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Herkunft als Netz – Die Regisseurin Emilie Girardin

Emilie Girardin, Foto: Léa Girardin, 2021
Emilie Girardin

Aufgewachsen ist Emilie Girardin ab 1991 in einem winzigen Dorf in der französischsprachigen Schweiz gleich an der Grenze zum Kanton Bern. In dem Örtchen war deshalb neben Französisch auch Schweizerdeutsch zu hören. Zu Hause sprachen die Girardins allerdings Englisch. Denn das war die Sprache, in der sich die Eltern verständigen konnten. Emilies Vater stammte aus der französischsprachigen Schweiz, die Mutter aus Schlesien. Sie wuchs in Bytom und dann Katowice auf, studierte zunächst in Krakau (Kraków) und wanderte dann mit einem Fulbright Stipendium in die USA aus, um ihren Master in Psychologie zu machen. Dort lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen. Die beiden heirateten und zogen schließlich in seine Schweizer Heimat. 

Emilie und ihre ältere Schwester Léa lernten also zuerst Englisch, dann, als sie in die Schule kamen, auch Französisch. Polnisch wurde zu Hause nicht gesprochen. Emilie Girardin erklärt, dass es für ihre Mutter einfach zu schwierig gewesen sei: „Sie war an einem fremden Ort, an dem niemand Polnisch sprach. Da konnte sie uns nicht ganz allein auch noch Polnisch beibringen.“

Mit der polnischen Sprache kam Emilie Girardin allerdings bei den mütterlichen Großeltern in Katowice in Kontakt. Dorthin fuhr sie mit ihrer Familie mehrmals im Jahr. Zwar unterhielt man sich auch dort weitgehend auf Englisch, aber die Kinder auf der Straße und die Menschen in TV-Kindersendungen wie „Dobranocka“ sprachen natürlich Polnisch. Emilie Girardin erinnert sich: „Wir haben die Sprache viel gehört und Wörter gelernt, Kinderlieder auch, die unser Dziadek [Opa] uns beigebracht hat.“

Deutsch lernte Emilie Girardin an ihrer Schweizer Schule als zweite Amtssprache. Als Emilie mit 17 Jahren einen jungen Mann aus Bielefeld auf einem Punkfestival kennenlernt, festigten sich ihre Deutschkenntnisse. Die Beziehung führte Emilie auch das erste Mal nach Hamburg, also in die Stadt, in der sie heute lebt und als Regisseurin an Projekten von Tanztheater bis Film arbeitet.

Schon als kleines Kind wollte Emilie Girardin Autorin werden. Sie erinnert sich, dass sie bereits bevor sie schreiben lernte, eine eigene Schrift erfunden und Geschichten geschrieben hat, um sie ihrer Schwester vorzulesen. Allerdings fand sie schließlich die Arbeit allein am Schreibtisch zu einsam und wollte lieber mit Menschen zusammen an kreativen Projekten arbeiten. So entstand der Wunsch, Theater zu machen. Emilie Girardin absolvierte bereits ihr Abitur mit einem Schwerpunkt auf Theater, lebte dann eine Weile in Argentinien und Brasilien, wo sie ein Praktikum im Zentrum des „Theaters der Unterdrückten“ machte, das auf der Methode des Theaterpädagogen Augusto Boal (1931–2009) basiert.

Als sie zurück nach Europa kam, verbrachte sie 2011 mehrere Monate in Polen, während sie sich für die Aufnahmeprüfungen an verschiedenen Hochschulen für Theater vorbereitete. Wie ihre Schwester ein Jahr vorher, schrieb sich Girardin in Krakau an der Jagiellonen-Universität (Uniwersytet Jagielloński) für ein Sprachprogramm ein. Ein wichtiger Grund dafür war, dass sie mehr Zeit mit ihrem Großvater verbringen wollte, der für sie und ihre Schwester in der Kindheit so wichtig gewesen war. Nach dem erfolgreich absolvierten Sprachkurs und einer wachsenden Verbindung zu Polen, zog Girardin allerdings nach Barcelona, um am dortigen Institut del Teatre Theaterregie zu studieren.

Während des Studiums entwickelt Girardin ein zunehmendes Interesse für physisches Theater und entfernt sich bald komplett vom Texttheater. Am Institut del Teatre ist sie genau am richtigen Ort, den hier gibt es eine eigene Sparte für physical theatre. Girardin erhält Gelegenheit bei einigen interessanten Theaterschaffenden als angehende Regisseurin zu hospitieren. Sie erinnert sich: „Es gab in dem Bereich natürlich auch eine starke Faszination für den polnischen Künstler Tadeusz Kantor und sein physisches Theater. Sein Stück ‚Umarła klasa‘ wurde sogar an der Uni in Barcelona wiederaufgeführt.“

In Barcelona lernte Emilie Girardin Katalanisch, eine Sprache, die ihrer Aussage nach noch heute Teil ihres Alltags ist. Sie fand aber auch die Zeit sowohl regelmäßig zu ihrem Großvater nach Katowice zu fahren als auch die Semesterferien in Berlin zu verbringen. Dort kellnerte sie und ging ins Theater. Sie schwärmte für die Berliner Volksbühne, die Schaubühne und das Berliner Ensemble, fand Castorf und Ostermeier faszinierend. Und kam auf die Idee, einen Erasmus-Austausch in Deutschland zu machen. Sie wollte „natürlich“ zunächst nach Berlin zur Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Aber es gab kein Austauschprogramm mit der Universität in Barcelona. Das bot jedoch die Hamburger Hochschule für Musik und Theater. Nach einem Semester dort, beschloss Girardin ganz nach Deutschland zu ziehen und ihr Studium in Hamburg zu beenden.

Das Interesse für Körpertheater blieb Girardin auch an ihrem neuen Wohnort erhalten. Allerdings erlebte sie die Theaterbranche nach ihrem Studium als selbstbezüglich und elitär. Sie befasste sich viel mit Formen des partizipativen Theaters, im Versuch, eine andere Beziehung zum Publikum aufzubauen. Schließlich interessierte sie sich zunehmend für Film als Medium, um sich auszudrücken. 2018 kam sie während der Weihnachtszeit in Katowice auf die Idee, einen Film über Schlesien zu drehen. Wie besonders die Geschichte dieser Region ist, war Girardin klar geworden, als sie 2017 als Regieassistentin im Hamburger Kampnagel Theater mit einem Chor von Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches zusammengearbeitet hatte. Dabei entdeckte sie einen für sie neuen Aspekt der deutsch-polnischen Geschichte. Sie sprach mit ihrer Mutter und ihrem Großvater über die Thematik, recherchierte, fragte nach und begann 2019 ihren ersten Film zu drehen: „The Last To Leave Are The Cranes“. In dem bewegenden Drama geht es um Nati, eine junge chilenische Frau, die nach Polen reist, um ihre Familiengeschichte zu erforschen. Dort trifft sie ihre alte Freundin Mo wieder und begibt sich mit ihr auf einen Roadtrip durch Schlesien, auf dem ihre Vorstellungen von Europa ebenso auf die Probe gestellt werden, wie ihre Freundschaft zu Mo.

Emilie Girardin erinnert sich gerne an die Dreharbeiten und die vorhergehende Recherche: „Ich habe viele Institutionen für deutsch-polnische Zusammenarbeit in Schlesien besucht, viele spannende Historiker:innen kennengelernt, historische Stätten besucht und eine komplett neue Seite Schlesiens kennengelernt.“ 

Im Zuge ihrer Arbeit in Schlesien fühlte Emilie Girardin eine tiefere Verwurzelung in der Heimat ihrer Mutter und fand Freundinnen und Freunde, mit denen sie weiterhin verbunden ist. Sie sagt: „Ich liebe Schlesien: die Landschaft, die Farben, die Architektur, die Menschen. Ich liebe die offene und solidarische Art, mit der ich bei meiner Recherche empfangen wurde. Ich schätze das unorthodoxe, forschende Denken von den Menschen, die ich dort kenne.“

Mit dem Film versuchte sich Emilie Girardin ihrer Familiengeschichte anzunähern, aus einer Perspektive, die es ermöglichte, den Schmerz der deutsch-polnischen Geschichte aus einer gewissen Distanz zu erzählen. Sie interessiert sich vor allem für die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts in Schlesien: die (Neu)Entstehung Polens und gleichzeitig das Verfestigen von Nationalismen, in einer Region, die von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität geprägt war.

Das Aufwachsen zwischen verschiedenen Kulturen hat Girardin früh nahegebracht, dass Herkunft komplex ist und nicht auf eine Sprache, einen Namen, oder einen Ort reduziert werden kann. Sie sagt: „Für mich ist Herkunft ein Netz an emotionalen Beziehungen mit Menschen an verschiedenen Orten. Diese offene Haltung der Welt gegenüber ist fundamental für meine Arbeit.“

Für Emilie Girardin ist eine antirassistische Haltung zentral, gerade weil die europäische Kultur ihren Rassismus noch nicht überwunden hat. So gesehen sind ihre Stoffe immer auch politisch, aber nicht als abstrakte Parabeln, sondern angebunden an reale Menschen und Emotionen. 

Entsprechend arbeitet Girardin im Bereich der Dokufiktion. Ihr erster Film und ihr aktuelles Projekt sind also zum Teil dokumentarisch, zum Teil fiktiv. Sie entwickelt die Drehbücher gemeinsam mit und für Menschen, die sie persönlich kennt. Ihre Arbeitsweise erklärt sie dabei so: „Ich arbeite viel mit Improvisation, was auf meiner Erfahrung im Theater basiert, aber auch dem Wunsch folgt, meine Darsteller:innen über das Erzählte mitentscheiden zu lassen.“ Für Girardin ist Film eine kollektive Kunst und sie will die Teilhabe schon beim Schreibprozess fördern. Aus der spezifischen Mischung aus Improvisation, Auto-Fiktion, Fiktion und Wirklichkeit soll eine besondere Form des Realismus entstehen. Eine natürliche, alltagsnahe Sprache und auch Mehrsprachigkeit sind Kennzeichen von Girardins bisherigem Schaffen. Als Vorbilder nennt sie drei polnische Filmschaffende: Krzysztof Kieślowski (1941–1996), Wojciech Has (1925–2000) und Małgorzata Szumowska (*1973). 

Ein zweiter, ebenfalls dokufiktionaler Langfilm von Emilie Girardin befindet sich bereits in der Postproduktion. In „Die Eine tanzt, die Andere nicht“, porträtiert sie die Freundschaft zweier aus ihrer Heimat migrierter Frauen, die ins Wanken gerät, als eine der beiden ungewollt schwanger wird.

Auch wenn dieser Film nicht in Polen spielt, bleibt die Regisseurin und Autorin dem Herkunftsland ihrer Mutter verbunden. Sie sagt: „Ich fahre mindestens vier Mal im Jahr nach Polen. Manchmal wegen konkreter Projekte wie zum Beispiel für die Deutsch-Polnische Gesellschaft Hamburg, deren 50. Jubiläum ich mitgestaltet habe. Manchmal aber auch einfach so, um meine Mutter, meinen Opa und meine Freunde in Katowice und Warszawa zu besuchen.“ 

Für die deutsch-polnischen Beziehungen wünscht sie sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte, um sich stärker anzunähern und Projektionen und Vorurteile gegenüber dem jeweils anderen Land abzubauen. Auch wünscht sich Emilie Girardin mehr interkulturellen Austausch und Plattformen für polnische Künste in Deutschland.

 

Anselm Neft, Februar 2024

 

Die Künstlerin im Netz: 

www.emilie-girardin.com