Hamburger Klein-Warschau

Polnische Hochzeit in Wilhelmsburg. Die Fotografie entstand vermutlich kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Polnische Hochzeit in Wilhelmsburg. Die Fotografie entstand vermutlich kurz vor dem Ersten Weltkrieg.

Zu dieser Zeit entstanden auch nicht konfessionelle Vereine. Der 1887 gegründete “Klub Polski”, seit 1888 in “Nadzieja” (Hoffnung) umbenannt, mied politische sowie religiöse Themen und war eher ein Geselligkeitsverein. Neben dem in der damaligen Zeit fast schon obligatorischen polnischen Turnverein “Sokół” (dt. Falke, in Wilhelmsburg seit 1905), waren vor allem die Frauenvereine und -organisationen präsent. Bereits 1885 gründeten die Polinnen den Verein “Wieniec” (Kranz), später die Vereine “Wanda”, “Cecylia”, und “Halka”. Diese Vereine kümmerten sich vor allem um die Pflege der polnischen Sprache und Kultur. Insgesamt kann man wohl sagen, dass die polnischen Frauen viel aktiver waren als die Männer. In Wilhelmsburg gehörten den polnischen Frauenvereinen im Jahre 1922 insgesamt 605 Frauen an. Im Vergleich dazu hatte “Sokół” gerade mal 50 Mitglieder. Das Vereinsleben spielte eine zentrale Rolle für die nationale und kulturelle Identität der Polen in Wilhelmsburg. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte jeder zweite polnische Zuwanderer einem der in Wilhelmsburg vertretenen polnischen Vereine an.

Nach dem Ende des I. Weltkrieges veränderte sich die Situation der polnischen Bevölkerung grundlegend, auch für die in Deutschland lebenden “preußischen Polen”. Nach 123 Jahren ohne einen selbständigen Staat wurde am 11. November 1918 die polnische Republik proklamiert. Nach Artikel 91 des Versailler Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 waren die Polen in Preußen verpflichtet, sich innerhalb von zwei Jahren für die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit oder für die polnische Staatsangehörigkeit und damit den Umzug nach Polen zu entscheiden. Die Abstimmung dauerte jedoch de facto bis 1922. Der Großteil der polnischen Zuwanderer entschied sich für den polnischen Staat. Nie wieder war Wilhelmsburg so polnisch geprägt wie vor 1922. Vom einstigen “Klein Warschau” in der damaligen Straße “Alte Schleuse” ist heute nicht viel zu sehen. Dennoch ist Wilhelmsburg heute ein multikultureller Bezirk mit einem Migrantenanteil von über 50 Prozent, in dem die polnischen, oft stark eingedeutschten Namen auf den Klingelschildern wie “Wischynsky” oder “Pschybilla” mindestens so oft vorkommen wie die türkischen “Ölmez” oder “Çiftçi”. Aber nicht nur die Spuren der “alten” Polen sieht man noch heute in Hamburg-Wilhelmsburg. Der einst so polnische Ort zieht auch die neuen polnischen Migranten magisch an. Vielleicht liegt für sie etwas Heimatliches in der Luft vom alten “Klein Warschau”.

 

Adam Gusowski, März 2016

Zusatzinformation:

Wie leidenschaftlich sich die Wilhelmsburger Polen im Streit mit dem bischöflichen Generalvikariat für eine Seelsorge in ihrer Muttersprache einsetzten, dokumentiert ihr Brief von 1896: “Euer Hochehrwürden! Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass uns Ihre Predigt vom 26.4. vorigen Monats auf keinen Fall nicht gefallen kann […] In erster Linie sind Sie diejenige Person, wovon der meiste Ärger kommt. […] Nur um des Geldes wegen wird hier gearbeitet, aber nicht um die ewige Seeligkeit […] Nur um des Geldes wegen haben Sie sich schon manche Sohlen kaputtgerissen, hier keinen polnischen Geistlichen rein zu lassen. Denken Sie ja nicht, dass uns das nicht drückt, wie Sie sich hier ausgedrückt haben, mit solchen Worten, die in ein Gotteshaus nicht passen: "Wem das nicht passt, der kann sich eine andere Stellung suchen." Hiermit fragen wir Sie, wo wir dieselbe suchen sollen? Ein Arbeitgeber sind Sie nicht, das Sie sowas anbitten. Die Arbeitgeber wollen selbst, dass wir in der Kirche unsere Genugtuung finden sollen, was wir der Direktion der Wollkämmerei verdanken und keinem anderen; denn sie weiß, dass wir ihr dafür in der Arbeit dankbar sind. Wir würden dasselbe noch mehr fühlen, wenn ein polnischer Geistlicher hier wäre […] Ja, jetzt kommt in erster Linie die Germanisation und der Geldsack. Warum ist der heilige Geist auf die Apostel herab gesendet worden? Doch wohl nicht wegen der Germanisation, sonst wäre es nicht nötig. Warum werden die Missionare so viele Sprachen gelernt, ehe sie die Wahrheit den Heiden verkünden können? Und weshalb soll uns die Muttersprache noch im Gotteshaus gar nicht sein? Gott muss wohl die Polen nicht erschaffen haben? […] Durch Ihre schöne Predigt sind wir alle durchweg noch mehr aufgehetzt und nicht zufrieden, wie Sie sich wohl einbilden. Sie kriegen noch mehr zu wissen, wenn es nicht bald anders wird; Wir haben von den vier verflossenen Jahren ganze Akten voll notiert, wie es hier getrieben wird […] Die Germanisation muss wenigstens in der Kirche beiseite geschafft werden, […] denn da vor dem Throne des Allerhöchsten soll jeder seine richtige Zufriedenheit finden und nicht Ärgernis […] Zu guter Letzt werden Sie uns wohl noch verbieten, dass wir in der Muttersprache nicht beten sollen, wie der Herr Rektor Wedig schon den Kindern verboten hat, und unseren Gesang mit polnischem Quatsch beschimpft hat. […] Ja, Herr Pfarrer, die Schweißpfennige, die Sie von hier bekommen, waren für den polnischen Geistlichen bestimmt, ja wir haben das sogar unterschrieben. Da er sie jetzt nicht bekommt, sind sie ihm wie gestohlen. Ihnen werden sie zur letzten Stunde ein schwerer Stein auf der Brust. Wir brauchen hier einen polnischen Geistlichen, das wissen Sie ganz gut. Folgedessen können Sie nicht sagen, das habe ich nicht gewusst. Heute wollen wir mit den Worten schließen: groß, ja riesig groß ist Ihre Verantwortung. Gezeichnet wir Polen in Wilhelmsburg.”

Mediathek
  • Wollkämmerei

    Werkssiedlung, kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
  • Familie Walczak

    Auf dem Foto Familie Walczak, links Peter Walczak. Das Foto entstand vermutlich 1914 und kommt aus dem Nachlass von Peter Walczak.
  • Die Erste Kommunion

    Die polnischen Migranten in Wilhelmsburg pflegten ihre Traditionen und ihre Religionszugehörigkeit, wie hier auf dem Foto: die Erste Kommunion.
  • Arbeiterinnen, Wilhelmsburger Wollkämmerei

    Die Arbeiterinnen vor dem Werktor der Wilhelmsburger Wollkämmerei. Das Foto entstand ca. Ende der 1920er Jahre.
  • Kleinwarschau in Hamburg - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku"

    In Zusammenarbeit mit "COSMO Radio po polsku" präsentieren wir Hörspiele zu ausgewählten Themen unseres Portals.