Artur Dziuk

Der Autor Artur Dziuk
Der Autor Artur Dziuk

Als Dziuks Eltern aus einem für sie perspektivenarmen polnischen Sozialismus nach Deutschland kommen, ist die Mutter 22, der Vater 27 Jahre alt. Statt ihrer alten Berufe (Lehrerin und Kfz-Mechaniker) beginnen sie ihr Leben in Westberlin mit Putzjobs und Deutschkursen. Sie sind zu sehr mit ihrer Integration beschäftigt, um ein weiteres Kind aufzuziehen. So sieht es zumindest im Nachhinein Artur Dziuk, der ohne Geschwister aufwächst. Schließlich heuert der Vater bei Daimler am Band an, wo er heute in einer Forschungsabteilung arbeitet. Auch der Mutter gelingt eine Karriere: Sie macht eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten, studiert nebenher an der Abendschule BWL und ist heute Steuerberaterin mit eigener Kanzlei. Kunst und Kultur spielten in Dziuks Elternhaus keine Rolle. Nie sah er seine Eltern Bücher lesen. Auch er liest in seiner Jugend nur wenig. Durch den regen Konsum von Fernsehserien und Videospielen entwickelt er jedoch früh eine Faszination für Geschichten und effektive Erzähltechniken.

Dann – am Ende von Dziuks Jugend – vollzieht sich bei ihm ein Wandel. Beinahe über Nacht wird er zu einem Menschen, der viel liest und regelmäßig schreibt. Darin sieht Dziuk eine Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit unabhängiger von den Eltern zu entwerfen und eben nicht dem Klischee des polnischen Migranten zu entsprechen: tüchtig, unauffällig bis zur Unsichtbarkeit, ganz und gar assimiliert.

Die Leselust erwacht bei ihm gleich nach dem Abitur. Jetzt ist Literatur nicht mehr den Interpretations- und Bewertungszwängen des Deutsch- und Englischunterrichts verhaftet. Eine neue Freiheit tut sich auf. Ein Vorbild ist für ihn die Tante. „Ich habe sie oft in Polen besucht“, sagt Dziuk. „Sie hat unfassbar viel gelesen, und das hat mich schon als Kind beeindruckt.“ Die neue Leidenschaft nimmt in Dziuks Augen beinahe manische Züge an: „Als ob ich etwas hätte nachholen müssen.“ Unter den polnischen Autoren fasziniert ihn zunächst Stanislaw Lem, dann Witold Gombrowicz, vom dem er behauptet: „Es ist einfach unmöglich Gombrowicz zu lesen und sich nicht zu den Texten ins Verhältnis zu setzen.“

In der gleichen Zeit, in der sich Artur Dziuk vom Wenig- zum Vielleser entwickelt, beginnt er damit, Wörter, Beobachtungen und Gedanken in ein stetig mitgeführtes Notizbuch zu schreiben. In einem spielerischen Ansatz werden aus diesen Notizen Miniaturen und Kurzgeschichten. Schließlich stellt Dziuk fest, dass das Schreiben in seinem Leben einen festen Platz eingenommen hat, in seinen Worten „eine Praxis, die zum Alltag gehört“.

Seine Themen sind in der Regel Phänomene der Gegenwart, die er nicht richtig einordnen und erklären kann, und die ihn genau deshalb nicht loslassen. Er sagt: „Das Erzählen ist für mich ein Weg, mich solchen Rätseln zu nähern und eine Sprache für meine Fragen zu finden.“

Artur Dziuk nimmt das eigene Schreiben von Anfang an ernst, auch wenn er es hin und wieder aus einer anderen Perspektive und durchaus selbstironisch als ein etwas eitles Spiel betrachtet. Er verfolgt ein Ziel, wenn auch mit Umwegen: Im Jahr 2008 erhält Dziuk einen der begehrten Plätze im Studiengang Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim. Vorher studiert er ein Jahr Japanologie und anschließend Vor- und Frühgeschichte bis zum Bachelor. Im Hildesheimer Biotop der Literat:innen ist Dziuk äußerst umtriebig: Er fungiert als Mitherausgeber von Bella Triste, einer im Literaturbetrieb durchaus ernst genommenen Zeitschrift „für junge Literatur“, und zählt er zur künstlerischen Leitung von Prosanova, einem deutschlandweit bekannten Literatur-Festival. Nach sechs Jahren schließt er sein Studium mit einem Master of Arts ab. Die Zeit in Hildesheim beschreibt der Autor als sehr bereichernd: „Ich habe dort vielleicht nicht in erster Linie schreiben gelernt, aber weil ich mich rund um die Uhr in einem literarischen Ökosystem bewegt habe, habe ich sehr viel über Literatur nachgedacht. Und ich habe mich mehr über das Schreiben ausgetauscht, als je zuvor oder danach in meinem Leben.“ Manchmal habe ihn das motiviert, manchmal gehemmt, insgesamt sei es aber ein sehr wichtiger Abschnitt seines Lebens gewesen, um über das eigene Schaffen gründlich nachzudenken, eine ästhetische Praxis zu entwickeln und sich selbst als Autor zu respektieren. In Hildesheim beginnt Dziuk auch mit seinem ersten großen Romanprojekt. Nach dem Studium schreibt er daran weiter, finanziert durch Aufenthaltsstipendien, die ihn unter anderem nach Schöppingen und ins Künstlerhaus Eckernförde bringen. Schließlich zieht er für zwei Jahre nach Berlin und beendet dort seinen Roman. Mittlerweile ist Dziuk auch wegen seiner Teilnahme beim Literaturwettbewerb „Open Mike“ in literaturbegeisterten Kreisen kein Unbekannter. Und er hat das Glück, eine Literaturagentur für sein Projekt begeistern zu können. Dennoch ist es alles andere als einfach, einen Verlag für seinen Roman zu finden, der sich Dziuks Worten nach „zwischen verschiedene Stühle setzt“. Letztlich wird ihm doch ein Buchvertrag in einem renommierten Verlag angeboten: dtv bold ist das an einer jungen Zielgruppe orientierte Imprint des traditionsreichen dtv-Hauses und passt in Dziuks Augen sehr gut zu „Das Ting“.

In dem Roman geht es um eine Optimierungs-App, eben das Ting. Sie hilft ihren Nutzer:innen bei etlichen Lebensentscheidungen, kleinen wie großen. Dabei ist die Anwendung über Sensoren mit dem Körper des Nutzers verbunden und sammelt so Daten über den Hormonspiegel, die Herzfrequenz oder die Körpertemperatur. Gleichzeitig kann sie die Umwelt scannen und obendrein auf sämtliche Infos im Internet zugreifen. Das Ting lernt stetig dazu und soll seinen Usern dabei helfen, die besten Handlungsoptionen zu erfahren und zu befolgen. Dabei wird die App recht hartnäckig. Das merkt schließlich auch Linus, der Erfinder des Ting. Zusammen mit seinem polnischstämmigen Studienkollegen Adam, der Hackerin Niu und dem betriebswirtschaftlich vorgebildeten Unternehmersohn Kasper gründet er ein Start-up. Gleichzeitig gewinnt das Ting über alle Beteiligten immer mehr Macht. Denn: Um die App überzeugend vermarkten zu können, müssen sie an sie glauben.

Artur Dziuk recherchierte für seinen Roman in der Startup-Szene. Er las und führte Interviews mit Gründern und stieß dabei auf ein besonders häufig wiederkehrendes Motiv: die Idee, sich selbst zur besten Version seiner Selbst updaten zu können. Das Buch stieß größtenteils auf sehr gute Resonanz. Im Deutschlandfunk wurde „Das Ting“ als anregender, unterhaltsamer und spannender Roman besprochen, der Kulturspiegel des NDR sprach von einem „gelungenen Debüt“ und der Tagesspiegel bescheinigt Dziuk in seinem Roman, Science-Fiction und Wirtschaftskrimi „elegant miteinander zu verschneiden“.

In Dziuks nächstem Projekt soll es um ein gänzlich anderes Thema gehen. Dafür sucht er auch nach einer neuen Erzählweise. In den Augen des Autors verlangt jeder Inhalt nach einer anderen Sprache: „Ich wünsche mir, stilistisch variabel und lernfähig zu sein, um mich Inhalten so gut wie möglich nähern zu können.“ Zu seinen Einflüssen gehören dabei neben Gombrowicz und Lem vor allem amerikanische Erzähler:innen wie DeLillo, Pynchon, David Foster Wallace und Zadie Smith. Aber auch aktuelle polnische Autor:innen wie Olga Tokarczuk oder Szczepan Twardoch bewundert Dziuk. Unter den deutschsprachigen Schriftstellern nennt er vor allem Kehlmann und Ernst-Wilhelm Händler.

Dziuk ärgert es, wenn man ihn als „polnischen Autor“ bezeichnet: „Ich bin zwar in Polen geboren und stehe zu meiner Abstammung. Aber ich denke, träume, spreche und schreibe auf Deutsch.“ Dennoch will Dziuk auch nicht „deutscher Autor“ genannt werden, weil er auch diese Bezeichnung als unzulässige Vereinfachung betrachtet. Er fragt sich, was mit Schubladen wie „deutsch“ oder „polnisch“ gewonnen ist. Niemand erfahre dadurch etwas über ihn, es lade höchstens zu stereotypen Vorstellungen ein. „Wenn schon ein nationales Etikett sein muss“, so Dziuk, „dann polnisch-deutscher Autor.“

Zu seiner polnischen Heimat befragt, sagt Dziuk: „Ich weiß leider zu wenig darüber. Als Kind und Jugendlicher war mein Verhältnis zu Polen etwas getrübt.“ Im Gegensatz zum reichen West-Berlin wirkten die rostende polnische Industrielandschaft und die wachsende Armut auf den jungen Dziuk bedrückend. Auch wurde er von anderen Kindern mit „Der Germane ist da“ begrüßt, während er sich in Deutschland manchmal Polenwitze anhören musste. „Während ich als Kind in Berlin versucht habe, möglichst deutsch zu sein, habe ich mein polnisches Erbe vernachlässigt“, sagt der Autor. Neben seinem neuen Roman, über den Dziuk noch nichts verraten will, beschäftigt ihn deswegen ein weiteres Vorhaben: ein längerer Aufenthalt in Polen, um das Land seiner Geburt und seiner Familie besser kennenzulernen.

 

Anselm Neft, August 2020

 

Die Homepage des Autors Artur Dziuk: www.arturdziuk.de