 f.

[39] Der Kunstzaal Van Lier, Rokin 126, in Amsterdam, war auf Realismus, Magischen Realismus und Expressionismus spezialisiert. Im Museum de Fundatie in Zwolle befindet sich eine Zeichnung mit dem Porträt von Kirszenbaum, die Paul Citroen 1934 vermutlich in Paris angefertigt hat, online: https://www.museumdefundatie.nl/nl/collectie/object/?pagina=77&id=1542&#menu

Im Oktober/November 1931 nahm Kirszenbaum in Berlin an der internationalen Ausstellung Frauen in Not teil, die im Haus der Juryfreien am Platz der Republik stattfand und in der der Künstler ein in Öl gemaltes Damenporträt zeigte.[40] Anlass war eine Kampagne gegen den Abtreibungsparagraphen 218 in der Frauenzeitschrift Der Weg der Frau, die im Verlagskonzern des kommunistischen Verlegers Willi Münzenberg (1889-1940) erschien. 1932 und 1933 veröffentlichte die Zeitschrift Magazin für Alle, die zur KPD-nahen Buchgemeinschaft Universum Bücherei für Alle der von Münzenberg organisierten Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) gehörte, grafische Szenen von Kirszenbaum, darunter eine Gemeindeversammlung in der Synagoge zu einem Artikel von Nándor Pór, „Gottes Gesetz?“.[41] Weitere Zeichnungen von ihm erschienen in der Satirezeitschrift Roter Pfeffer, Nachfolger des Eulenspiegels im Neuen Deutschen Verlag von Münzenberg, und in der Roten Fahne, dem Zentralorgan der KPD.[42]

In der Roten Fahne würdigte der Kulturredakteur der Zeitung, Alfred Durus (Alfréd Kemény,1895-1945), Mitglied des Sturm-Kreises und Mitbegründer der Asso, Kirszenbaum im November 1931 anlässlich von dessen Ausstellung in der Galerie Fritz Weber als „Künstler des ostjüdischen Proletariats“ (siehe PDF 2). Weltanschaulich befinde sich der Künstler „in einem Übergangsstadium zwischen Mystik und Marxismus.“ Das Milieu des ostjüdischen Proletariats werde „von ihm in malerisch meisterhaften Aquarellen und Ölbildern suggestiv und faszinierend vor Augen geführt“. Man hoffe jedoch, die ideologisch aufsteigende Linie werde nicht wie bei den großen proletarischen Malern des Ostjudentums, Chagall und Jankel Adler, „umschlagen. Jedenfalls muss da noch ein harter Kampf um die vollständige Erfassung der zeitgemäßen revolutionären Weltanschauung, des dialektischen Materialismus, ausgefochten werden“.[43]

1932 war Kirszenbaum auf der Ausstellung Revolutionäre Malerei, einer Sonderschau der inzwischen in Bund revolutionärer bildender Künstler (BRBKD) umbenannten Asso, vertreten.[44] Die Ausstellung zeigte Werke von Künstlerinnen und Künstlern, und zwar Mitgliedern des BRBKD, deren Arbeiten aufgrund ihres kritischen Inhalts zuvor von der Polizei aus der Großen Berliner Kunstausstellung entfernt worden waren. Durus berichtete im Magazin für Alle über die Teilnahme von Kirszenbaum und den Asso-Mitgliedern Alois Erbach (1888-1972) und Horst Strempel (1904-1975) und bildete Kirszenbaums Radierung „Pogrom“ (Abb. 11 . ) ab: In Kirszenbaums Szenen aus dem Ostjudentum werde „nicht das Leben einer Religionsgemeinschaft gezeigt, sondern das schwere Schicksal eines östlichen Proletariats, welches mit dem Schicksal der Proletarier der ganzen Welt vieles gemeinsam hat.“[45]

Künstlerisch orientierte sich Kirszenbaum seit seiner Zeit am Bauhaus an unterschiedlichen Stilen. Die beiden frühesten bekannten Werke, Radierungen mit Szenen aus der Synagoge, „Ba'ei Shalom“ (Die, die in Frieden kommen) und ein Junge vor dem Rabbi mit der Tora,[46] sind 1923 vermutlich schon am Bauhaus in Weimar entstanden und zeigen noch jenen naturalistischen Stil, den der Künstler sich autodidaktisch vermittelt hatte. Das um 1925 entstandene Selbstbildnis (siehe Titelbild) verrät kubistischen Einfluss. Die voluminösen und gerundeten Formen des Oberkörpers und der Arme wirken puppenhaft und verweisen auf eines der wenigen Selbstbildnisse von Oskar Schlemmer, den „Männlichen Kopf I“ von 1912.[47] Selbst die scharfkantige Nase, die mandelförmigen Augen, die glatte Frisur und die wie angesetzt wirkenden Ohren scheinen von dort zu kommen. Kongruenzen sind aber auch zur Partie von Nase und Augen im 1914 entstandenen Selbstbildnis von Chagall zu erkennen.[48] Schlemmer war Kirszenbaum als Leiter der Werkstatt für Wandbildmalerei am Bauhaus natürlich gut bekannt. Im August 1923 wurde während der Bauhauswoche im Weimarer Nationaltheater das aus kubistischen Figurinen bestehende „Triadische Ballett“ aufgeführt, auf das sich Ausstellungen und Publikationen noch Jahre später bezogen. Kirszenbaum jedenfalls porträtierte sich, möglicherweise bereits in Berlin, mit Weste, Stehkragen und Krawatte als attraktiven jungen Mann der großstädtischen Gesellschaft und mit seinen beruflichen Attributen, Palette und Pinsel.

 

[40] Revolution und Realismus 1978 (siehe Literatur), Seite 50

[41] Magazin für Alle, Band 7, Nr. 4, Berlin 1932, abgebildet im Ausstellungs-Katalog Revolution und Realismus 1978 (siehe Literatur), Seite 130, Abbildung 438, Bildlegende Seite 269

[42] Linsler 2013 (siehe Literatur), Seite 293 f.

[44] Revolution und Realismus 1978 (siehe Literatur), Seite 50

[45] Alfred Durus: Revolutionäre Malerei. Bilder von Erbach, Kirschenbaum, Strempel und Wegener, in: Magazin für Alle, Band 7, Nr. 8, Berlin, August 1932, Seite 42. Die Berliner Ausstellung Revolution und Realismus 1978 (siehe Literatur) zeigte Kirszenbaums zu jener Zeit verschollene Radierung „Pogrom“ nach der Abbildung im Aufsatz von Alfred Durus (Katalog Seite 269).

[46] Beide Werke im Besitz des Leo Baeck Institute in New York, https://www.lbi.org/artcatalog/search?q=Kirszenbaum. Die dort angegebenen Titel, „Paul von Jecheskiel“, bezeichnen wohl in Wirklichkeit den ursprünglichen Besitzerwechsel (also: von Jecheskiel an Paul geschenkt). Das angebliche „W“ in der Signatur ist in Wirklichkeit ein „D“, dessen oberer rechter Schwung nach rechts anstatt nach links geführt wurde. Später korrigiert Kirszenbaum diese Merkwürdigkeit. Eine Entstehung der beiden Radierungen in Kirszenbaums erster Zeit am Bauhaus darf angenommen werden, da zu ihrem Druck professionelle Maschinen notwendig waren.

Zwei Tuschezeichnungen, die 1925 in Berlin, also unmittelbar nach Kirszenbaums Studium am Bauhaus entstanden sind, „Beim Studium des Maimonides“ (Abb. 2 . ) und „Musiker und ihre Anhänger“ (Abb. 3 . ), reflektieren mit ihrem flächigen Stil, sich überschneidenden geometrischen und prismatischen Formen und dem Einfließen schriftlicher Elemente Kunstrichtungen der Zeit zwischen Kubismus, Dada und Expressionismus. Möglicherweise waren sie als Vorlagen für Holz- oder Linolschnitte gedacht, wie sie in diesen Jahren von zahlreichen Künstlern in kontrastreichem Schwarzweißstil als Illustrationen und Grafikbeilagen für Zeitschriften wie den Sturm geschaffen wurden. Die Bildmotive sind Alltagsszenen aus dem Stetl, die Kirszenbaum in seiner Kindheit und Jugend in Staszów selbst erlebt hatte und in seinen schriftlichen Erinnerungen schilderte: das Studium der alten jüdischen Schriften im Cheder, und die traditionellen Geigenspieler, zu deren Musik nicht nur die Leute der Stadt, sondern auch, man denke an ähnliche Motive von Chagall, allerlei Tiere zusammengelaufen sind.

Die geometrische Segmentierung der Figuren und die schematisierten Physiognomien der „Musiker“ (Abb. 3 . ) erinnern an das Frühwerk von Chagall, etwa an dessen „Viehhändler“ von 1912: vom Sturm-Verlag als Kunstpostkarte vertrieben und noch im April 1926 von Walden in einer Verteidigungsschrift über den Expressionismus abgebildet.[49] Im „Maimonides“-Blatt (Abb. 2 . ) erscheint im Blick durch das rückwärtige Fenster eine prismatisch verschnittene Stadtansicht, wie sie Lyonel Feininger, Leiter der Druckwerkstätten am Bauhaus, beispielsweise in seinem Bild „Mellingen VI“ 1922 gestaltete.[50] An Feininger, aber auch an die prismatischen Formen des 1922 von Walter Gropius, dem Direktor des Bauhauses, entworfenen „Denkmals der Märzgefallenen“ auf dem Hauptfriedhof in Weimar erinnert Kirszenbaums um 1925 entstandenes Aquarell „Trauer“ (Abb. 4 . ). Das Gemälde „Geiger im Stetl“ (Abb. 5 . ), als Motiv in Chagalls Frühwerk in kubistischem Stil vorbereitet,[51] literarisch jedoch auch in Kirszenbaums Jugenderinnerungen geschildert,[52] bereitet dessen spätimpressionistischen Stil der Dreißiger‑ und Vierzigerjahre (Abb. 38 . , 42 . ) vor.

Ganz anderen Charakter haben eine Zeichnung und Radierungen mit Szenen aus dem jüdischen Leben (Abb. 6-11 . ), die an die beiden frühesten bekannten Motive dieser Art von 1923 anschließen. „Die Hochzeit“ (1925, Abb. 6 . ), eine Tuschezeichnung im Besitz des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, folgt dem stilisierten, beschwingten Stil mit eingesprengten kleineren Figuren, den Chagall um 1925 in seinen Radierungen pflegte[53] und der kennzeichnend für dessen Spätwerk wurde. Die scharfkantig-expressionistischen Szenen mit innerlich bewegten Gesichtern betender Juden (Abb. 7-9 . ) erinnern an ähnliche Köpfe und Szenen von Ludwig Meidner (1884-1966) und Jakob Steinhardt (1887-1968), die beide zum Kreis der Berliner Sturm-Künstler gehörten und für ihre jüdischen Bildmotive bekannt sind. Vor allem bei Kirszenbaums bewegten Szenen, „Tanz der Hassidim“, (1925, Abb. 10 . ) und „Pogrom durch die Kossaken“ (um 1930, Abb. 11 . ), ist der Einfluss dieser beiden Künstler zu erkennen.

Bekannt für seine jüdischen Motive war auch der aus der Ukraine stammende Maler Issachar Ber Ryback (1897-1935), der seit 1921 in Berlin lebte, zur Novembergruppe gehörte, seine Arbeiten in der Juryfreien Kunstausstellung zeigte und 1926 nach Paris ging. Auch von ihm gibt es zahlreiche Versionen eines Geigers im Stetl und andere Volksszenen. Es ist also anzunehmen, dass sich Kirszenbaum während seiner Zeit in Berlin verstärkt im Kreis der jüdischen Künstler bewegte ­­– Paul Citroen nicht zu vergessen – und sich dort mit den von ihm geschaffenen Szenen profilieren konnte. Belegt ist auch Kirszenbaums Freundschaft mit dem jüdischen Maler Felix Nussbaum (1904-1944 in Auschwitz ermordet), der ab 1923 in Berlin an der Lewin-Funcke-Schule studierte, ab 1930/31 zu den arrivierten jungen Berliner Künstlern zählte und 1933 über Italien und Frankreich nach Belgien emigrierte.[54] Nussbaum nahm 1931 an der Ausstellung Frauen in Not teil.[55]

 

[49] Herwarth Walden: Expressionismus, in: Der Sturm, 17. Jahrgang, 1. Heft, Berlin, April 1926, Seite 2-12, Marc Chagall: Der Viehhändler, Seite 5, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1926_1927/0013/image. Das Gemälde befindet sich heute im Kunstmuseum Basel, http://sammlungonline.kunstmuseumbasel.ch/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=1129&viewType=detailView

[50] Abgebildet im zur Bauhaus-Ausstellung 1923 erschienenen Katalog: Staatliches Bauhaus Weimar 1919-1923, Weimar, München, 1923, Seite 183. Das Gemälde befindet sich heute im Israel Museum, Jerusalem, https://www.imj.org.il/en/collections/387956

[51] Marc Chagall: Le violiniste, 1912/13, Stedelijk Museum, Amsterdam, https://www.stedelijk.nl/en/collection/753-marc-chagall-le-violoniste; ein Holz- oder Linolschnitt von Chagall mit einem Geiger vor dem Stetl noch 1917 abgebildet in: Der Sturm, 8. Jahrgang, 2. Heft, Berlin, Mai 1917, Seite 25, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1917_1918/0031/image

[52] „The blind violinist would come to Staszów each year right before Pesach; he was the herald of spring in Staszów. The piercing strings of his violin would express boundless sadness, and when he would accompany his playing with a song on the pogrom in Kishinev, the whole picture of the terrifying events would be visible before my eyes.“ (J.D. Kirszenbaum 2013, siehe Literatur, Seite 129)

[53] Marc Chagall: Der Akrobat mit der Geige, 1924, Radierung und Kaltnadel; Illustrationen zu Nikolai Gogol, Les Âmes Mortes, 1923-27, Radierungen (Marc Chagall. Druckgraphik, herausgegeben von Ernst-Gerhard Güse, Stuttgart 1985, Seite 247, 46-73)

[54] Um die Jahreswende 1946/47 erkundigte sich Kirszenbaum brieflich beim Direktor der Königlichen Kunstmuseen Belgiens in Brüssel, Paul Fieren, nach dem Schicksal von Felix Nussbaum und erhielt am 20.1.1947 die Antwort, das Nussbaum und dessen Frau in ein Konzentrationslager deportiert wurden und nicht zurückgekehrt seien. (Brief abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013, siehe Literatur, Seite 26 f.)

[55] Adolf Behne: Die Ausstellung „Frauen in Not“, in: Welt am Abend, Nr. 243, 1931; abgebildet in: Revolution und Realismus 1978 (siehe Literatur), Seite 28

Dem stilisierten, beschwingten Stil gehören auch die satirischen Zeichnungen an, die vermutlich 1925/26 entstanden, aber in späteren Jahren in der Zeitschrift Der Querschnitt erschienen (Abb. 12-14 . ), darunter wieder ein offenbar blinder Geiger im Stetl, der mit einem Passanten aneinandergeraten ist. Kirszenbaums Karikaturen für den Ulk beginnen im Frühjahr 1926 mit etwas simplen Umrissformen (Abb. 15-16 . , 19 . ), um dann schon im Juli in großformatige, von starken Schwarzweißkontrasten bestimmte, elegante und zugleich bissige Gesellschaftsszenen überzugehen (Abb. 17 . , 18 . , 20-31 . ). Entwickelt hatten diesen Stil bekannte Karikaturisten vor ihm, Eduard Thöny, Thomas Theodor Heine, Olaf Gulbransson und Karl Arnold, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für die Zeitschriften Simplicissimus und Jugend arbeiteten, noch in den Zwanziger‑ und Dreißigerjahren tätig waren und zu denen junge Zeichner wie Herbert Marxen hinzugestoßen waren.

Kirszenbaum gab diesem lange eingeführten Stil eine neue Note, indem er sich in der Szenerie und den Physiognomien an George Grosz orientierte, der sich unter anderem seit seiner Mappe „Das Gesicht der herrschenden Klasse“ (1921) und in dem 1926 entstandenen Gemälde „Stützen der Gesellschaft“ (Nationalgalerie Berlin) an den Institutionen der Weimarer Republik, Politikern, den christlichen Kirchen und dem konservativen Bürgertum abarbeitete und Spießigkeit, Doppelmoral, Militarismus und sittlichen Verfall aufs Korn nahm. Grosz arbeitete seit 1926 ebenfalls für den Simplicissimus, den Eulenspiegel und später für den Roten Pfeffer. Opfer von Kirszenbaums zeichnerischen Übertreibungen und Spott waren das konservative, kaisertreue Bürgertum (Abb. 17 . ), deutschnationale Burschenschaften und Politiker (Abb. 20 . , 25 . , 30 . oben), Manager und Bonzen (Abb. 21 . ), bräsige Familienväter (Abb. 22 . ) und Freizeitpolitiker (Abb. 26 . ) ebenso wie die gehobene Gesellschaft (Abb. 29 . ) oder sogenannte „moderne“ Künstler (Abb. 30 . unten). Dank seiner zeichnerischen Fähigkeiten wären diese Typen auch ohne die von der Redaktion ergänzten literarischen Satiren und Bonmots zu erkennen gewesen.

Daneben zeichnete er auch harmlosere Gesellschaftsszenen, die Kostüm und Lebenshaltung der „Goldenen Zwanzigerjahre“ treffend charakterisieren (Abb. 18 . , 23 . , 24 . , 27 . , 28 . ). Sie nähern sich stilistisch der Neuen Sachlichkeit, wie sie Rudolf Schlichter, Otto Dix und andere vertraten, deren kritisch-karikierender Grundton Kirszenbaum ebenfalls beeinflusste. Ein besonderer Wurf gelang ihm mit seiner dreiviertelseitigen Karikatur „Ball der Expressionisten“ (Abb. 31 . ), in der er alle genannten Stilrichtungen mit den Schrifteinsprengseln von Dada und den prismatisch verschnittenen Kompositionslinien des Expressionismus vereinigte und in dieser Kombination ein umfassendes Kultur- und Sittenbild der Zeit entwarf. Künstlerbälle, von den Akademien und Kunstschulen oder von freien Künstlerverbänden ausgerichtet, galten, nicht nur in Berlin, seit dem Beginn der Zwanzigerjahre als jährliche Höhepunkte des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Die Karikaturen für die Jugend fielen wieder harmloser aus (Abb. 32-34 . ). In den beiden 1931 im Querschnitt veröffentlichten Zeichnungen fand der Künstler jedoch wieder zu Männertypen zurück, die Grosz und Dix vorgebildet hatten (Abb. 35 . , 36 . ).

1933 flohen Kirszenbaum und seine Frau vor den Nationalsozialisten nach Paris, da sie nicht nur wegen ihrer jüdischen Herkunft, sondern auch aufgrund der engen Kontakte zu den Kommunisten in höchster Gefahr waren. Sie ließen ihren gesamten Besitz, darunter nahezu alle Werke des Künstlers, in Berlin zurück. In Paris fand Kirszenbaum offenbar schnell Anschluss. Bereits im November 1933 nahm er am Pariser Herbstsalon, dem 1903 ins Leben gerufenen Salon d’Automne, teil,[56] der seit den Zwanzigerjahren von den Malern aus dem Künstlerviertel Montparnasse, darunter Chagall, Modigliani und Braque, dominiert wurde und als wichtigster Ausstellungsort der Avantgarde galt. Kirszenbaum war dort bis 1935 vertreten.[57] Ebenfalls im November 1933 nahm er mit Landschaftszeichnungen an einer Ausstellung teil, die das französische Komitee zum Schutz verfolgter jüdischer Intellektueller zugunsten von aus Deutschland vertriebenen Künstlern organisiert hatte.[58]

[56] L'Écho de Paris vom 3.11.1933, Seite 5, 5. Spalte, erster Absatz, online-Ressource: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k8149828/f5.item. Der Künstler verwendete anfangs offenbar eine französische Schreibweise seines Namens, „Kirchenbaum“, später auch die deutsche, um zuletzt zur polnischen zurückzukehren.

[57] Brief Kirszenbaum an den Generaldirektor des Fond National d’Art Contemporain in Paris vom 20.4.1945, abgebildet in: J.D. Kirszenbaum 1913 (siehe Literatur), Seite 24 f.

[58] Les intellectuels juifs persécutés. Les afiches, in: Le Temps vom 1.11.1933, Seite 4, 2. Spalte, online-Ressource: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2493917/f4.item; dort ebenfalls „Kirchenbaum“

Im Januar 1936 zeigte Kirszenbaum eine Einzelausstellung in der Galerie Mouradian-Vallotton in der Rue de Seine 41 mit Zeichnungen und Aquarellen „in einer stets fröhlichen Palette zwischen tiefem Rot und Blau … die sich hauptsächlich mit dem russischen Bauernleben“ befassten, wie das Pariser Journal Juif berichtete.[59] Die Galerie handelte in diesen Jahren unter anderem mit Werken von Degas, Utrillo und Max Ernst. Die konservative Tageszeitung Paris-Midi kündigte Kirszenbaums Ausstellung als „jüdische Malerei“ an, die Straßen- und Dorfszenen, arme Händler, Bauern und Arbeiter zeige. Bei den insgesamt 20 Aquarellen seien „die Farben umso brillanter, je naiver sie aufgetragen“ würden.[60]

1938 war der Künstler am Salon der Association Artistique des Surindépendants beteiligt, die 1929 gegründet worden war und in der vor allem surrealistische und abstrakte Maler ausstellten. Ebenfalls 1938 zeigte er Werke in der Exposition des Peintres Allemands des im Jahr zuvor in Paris von deutschen Exilkünstlern gegründeten Freien Künstlerbunds (FKB, Union des Artistes Libres), dem unter anderem Max Ernst, Otto Freundlich und Hans Hartung sowie hauptsächlich Künstlerinnen und Künstler angehörten, deren Werke in Deutschland von den Nationalsozialisten während der Aktion „Entartete Kunst“ aus den Museen entfernt, verkauft, zerstört und in der gleichnamigen Ausstellung diffamiert wurden.

Zu den bei Mouradian-Vallotton gezeigten Arbeiten gehörte vermutlich der im Vorjahr datierte „Mann mit Zigarette“ (Abb. 37 . ), eine jener in der Presse beschriebenen aquarellierten Straßenszenen mit einfachen Leuten in prägnanten Kontrasten von Rot und Blau. Auch ein Harmonikaspieler und ein Bassgeiger,[61] ein Mann mit geflickter Kleidung, Stiefeln und einem Sack auf dem Rücken[62] sowie zwei Bauern im Gespräch vor einem Pferdefuhrwerk sind in dieser Technik bekannt. Daneben entstanden Gemälde, ein „Alter Jude“ mit Stock, Mütze und Schultergepäck (1936),[63] ein „Alter Jude in einer Schneelandschaft“ (um 1937)[64], die Büste eines Juden[65] und „Der Fischer“ (beide 1938)[66] in gedeckten Braun- und Grautönen, die mal an den Stil von Braque, mal an Rouault oder Modigliani erinnern. Die jüdischen Szenen und Porträts sind sicher – wie die zuvor in Berlin entstandenen Arbeiten – aus der Erinnerung gemalt und rufen Personen und Ereignisse aus Staszów wach. Ein „Schlafwandler“ über den Dächern der Stadt mit einem lachenden Mond, um 1937 impressionistisch in hellen Blautönen gemalt,[67] scheint von Chagall oder den Surrealisten beeinflusst.

In einer Reihe von Gemälden verlegte der Künstler die biblische Überlieferung in die Stadt seiner Kindheit: Das 1937 entstandene Gemälde „Die jüdischen Dorfbewohner begrüßen den Messias“ (Abb. 38 . ) zeigt den Erlöser, wie er in Gestalt eines Chassiden auf einem weißen Esel in Staszów einreitet. Am Sattel hängen eine Kapsel mit den Gebetsriemen und ein bestickter Beutel, der die 613 Gebote, die Mitzwot, enthält. Am linken Bildrand sind das Stationsschild von Staszów und der Bahnhofsvorsteher zu sehen, rechts erwarten ihn chassidische Rabbiner und Vorbeter und mehrere Gruppen von Einwohnern, die den Messias auf Schildern in hebräischer Schrift begrüßen. 1939 malte Kirszenbaum eine neue Version dieses Themas (Abb. 39 . ), 1942 und 1946 zwei weitere Interpretationen (Abb. 43 . , 47 . ). Stilistisch wechselte er zwischen einer spätimpressionistischen Auffassung, die den Künstler als Meister der Grautöne zeigt, und einer naiv wirkenden, buntfarbigen Figurenszenerie, deren Vorbild Werke der Künstlergruppe Fauves gewesen sein könnten. Auslöser für das Thema, aber auch für die von den Bildrändern in die Szene blickenden Figuren und die emporgehaltenen Schrifttafeln und Fahnen dürfte das vielfach publizierte und 1939 in Paris ausgestellte Gemälde von James Ensor, der „Einzug Christi in Brüssel“ (1888),[68] gewesen sein.

Zur gleichen Zeit beschäftigte sich Kirszenbaum mit einem weiteren klassisch-jüdischen Thema, dem Exodus und der seit dem Mittelalter verbreiteten Legende des Wandernden Juden, die beide durch die Judenverfolgung der Nationalsozialisten und die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen neue Aktualität erlangt hatten. Eine Ölskizze von 1938 in der Sammlung des Israel Museum in Jerusalem zeigt auf ihrem Gepäck sitzende „Wandernde Juden“ in freier Landschaft.[69] 1939 schuf der Künstler eine Folge von Radierungen mit dem Titel „Exodus“. Sie zeigt verschiedene Züge von Juden, die von Soldaten eskortiert werden (Abb. 41 . ), eine Mutter, die ihre Kinder umarmt,[70] und eine Familie, die sich mit einem offenen Pferdewagen und wenigen Habseligkeiten auf den Weg gemacht hat (Abb. 40 . ). Auch dieses Thema verfolgte der Künstler nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiter (Abb. 44 . ).

 

[59] Exposition de J.-D. Kirschenbaum, in: Le Journal Juif, 13. Jahrgang, Nr. 3, Paris, 17. Januar 1936, Seite 4, 4. Spalte, online-Ressource: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k62282932/f4.image.r=Kirchenbaum. Kirszenbaum erwähnt die Galerie in seinem Brief vom 20.4.1945 (siehe Anmerkung 56).

[60] G.-J. Gros: Peintres de sentiment, in: Paris-Midi vom 24.1.1936, Seite 2, 2. Spalte, online-Ressource: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k4729237j/f2.image.r=Kirchenbaum

[61] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 140 f., https://www.kirszenbaum.com/france?lightbox=imagevuo

[62] Ebenda, Seite 89

[63] Ebenda, Seite 72

[65] Ebenda, Seite 73

[66] Ebenda, Seite 149

[67] Ebenda, Seite 67

[69] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 88

[70] Ebenda, Seite 93

Von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs war Kirszenbaum, das belegen die wenigen aus diesen Jahren erhaltenen Informationen und Werke, aktives Mitglied der École de Paris. Bezeichnet werden mit diesem Terminus kein einheitlicher Kunststil und keine geschlossene Künstlergruppe, sondern die Gesamtheit der französischen, vor allem aber der ausländischen Künstler, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert von Paris aus die zeitgenössische Kunst prägten. Zu den französischen Künstlern wie Derain, Matisse, Braque, Rouault oder Léger, die sich im Stadtviertel Montparnasse angesiedelt hatten, kamen in mehreren Einwanderungswellen Künstler aus Spanien, Italien, den Niederlanden, Deutschland und Südamerika, in größerer Zahl aber aus osteuropäischen Ländern wie Russland, Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn, die auf dem Montparnasse mit seinen zahlreichen Ateliers und Cafés ein lebendiges Künstlerviertel bildeten.

Erst in jüngerer Zeit ist wieder darauf hingewiesen worden, dass ein großer Teil der ausländischen Künstler jüdischer Herkunft war. Zu ihnen gehörten zu unterschiedlichen Zeiten Henryk Berlewi, Marc Chagall, Henri Epstein, Otto Freundlich, Moise Kisling, Moise Kogan, Roman Kramsztyk, Rudolf Levy, Jacques Lipchitz, Louis Marcoussis, Amedeo Modigliani, Mela Muter, Jules Pascin, Issachar Ryback, Lasar Segall, Chaim Soutine, Marek Szwarc, Ossip Zadkine und viele andere. Man geht von etwa 500 Künstlern aus, die in der Zwischenkriegszeit aufgrund antisemitischer Verfolgung und schwieriger persönlicher oder politischer Lebensumstände aus ihren Heimatländern nach Paris gingen und von denen rund 180 größere Bedeutung erlangten.[71] Nach Hitlers Machtergreifung flohen aus Deutschland der in Vilnius geborene Bauhaus-Schüler Moses Bagel und die aus Polen stammenden Künstler Jankel Adler und Kirszenbaum sowie der aus Łódź stammende Maler Jacob Markiel nach Paris. Von den bekannteren Künstlern starben, so Claude Lanzmann, 71, das sind 40 Prozent, in den Gaskammern der auf polnischem Gebiet gelegenen deutschen Konzentrationslager.[72]

Nur wenige dieser Künstler wandten sich ausgesprochen jüdischen Bildthemen zu: Chagall, Kirszenbaum, Ryback, der aus Stanisławów stammende Arthur/Artur Kolnik und der in der Ukraine geborene Emmanuel Mané-Katz. Kirszenbaum, der viel Zeit in den Pariser Museen und Galerien verbrachte, um die älteren und modernen französischen Meister zu studieren und der mit Georges Rouault befreundet gewesen sein soll,[73] schuf in der Zeit von 1933 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rund 600 Gemälde. Sie wurden nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris von diesen in seiner Wohnung konfisziert und zerstört.[74] Damit hatte der Künstler zum zweiten Mal sein bisher geschaffenes Werk verloren.

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden Kirszenbaum und seine Frau interniert und dabei voneinander getrennt. Er wurde im Lager von Meslay-du-Maine östlich von Rennes festgehalten, in dem von September 1939 bis Juni 1940 zweitausend deutsche und österreichische Zivilisten aus der Region Paris interniert waren und das beim Vormarsch der Deutschen geräumt wurde. Anschließend wurde er in ein Arbeitslager für Ausländer im Dorf Saint-Souveur bei Bellac im Département Haute-Vienne verlegt. Dort konnte er offenbar 1942 fliehen und sich bis zum Kriegsende verstecken.[75] Helma Kirszenbaum war bis zum Juni 1940 im Internierungslager Camp de Gurs in Südfrankreich unweit der spanischen Grenze inhaftiert, wurde dann entlassen, blieb aber zunächst in Gurs, um auf ihren Mann zu warten.[76] Vermutlich ist sie später wieder nach Paris zurückgekehrt. Sie wurde Ende 1943 verhaftet und kam in das Sammel- und Durchgangslager Drancy 20 Kilometer nordöstlich von Paris, aus dem 65.000 vorwiegend französische Juden in die Vernichtungslager verschickt wurden. Von dort wurde sie am 20. Januar 1944 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet.[77]

Auch während seiner Lagerhaft und im Untergrund war Kirszenbaum künstlerisch tätig. Im Winter 1939 schuf er eine spätimpressionistisch und vorwiegend in Grautönen gemalte „Landschaft mit Kirche“, die sich heute im Israel Museum befindet,[78] 1940 die Ansicht eines bäuerlichen Anwesens im Frühling.[79] 1941 malte er in Bellac in ähnlicher Technik einen Holzsammler in winterlicher Landschaft, den er dort gesehen haben kann und der vermutlich kein Erinnerungsbild aus Staszów ist.[80] Eine Serie von Stillleben mit Blumensträußen in bauchigen Vasen scheint in der Konzentration auf die Farbe und der seriellen Abstraktion von den Fauves, vielleicht von de Vlaminck, beeinflusst.[81] 1942 entstanden Erinnerungsbilder an Staszów: ein „Jude auf winterlicher Straße“[82], ein „Wasserträger aus Staszów“ (Abb. 42 . ) und das Gemälde „Der Messias und die Engel erreichen das Dorf“ (Abb. 43 . ), das wiederum das christliche Bildthema „Jesu Einzug in Jerusalem“ beziehungsweise die Adaption von Ensor in den jüdischen Alltag verlegt und auf dem der Maler sich selbst (unten links) porträtierte, wie er mit Pinsel, Palette und Staffelei die Szene im Bild festhält. Die letzteren drei Gemälde zeigen spätimpressionistische Malerei in Grau- und Brauntönen und sind vermutlich wiederum nur die wenigen überlieferten Beispiele eines weitaus umfangreicheren Werks, das verloren gegangen ist.

 

[71] Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 397. Die Forschungen von Nadine Nieszawer, die darauf hinweist, dass die jüdische Herkunft der großenteils international bekannten Künstler bislang kaum Erwähnung gefunden hat, beruhen auf früheren Arbeiten von Chil Aronson: Bilder und geshtaltn fun Monparnas/Scènes et visages de Montparnasse. Vorwort von Marc Chagall, Paris 1963, und Hersh Fenster: Undzere farpaynikte kinstler. Vorwort von Marc Chagall, Paris 1951

[72] Claude Lanzmann: Vorwort, in: Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 396

[73] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 59, 66

[74] Brief vom 20.4.1945 (siehe Anmerkung 57)

[75] Ebenda

[76] Brief Helma Kirszenbaum an ihren Mann vom 1.7.1940 aus Gurs; Postkarte Jesekiel Kirszenbaum an seine Frau vom 26.7.1940 aus Saint-Sauveur bei Bellac, ausgestellt in der Ausstellung Jesekiel Kirszenbaum 2019 im Zentrum für verfolgte Künste, Solingen; vergleiche den Bericht auf diesem Portal, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 8; die Postkarte abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 78

[78] Landschaft im Winter mit Kirche, 1939, Israel Museum, Jerusalem, https://www.imj.org.il/en/collections/193211

[79] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 25

[80] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 34, https://www.kirszenbaum.com/early-period?lightbox=imagebsv

[81] Ebenda, Seite 58, 61

[82] Ebenda, Seite 72

Das Kriegsende und die folgende Zeit erlebte Kirszenbaum in völliger Verzweiflung, da er – jetzt wieder ansässig in Paris in der Rue Bobillot unweit des Künstlerviertels Montparnasse – ohne Nachricht über den Verbleib seiner Ehefrau geblieben war.[83] „Seitdem lebe ich in Schmerz und Bitterkeit. Ich bin kein Heiliger, ich habe kein Vertrauen in die Menschen oder in mein eigenes Leben“, wird er später zitiert.[84] Künstlerisch blieb er seinen bisherigen Themen zunächst treu. In einer Reihe von Gemälden behandelte er erneut den Exodus, also Flucht und Vertreibung der Juden. Dazu gehören das expressive Bild „Eine Mutter mit ihren beiden Kindern auf der Flucht“ (Abb. 44 . ), das Gemälde „Meine Tränen werden zu einem Fluss“[85] mit dem Porträt eines weinenden alten Mannes im Vordergrund sowie fliehenden und rastenden Juden dahinter (beide von 1945), außerdem ein Bild mit „Flüchtlingen“,[86] die sich auf offenem Meer in einem Boot zusammendrängen (undatiert, Tel Aviv Museum of Art). Mehrere Figurenbilder rufen erneut die Erinnerung an Staszów wach, darunter ein „Blinder Geiger“, ein „Sitzender Hausierer“, ein „Jüdischer Mann mit Tallit“[87] und ein in expressiven Umrissen gemalter „Mann aus Staszów“ (Abb. 45 . ) sowie das impressionistisch und in der Formgebung nahezu kubistisch skizzierte „Porträt eines Juden mit Pfeife“ (Abb. 46 . ). 1946 entstand eine letzte Version der „Ankunft des Messias im Stetl“ (Abb. 47 . ) mit teils karikierten, teils grotesk positionierten farbigen Figuren.

Auf das Bruststück des gekreuzigten Jesus (1944) und eine entsprechende Tuschezeichnung mit der hebräischen Beischrift „Gott, warum hast du uns verlassen“[88] folgten weitere biblische Themen: das Porträt eines weinenden jüdischen Mannes, das auch als Jesus mit der Dornenkrone gedeutet werden kann, und als Dreiviertelfigur ein Bildnis des verzweifelten Hiob.[89] Auch das Bild „Meine Tränen werden zu einem Fluss“ lässt sich auf eine Bibelstelle, die Klage der Gefangenen zu Babel,[90] beziehen. Einzelporträts von Aposteln, Heiligen, Meditierenden, Denkern[91] und Rabbinern (Abb. 48 . ) werden von wenigen plastischen Arbeiten des Künstlers, darunter ein „Jeremias“ als Terrakottafigur,[92] begleitet. Höhepunkt dieser Serie bildet ein 1947 gemaltes lebensgroßes Triptychon der Propheten Moses, Jeremias und Elias (Tel Aviv Museum of Art),[93] deren kubistisch vereinfachte Umrissfiguren in reduzierter Farbigkeit von Rot- und Blautönen möglicherweise von Rouault beeinflusst sind. An Chagall erinnert hingegen eine Serie von Gemälden, auf denen fliegende Engel die verlorenen Seelen aus dem Stetl hinfort tragen,[94] eines davon mit dem Titel „In unserer Welt gibt es keinen Platz für die Juden“ (Abb. 49 . ).

Die große Bandbreite der stilistischen Möglichkeiten des Künstlers zeigen zwei 1946 entstandene nachdenkliche Porträts: das spätimpressionistisch gemalte Selbstbildnis (Abb. 50 . ) und das Porträt des jugendlichen Journalisten Robert Giraud (1921-1997, Abb. 51 . ), das stilistisch an die Bildnisse des schon 1920 verstorbenen Modigliani erinnert. Giraud stammte aus Limoges, war dort als Mitglied der Résistance von den Deutschen inhaftiert worden und lebte seit dem Kriegsende in Paris. Kirszenbaum hatte 1945 in Limoges, 20 Kilometer südlich von Bellac, eine Ausstellung in der Galerie Folklore. Wo sich beide kennengelernt haben, ist jedoch nicht bekannt.

Schon 1946 wurde Kirszenbaums Palette merklich bunter (Abb. 47 . , 49 . ) und er begann sich mit neuen Themen zu beschäftigen. Ein „Harlekin“,[95] ein „Trompeter“[96] und ein „Violinist“ in Galakostümen verweisen auf die Welt des Zirkus, ein Thema, das von den Malern der École de Paris, vor allem von Rouault, häufig bearbeitet wurde. Die flächige, leuchtende Farbigkeit dieser Figurenbilder verweist auf die Gruppe der Fauves, vielleicht auf Derain. Auch ein erneutes Erinnerungsbild an Staszów, das Aquarell „Der Metzger“ (Abb. 52 . ) im Besitz des Pariser Centre national des arts plastiques,[97] greift mit seiner fleckigen Buntfarbigkeit auf die Fauves zurück.

Kirszenbaum gelang es in dieser Zeit, in Paris alte Kontakte wiederzubeleben und neue zu knüpfen. 1946 beteiligte er sich am Salon des Tuileries und an der Ausstellung der Künstlergruppe Salon de Mai, die sich 1943 während der deutschen Besetzung von Paris als Opposition zu den Nationalsozialisten gegründet hatte. Im selben Jahr und erneut 1952 erwarb der französische Fond national d’art contemporain Werke von ihm, die sich heute im Centre national des arts plastiques befinden. 1947 stellte er in der Galerie des Quatre chemins und im Salon der Künstlergruppe Les Surindépendants aus, deren Mitglied er im Jahr darauf wurde. Vor allem aber unterstützte ihn Baronin Alix de Rothschild, die in der Nachkriegszeit zahlreichen Künstlern half, künstlerisch wieder Fuß zu fassen. Sie nahm Mal- und Zeichenunterricht bei ihm, empfing ihn als Gast in ihrem Haus, erwarb seine Werke und stellte seine aktuellen Arbeiten, „Arts sacrés, sujets religieux“, 1947 in ihrem Anwesen in der Avenue Foch 21 in Paris aus.[98] Sie begleitete den Künstler in den folgenden sieben Jahren, organisierte 1961 die Gedenkausstellung in der Pariser Galerie Karl Flinker und vermachte wichtige Werke von Kirszenbaum aus ihrer Sammlung israelischen Museen.

 

[83] Brief vom 20.4.1945 (siehe Anmerkung 57)

[84] Zitiert nach Frédéric Hagen: J.D. Kirszenbaum = Ausstellungs-Katalog Galerie Karl Flinker, Paris 1961 (vergleiche Anmerkung 7), in: J.D. Kirszenbaum 2013, Seite 78 f.

[85] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 98

[87] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 18, 19

[88] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 80 f.

[89] Ebenda, Seite 97, 100

[90] „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“ (Psalm 137, 1)

[91] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 22, 23

[92] Fotografie von 1945 im Centre Pompidou, Paris, MNAM-Bibiothèque Kandinsky, abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 106

[93] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 102 f.; https://www.kirszenbaum.com/france?lightbox=imageh5n

[94] Fotografie im Centre Pompidou, Paris, MNAM-Bibiothèque Kandinsky, abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 84; das Gemälde in Privatbesitz

[95] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 68

[96] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 20

[98] Einladungskarte abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 82

Kirszenbaums neu erwachter Lebensmut dokumentierte sich in den folgenden Jahren auch in einer verstärkten Reisetätigkeit. 1948/49 reiste er nach Brasilien, wo ihn Land und Leute im tropischen Klima zu farbenfrohen, teils naiv anmutenden Tableaus inspirierten. Seine Gemälde einer „Brasilianerin mit Kind“,[99] einer „Brasilianerin mit Korb“[100], von „Brasilianischen Masken“[101], eines „Brasilianischen Jungen mit Drachen“ (Abb. 53 . ) und die drei Jahre später aus der Erinnerung gemalte „Festa de São João in São Paulo“ (Abb. 54 . , 55 . ) sind mit ihren reinen Farbflächen von den Fauves, aber auch von indigener Malerei beeinflusst und nicht frei von visionären Farbexperimenten. Auch in Brasilien, wo seit 1924 in São Paulo der aus Vilnius stammende und zur Dresdner Sezession gehörende jüdische Maler Lasar Segall (1891-1957) lebte, fand Kirszenbaum Anschluss und herzliche Aufnahme. 1948 stellte er in der führenden Kunstgalerie in São Paulo, der Galeria Domus, und im Instituto de Arquitetos do Brasil in Rio de Janeiro aus.

Nach seiner Rückkehr wurde er 1949 französischer Staatsbürger. Im selben Jahr illustrierte er den 50seitigen Gedichtband des deutsch-französischen Schriftstellers und Dichters Frédéric Hagen (Friedrich Hagen, 1903-1979), „Paroles à face humaine“. Das Buch mit acht Illustrationen von Kirszenbaum erschien in einer nummerierten Auflage von 500 Stück im Pariser Verlag des surrealistischen Dichters Guy Lévis Mano (1904-1980), GLM. Mit Hagen, der wie Kirszenbaum 1933 nach Frankreich geflohen war, blieb der Maler bis zu seinem Lebensende eng befreundet.[102] 1948/50 unternahm er Reisen nach Marokko und Italien,[103] die sein malerisches Interesse auf die Natur, vor allem auf exotische Früchte und Pflanzen lenkten. Zwei 1952 entstandene Früchtestillleben,[104] eines davon in der Sammlung des Centre national des arts plastiques,[105] wecken Erinnerungen an entsprechende Motive von Cézanne, nähern sich in ihrem gemäßigten Kubismus aber Picasso. Ein ganz neues Motiv, die Ansicht einer Schlachterei in Paris, vor deren offenen Auslagen Damen mit Einkaufskörben ihre Hunde spazieren führen,[106] folgt in der bunten Farbigkeit und dem naiven Figurenstil den brasilianischen Bildern.

Kirszenbaums religiöse Themen, auch das Nebeneinander von christlichen und jüdischen Sujets, fanden jetzt auch öffentliche Beachtung. 1951 schrieb der bekannte polnisch-französische Kunstkritiker Waldemar George (Jerzy Waldemar Jarociński, 1893-1970) im achtseitigen Katalog einer Retrospektive von Kirszenbaum mit Gemälden, Aquarellen und Gouachen in der Pariser Galerie André Weil in der Avenue Matignon 26: Kirszenbaum habe zu einem großen Teil zur Wiederbelebung einer jüdischen Malerei beigetragen, deren Geist eng mit der jiddischen Poesie verbunden sei. Wie andere Illustratoren des Alten Testaments habe auch er die starke Anziehungskraft der Legenda aurea (also der nichtbiblischen Heiligenlegenden) erlebt. „Synagoge“ und „Kirche“ (Judentum und Christentum) würden im Werk dieses Sehenden (gemeint ist Kirszenbaum), der das Universum mit faszinierten Augen betrachte, ineinander übergehen anstatt sich zu widersprechen.[107] 1953 stellte der Künstler in der Galerie Au Pont des Arts in der Rue Bonaparte 6 aus. Diese Galerie gab eine bibliophile Edition mit zehn reproduzierten Aquarellen von Kirszenbaum in einer Auflage von 100 Exemplaren heraus, die chassidische Legenden von I.L. Peretz illustrieren. Das Vorwort schrieb Waldemar George.[108] Kirszenbaums Illustrationen rekapitulieren im Wesentlichen frühere Bildmotive wie den blinden Geiger, studierende Rabbiner und den Wasserträger aus Staszów, zeigen aber auch eine bislang unbekannte Gauklerszene (siehe PDF 3).

 

[99] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 28

[100] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 121

[101] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 29

[102] Wann Hagen und Kirszenbaum sich kennen lernten, ist nicht bekannt. Die bisherige Annahme, dass sie sich vom Weimarer Bauhaus her kannten (J.D. Kirszenbaum 2013, siehe Literatur, Seite 26), ist wenig wahrscheinlich. Hagen wurde von 1919 bis 1922 in Schwabach an der Lehrerbildungsanstalt zum Kunstlehrer ausgebildet. Von 1923 bis 1930 war er in Nürnberg als Mitarbeiter verschiedener Zeitungen, Theaterspielleiter und Kunstkritiker ansässig. Seit 1935 in Paris als Kunstkritiker tätig und Mitglied von Vereinigungen antifaschistischer Künstler und Schriftsteller, war er von 1945 bis 1950 Chefredakteur der deutschen Sendungen des französischen Rundfunks (Friedrich Hagen: Curriculum Vitae, in: Friedrich Hagen, Leben in zwei Ländern, herausgegeben von Godehard Schramm, Nürnberg 1978, Seite 198-201). Hagen war mit Schriftstellern und Lyrikern seiner Zeit wie Paul Éluard, Jean Cocteau, André Breton und Paul Celan befreundet.

[103] Im Bauhaus-Archiv, Berlin, befindet sich eine aquarellierte Zeichnung „Toskanische Landschaft – San Gimignano“, 1948, Inv. Nr. 3574

[104] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 28

[106] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 122

[107] Waldemar George in: J.D. Kirszenbaum. Peintures, aquarelles, gouache. Du 27 Septembre au 11 Octobre 1951, Ausstellungs-Katalog Galerie André Weil, Paris [1951], zitiert nach: J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 108 f.

[108] Dix aquarelles de Kirszenbaum. Inspirées des légendes hassidiques de I. L. Peretz. Préface de Waldemar George, Paris: Au pont des arts, 1953

Seit Anfang der Fünfzigerjahre an Krebs erkrankt, besann sich Kirszenbaum in einer Serie von abstrahierten oder völlig abstrakten Bildern an seine Studienzeit am Bauhaus. Zwei Aquarelle, die Fische vor ungegenständlichen Hintergründen zeigen (Abb. 56 . , 58 . ) erinnern schon auf den ersten Blick an das 1925 entstandene Gemälde von Paul Klee, „Der Goldene Fisch“ (Hamburger Kunsthalle). Aus freien organischen Formen, wie sie Mondrian und Kandinsky um 1910 erfanden, konstruierte der Künstler Aquarelle und Gouachen mit abstrakten Geweben (Abb. 57 . ) und Arabesken. Die Kombination von gegenständlichen und frei gestalteten Formen, wie sie in seinem Aquarell eines „Abstrakten Gartens“[109] zu sehen ist, erinnert aber auch an Roger Bissière, Mitglied der École de Paris, der sich in frühen Jahren ebenfalls an Klee orientierte. Ein letztes Erinnerungsbild an Staszów, „Der Prophet Elijah“ (Abb. 59 . ), schließt an die Bilder vom Einzug des Messias im Stetl an und zeigt vor der Kulisse der Stadt die bekannten volkstümlichen Figuren. Anstelle des Erlösers wird jedoch der Prophet zur Hauptfigur, der nach biblischer Überlieferung von feurigen Rossen in den Himmel entrückt wird (2. Könige 2, 11).

1954 starb Kirszenbaum an seiner Krebserkrankung. Retrospektiven fanden 1955 in der Galerie Tsavta in Jerusalem und 1962 in der Galerie Karl Flinker in Paris in der Rue du Bac 34 statt. Im Katalog der letztgenannten Ausstellung schrieb Friedrich Hagen einen umfangreichen Essay über Leben und Werk des Künstlers.

 

Axel Feuß, Oktober 2019

 

Wir danken den Großneffen von Jesekiel Kirszenbaum, Nathan und Amos Diament (Tel Aviv), für die großzügige Überlassung von Informationen, Fotovorlagen und Reproduktionsgenehmigungen sowie Frau Anna Taube (Osnabrück, ehemals Goethe­-Institut, Tel Aviv) für die freundliche Unterstützung bei der Beschaffung von Informationen.

 

[109] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 26

 

Literatur:

Yechezkel Kirszenbaum: Childhood and Youth in Staszów. From „Life Chapters of a Jewish Artist“, übersetzt von Leonard Levin, original hebräisch in: Sefer Staszów (The Staszów Book), herausgegeben von Elhanan Erlich, Tel Aviv 1962, Seite 221-229, online: https://www.jewishgen.org/yizkor/staszow/sta221.html; erneut in: J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe unten), Seite 129-170

Revolution und Realismus. Revolutionäre Kunst in Deutschland 1917 bis 1933, Ausstellungs-Katalog Staatliche Museen zu Berlin, (Ost-)Berlin 1978

Inna Goudz: Herwarth Walden und die jüdischen Künstler der Avantgarde, in: Der Sturm. Zentrum der Avantgarde, Band 2: Aufsätze, Ausstellungs-Katalog Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2012, Seite 515-540

Johanna Linsler: Jesekiel David Kirszenbaum, entre aspiration révolutionaire et mémoire du shtetl / Jesekiel David Kirszenbaum, zwischen revolutionärem Streben und Erinnerungen an das Schtetl, in: Anne Grynberg / Johanna Linsler: L’Irréparable. Itinéraires d’artistes et d’amateurs d’art juifs, réfugiés du „Troisième Reich“ en France / Irreparabel. Lebenswege jüdischer Künstlerinnen, Künstler und Kunstkenner auf der Flucht aus dem „Dritten Reich“ in Frankreich, herausgegeben von der Koordinierungsstelle Magdeburg, Magdeburg 2013, Seite 265-289 / 290-314

J.D. Kirszenbaum (1900-1954). The Lost Generation. From Staszów to Paris, via Weimar, Berlin and Rio de Janeiro / La génération perdue. De Staszów à Paris, via Weimar, Berlin et Rio de Janeiro, herausgegeben von Nathan Diament, Paris 2013; darin: Baron David de Rothschild: Alix de Rothschild: Student and Benefactor / Alix de Rothschild, élève et bienfaitrice, Seite 11; Nadine Nieszawer: Jechezkiel Kirszenbaum, a Jewish Artist of the School of Paris / Jechezkiel Kirszenbaum, un artiste juif de l’École de Paris, Seite 13-16; Nathan Diament: A Personal Pathway / Un cheminement personnel, Seite 21-32; Caroline Goldberg Igra: Kirszenbaum’s Artistic Journey / Le parcours artistique de Kirszenbaum, Seite 35-124

Caroline Goldberg Igra: The Restoration of Loss: Jechezkiel David Kirszenbaum’s Exploration of Personal Displacement, in: Ars Judaica, herausgegeben von der Bar-Ilan University, Faculty of Jewish Studies, Department of Jewish Art, Nr. 10, Ramat Gan 2014, Seite 69-92

Nadine Nieszawer / Deborah Princ und andere: Artistes juifs de l’École de Paris 1905-1939 / Jewish Artists of the School of Paris, Paris 2015, Seite 177 f. / 428 f., online: http://ecoledeparis.org/wp-content/uploads/2018/12/1.pdf

J.D. Kirszenbaum (1900-1954). Retrospektiva/Retrospective, Ausstellungs-Katalog Muzej Mimara/The Mimara Museum, Zagreb 2018
 

Alle elektronischen Links wurden zuletzt im Oktober 2019 aufgerufen.

 


Video:

Anlässlich des International Holocaust Remembrance Day am 27. Januar engagiert sich das Willy Brandt Center in Jerusalem für J.D. Kirszenbaum mit einem Film: https://www.youtube.com/watch?fbclid=IwAR02r8UDCLPmFRa_SQznLW4zMTpgJG_lM7mDwYbC1kNNRoVyU09LIhnIvms&v=JsUXlvHp06I&feature=youtu.be