Das Bewahren vor dem Vergessen. Der Friedhof Altglienicke in Berlin

Städtischer Friedhof Altglienicke im Südosten Berlins.
Städtischer Friedhof Altglienicke im Südosten Berlins.

Doch das Blatt begann sich vor 15 Jahren zu wenden, als der pensionierte Eisenbahningenieur Klaus Leutner das Geheimnis der unkenntlichen Grabfelder an der Friedhofsmauer lüftete, wo es noch bis vor kurzem nur eine wilde Mülldeponie gab: Papier, verwelkte Kränze und Blumen lagen herum und ... im Herbst faulten Blätter vor sich hin. Ein unscheinbarer Gedenkstein aus Beton zeigte zwar seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts den Bestattungsort der „antifaschistischen Kämpfer“ an, doch tatsächlich wusste niemand etwas darüber.

Klaus Leutner wusste zu berichten: „Zwischen 1940 und 1943 wurden dort 1.370 Urnen beigesetzt, darunter 80 Urnen von Hinrichtungsopfern aus dem Strafgefängnis Plötzensee.“ 

Heute wissen wir mehr: vermutlich handelte es sich um Gegner des Naziregimes, um Euthanasieopfer und um KZ-Häftlinge aus Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen ...

Was für uns Polen jedoch besonders wichtig ist, sind die 430 Landsleute, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden. Nach Jahren mühsamer Arbeit, vielen Korrekturdurchgängen, auch der polnischen Schreibweise der Namen, wurde die Liste nun von Paweł Woźniak, einem engagierten Mitglied der Polnischen Katholischen Mission, abschließend erstellt. Sie enthält nüchterne Geburts- und Sterbedaten der Opfer, manchmal aber auch Angaben darüber, welchen Beruf sie ausgeübt haben und woher sie stammten.

So wenig und doch so viel ...

Unter den Toten finden sich ein Bäcker, ein Tischler und ein Schlosser, erstaunlich viele aus dem Arbeitermilieu; junge Menschen, ermordet in den zwanziger Jahren ihres Lebens. Alle, die ich stichprobenartig überprüft habe, stammten aus den Kerngebieten der Zweiten Polnischen Republik. Warum sie festgenommen wurden und noch viel wichtiger, warum sie nach Berlin deportiert und dort oder in Sachsenhausen ermordet wurden, weiß man nicht. Wer waren sie, dass sie selbst für Reinhard Heydrich und seine Leute von Interesse waren? Wir werden es wohl nie erfahren. Oder finden sich doch vielleicht Spuren ihrer Schicksale nach September 1939 in den Chroniken der Städte und Dörfer, aus denen sie kamen?

 

„Vor dem Vergessen bewahren. Den Toten ihre Identität zurückgegen. Sie aus dem Teufelskreis der Anonymität herausreißen“, das war eine der Losungen für den vom Berliner Senat ausgelobten Wettbewerb, an die sich Klaus Leutner in unserem ersten Gespräch erinnerte. Für die Autoren des schließlich siegreichen Projekts, die Österreicher Katharina Struber und Klaus Gruber von der Arbeitsgemeinschaft struber_gruber, und das Architektenbüro outside - landschaftsarchitektur, sei die lebendige Erinnerung der Hauptimpuls für die Neugestaltung dieser Begräbnisstätte gewesen. In diesem Sinne entschieden sie sich dafür, für die dort Bestatteten jeweils eine Patenperson zu suchen, die mit ihrer Handschrift ausschließlich den Namen und die Lebensdaten des/der Verstorbenen festhalten sollte. Diese individuellen Schriftzüge, die hell im grünen Glas leuchten sollten, stellten für sie das Herzstück des Erinnerungsortes dar. Sie haben diese Form gewählt, da sie der Meinung waren, dass Erinnerung und Gedenken zwischen den heute lebenden Menschen entstehe. Durch die künstlerisch-architektonische Form der Gedenkstätte sollte ein Ort der Information und der Erinnerung geschaffen werden, der auch den Hinterbliebenen ein angemessenes Trauern ermöglichen sollte. Die Umsetzung der außergewöhnlichen Idee wurde jedenfalls durch die Beteiligung vieler nachgeborener Menschen geprägt.

Indessen war der Weg bis dahin alles andere als leicht, zumal wegen der visionären Gestaltung dieses Orts, die sich polnische Mitarbeiter der Katholischen Mission hatten einfallen lassen. Sie beklagten, dass es bei dem prämierten Projekt „keine Symbolik“ gäbe und führten weiter aus: „Ein wichtiges Symbol für uns Polen [Fettmarkierung des Autors – W.D.] – nicht nur für unsere Religion, sondern auch für die Zivilisation der letzten 1.000 Jahre – wäre ein Kreuz.“ Zudem sollten die Namen auf Steintafeln eingemeißelt werden. In diesem Zusammenhang fand Herr Woźniak das Projekt, das den Zuschlag bekommen hat und umgesetzt werden soll, „laienhaft“.

Ich frage mich, mit welchem Recht Woźniak seine Auffassung im Namen aller Polen vertritt und ob der polnischen Tradition tatsächlich nur das Meißeln in Stein und die Errichtung von Kreuzen überall dort, wo je ein Pole seinen Fuß hingesetzt hat, zuzuschreiben ist ... Was ist mit den jüdischen Häftlingen, die hier bestattet sind ...? An die hat Herr Woźniak wohl gar nicht gedacht. Und noch etwas: In der polnischen Welt werden Stimmen laut, die eine symbolische Umbettung der Asche eines ermordeten Opfers, beispielsweise eines Priesters, in seine Heimaterde verlangen. So zu sagen: „Als symbolische Geste: Ein Pole kommt nach 70 Jahren wieder nach Hause zurück.“

 

Ich frage: Warum soll es unbedingt die Asche eines polnischen Priesters und nicht die eines polnischen Handwerkers oder Schneiders sein? Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, dass Emotionen wieder einmal unnötig hochgekocht werden und die Vernunft ins Abseits gerät. Nur zur Erinnerung: In Urnen auf einem Erinnerungsfeld kann die Asche verschiedener im Friedhofsregister für die Bereiche U1 und U2 eingetragener Personen ruhen oder auch nicht (eine Garantie dafür gibt es nicht). Der Grund ist leicht nachzuvollziehen: In den Berliner Krematorien, ähnlich wie später auch im KZ Sachsenhausen, wurden in einem Ofen mehrere Personen auf einmal verbrannt und ihre Asche anschließend in einen Behälter gegeben. Die Exhumierung und die Umbettung nach Polen wäre daher nichts anderes als ein „Reliquienhandel“ für politische Zwecke.

Dies ist zum Glück unterblieben. Der Vorschlag der Katholischen Mission wurde nicht weiterverfolgt.

Die Umsetzung des Projekts ist für den Herbst 2020 vorgesehen. Die Realisierung hängt nur noch von den Fortschritten in der Herstellung der „gläsernen Gedenktafeln“ sowie ihrer sicheren Anbringung auf dem Friedhof ab.

Bisher ...

Am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, erschienen im Rathaus Köpenick sowohl Privatpersonen, wie auch Schüler benachbarter Schulen, Angehörige der Polizei und der Bundeswehr, um den Verstorbenen und Ermordeten ihre Identität mit einem jeweils individuellen Schriftzug zurückzugeben. Zu den „Schriftpaten“ gehörten auch Bedienstete der Stadtverwaltung sowie zufällig eingebundene Passanten und ... polnische Freunde.

Alle sind vor der Geschichte gleich.

Unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Beruf und ihrem Glauben.

Und so soll es auch bleiben.

 

Wojciech Drozdek, März 2020

 

Mehr über das Projekt und seine Umsetzung ist auf dieser Webseite im Internet zu finden: https://www.erinnerungsort-altglienicke.de/erinnern-und-gedenken-an-1364-tote/

 

Mediathek
  • Friedhof Altglienicke in Berlin

    Friedhof Altglienicke, allgemeine Ansicht, Oktober 2019
  • Das Urnenquartier

    Das Urnenquartier, (Stand: Herbst 2019)
  • Gedenkstein aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts

    Gedenkstein aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, Zustand 2020
  • Die Friedhofsmauer. Links der Urnenbereich.

    Die Friedhofsmauer. Links der Urnenbereich. Die Tafeln mit den Namen der Ermordeten werden rechts von der Mitte aufgestellt (Stand: Herbst 2019).
  • Vorstellung des Projekts im Rathaus Köpenick

    Vorstellung des Projekts im Rathaus Köpenick. Von links: Bürgermeister Oliver Igel, Anke Wünnecke (Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz) sowie die Autoren des Projekts, Klaus ...
  • Muster der Glastafeln

    Muster der Glastafeln mit den Namen der Naziopfer, die auf dem Friedhof Altglienicke ihre letzte Ruhe fanden.
  • Autoren des Projekts

    Katharina Struber und Klaus Gruber
  • Klaus Leutner mit Gattin Alina

    Klaus Leutner mit Gattin Alina
  • Klaus Leutner stellt den Beamten der Berliner Polizei das Projekt vor

    Klaus Leutner stellt den Beamten der Berliner Polizei das Projekt vor, 27.01.2020.
  • Oberst i. G. Werner Knappe

    Oberst i. G. Werner Knappe schreibt den Namen von Aleksander Dombrowski (gest. am 23.03.1941) nieder.
  • Klaus Gruber und Daniela Pietruszka

    Klaus Gruber und Daniela Pietruszka
  • Charlene Kretschmann

    Charlene Kretschmann wpisuje nazwisko Stanisława Chrząścika (gest. am 08.11.1940).
  • Lehrer Günter Thompl mit Schülern

    Lehrer Günter Thompl mit Schülern der Klasse 10/3 des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums in Berlin Lichtenrade.
  • Überprüfung der Schreibweise des Namens des ermordeten Walenty Ciecierski

    Korekta pisowni nazwiska jednego z zamordowanych: Walenty Ciecierski (gest. am 07.05.1941).
  • Rathaussaal Köpenick

    Rathaussaal Köpenick, 27.01.2020