Jesekiel Kirszenbaum – Ausstellung in Solingen

Beim Studium des Maimonides, Berlin 1925. Tusche auf Papier, 50 x 32 cm, Privatbesitz
Beim Studium des Maimonides, Berlin 1925. Tusche auf Papier, 50 x 32 cm, Privatbesitz

Die Initiative zur Ausstellung, so war bei der Eröffnung zu hören, ging von Bankdirektor Jürgen Vits (Frankfurt am Main) aus, Mitglied der Fördergesellschaft des Solinger Zentrums für verfolgte Künste und der Vereinigung Gegen das Vergessen - Für Demokratie e.V., der vor einigen Jahren eine persönliche Verbindung zu Kirszenbaum entdeckt hatte. Die Familie seines Großonkels hatte von 1942 bis 1944 in Belgien ein jüdisches Kind, Amos Diament, vor den Nationalsozialisten versteckt und war dafür 2004 von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt worden. Amos und sein von einer anderen belgischen Familie geretteter Bruder, Nathan Diament, die 1949 zusammen mit ihren Eltern, die ebenfalls in Belgien überlebten, nach Israel auswanderten, sind Großneffen von Jesekiel Kirszenbaum. Sie setzen sich seit rund fünfzehn Jahren dafür ein, dessen künstlerisches Erbe zu sichern und wieder in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Bei einem Treffen mit Vits in Israel entstand die Idee zu einer Ausstellung in Deutschland, die jetzt mit dem Zentrum für verfolgte Künste in Solingen (Abb. 1) verwirklicht werden konnte und die Werke aus dem Besitz der Familie und aus Privatsammlungen zeigt. Kuratiert wurde die Ausstellung von Nathan Diament (Tel-Aviv, Abb. 2), der seit Jahren Werke von Kirszenbaum in Archiven zahlreicher Museen und Sammlungen zutage fördert, 2012 ein Buch über seinen Großonkel herausgab, eine Webseite betreibt und weitere Ausstellungen initiierte, sowie von Jürgen Kaumkötter M.A., dem wissenschaftlichen Kurator und Leiter der Sammlungen des Solinger Zentrums. Vorangegangen war eine Ausstellung im Mimara-Museum in Zagreb. Bei der Ausstellungs-Eröffnung in Solingen waren Nathan und Amos Diament sowie Nachkommen jener belgischen Familien anwesend, denen sie ihre Rettung verdanken.

Die Ausstellung wird eingeleitet von zwei Tuschezeichnungen, die 1925 in Berlin, also unmittelbar nach Kirszenbaums Studium am Bauhaus, entstanden sind: „Beim Studium des Maimonides“ (Titelbild) und „Musiker und ihre Anhänger“. Ausgeführt in einem flächigen Stil mit sich überschneidenden geometrischen Formen reflektieren sie Kunstrichtungen der Zeit zwischen Dada und Kubismus. Die kontrastreiche schwarzweiße Gliederung erinnert an Holz- und Linolschnitte, wie sie in jenen Jahren von zahlreichen Künstlern als Illustrationen und Grafikbeilagen für Zeitschriften wie Der Sturm geschaffen wurden. Vielleicht waren sie sogar als Vorlagen für solche Illustrationen gedacht, denn Kirszenbaum arbeitete im selben Jahr bereits für die Berliner Zeitschrift Gebrauchsgraphik und hatte vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt durch seinen Studienfreund am Bauhaus, Paul Citroen (1896-1983), der enge Verbindungen zur Dada-Gruppe hatte, den Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm und zugleich Leiter der Sturm-Galerie, Herwarth Walden, kennen gelernt. Die Bildmotive sind Alltagsszenen aus dem Stetl, den jüdischen Siedlungen im östlichen Europa, wie Kirszenbaum sie aus seiner Kindheit und Jugend in Staszów, einer Stadt mit rund neuntausend Einwohnern und über der Hälfte jüdischer Bevölkerung, her kannte und sein Leben lang aus der Erinnerung in Bildern festhielt: das Studium der alten jüdischen Schriften im Cheder, der religiösen Grundschule, und die traditionellen Geigenspieler, zu deren Musik nicht nur die Leute der Stadt, sondern auch – man denke an ähnliche Motive von Chagall –allerlei Tiere zusammengelaufen sind.

Als Karikaturist für die Zeitschrift Ulk, die als Illustriertes Wochenblatt für Humor und Satire im Berliner Verlag von Rudolf Mosse erschien, präsentierte sich Kirszenbaum als weltläufiger Schilderer der großstädtischen Gesellschaft der „Goldenen Zwanzigerjahre“. Seine Karikaturen, die von 1926 bis 1929 im Ulk unter dem Pseudonym „Duwdiwani“, dem hebräischen Wort für „Kirschbaum“, erschienen  – in der Ausstellung durch Reproduktionen und zwei originale Sammelbände der Zeitschrift repräsentiert (Abb. 3-5)  – zeigen Typen der Weimarer Zeit daheim am Kaffeetisch mit der Sportbeilage des Berliner Tageblatts (Abb. 4), als Ausstellungsbesucher („Die Natur ist ganz einfach Kitsch, und ein Kerl, der sie abmalt, verursacht mir geradezu Brechreiz!“), als Zukunftsvisionäre „Im Jahre 2000“ oder als Alkoholiker während der amerikanischen „Prohibition“ („Ja, wir Alkoholiker haben’s schwer. Drei müssen immer Kulisse stehen, während der Vierte aus dem Fläschchen nuckelt!“, Abb. 5). Künstlerisch variieren sie von einem prägnanten Schwarzweißstil, wie er auch von anderen Zeichnern im Ulk oder in den Münchner Zeitschriften Jugend und Simplicissimus gepflegt wurde, bis hin zu bissig-dadaistischen Übertreibungen in einem linearen Duktus, wie man ihn von George Grosz kennt.

Eine Sammlung von persönlichen Dokumenten zeigt die wenigen Überreste, die von einem Leben zwischen Flucht und Verfolgung und im Exil geblieben sind und die somit besondere Schätze aus dem Besitz der Familie darstellen. Sie fungieren in der Ausstellung, in langer Reihe auf einem Pult unter Glas präsentiert, auch als Zeitleiste und als Ersatz für eine Biografie, die man sich am Beginn der Ausstellung gewünscht hätte. Zu sehen sind teils frühe Fotografien und eine maschinenschriftliche Autobiografie, aus der Erinnerungen an die Kindheit in Staszów zu lesen sind (Abb. 6, 7). Ausrisse aus Pariser Zeitungen und Zeitschriften von 1933 berichten über Ausstellungen, an denen Kirszenbaum nach seiner Flucht in Paris teilnahm und in denen er sich erfolgreich als junges Mitglied der École de Paris präsentierte. Schließlich sind Briefe zwischen Kirszenbaum und seiner Frau Helma aus dem Jahr 1940 zu sehen, nachdem er selbst 1939 bei Kriegsausbruch zunächst in ein Lager in Meslay du Maine östlich von Rennes deportiert worden war (Abb. 8). 1941 wurde er in ein Lager für ausländische Arbeiter in Bellac im Limousin abkommandiert. Auch seine Frau durchlief zunächst ein Lager in Gurs, wurde wieder entlassen, 1943 verhaftet und im Jahr darauf ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet.

Aus einem Brief nach Kriegsende, in dem sich der Künstler beim Generaldirektor der Königlichen Kunstmuseen in Brüssel nach einer Ausstellungsmöglichkeit erkundigte, ist herauszulesen, dass ihm 1942 die Flucht aus dem Arbeitslager gelang und er sich bis Kriegsende versteckte, während seine Wohnung in Paris mit sechshundert Kunstwerken von den Deutschen geplündert wurde. Über das Schicksal seiner Ehefrau habe er keine Nachricht, schrieb Kirszenbaum. Als er sich in einem weiteren Brief nach Brüssel über den Verbleib seines Freundes, des Malers Felix Nussbaum (1904-1944), erkundigte, erhielt er die Nachricht, dass Nussbaum und seine Frau von der Deportation in ein Konzentrationslager nicht zurückgekehrt seien (Abb. 9). Einladungskarten, Kataloghefte, Fotografien und das Plakat einer Retrospektive 1962 in der Pariser Galerie Karl Flinker berichten über Kirszenbaums künstlerische Tätigkeit bis zu seinem frühen Tod 1954 in Paris. Einzelausstellungen hatte er unter anderem 1946 in Lyon in der Maison de la Pensée Française, in Paris 1947 in der Galerie Quatre Chemins, 1951 in der Galerie André Weil und 1953 in der Galerie Au Pont des Arts. Vor allem aber kümmerte sich Baronin Alix de Rothschild, die nach dem Krieg verfolgten Künstlern half, um Kirszenbaum, nahm bei ihm Malunterricht, erwarb seine Werke und stellte dessen aktuelle Arbeiten, „Arts sacrés, sujets religieux“, 1947 in ihrem Anwesen in der Avenue Foch 21 in Paris aus. Außerdem nahm er 1946 an der Ausstellung der Künstlergruppe Salon de Mai teil, die sich 1943 während der deutschen Besetzung von Paris als Opposition zu den Nationalsozialisten gegründet hatte. Ebenfalls 1946 beteiligte er sich am Salon des Tuileries, 1947 an der Ausstellung der Künstlergruppe Les Surindépendants, deren Mitglied er im Jahr darauf wurde, und 1954 am Salon des peintres témoins de leur temps.

Durch den Verlust nahezu des gesamten Frühwerks sind in der Ausstellung lediglich ein  Gemälde aus der Berliner Zeit, nämlich ein Porträt von Sigmund Freud aus dem Jahr 1930 (Abb. 10, rechts), sowie drei Gemälde aus der ersten Pariser Periode bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Abhilfe hätten hier nur Leihgaben aus weit entfernten Museen schaffen können wie ein 1925 in Berlin entstandenes Selbstporträt im Frans Hals Museum in Haarlem oder jüdische Szenerien, die Kirszenbaum in den Dreißigerjahren in Paris malte und die in israelischen Museen aufbewahrt werden. Während das Freud-Porträt, zu dem nichts Näheres zu erfahren ist und das nach einer Fotografie gemalt sein kann, in seinem dunklen, fleckigen Malduktus, der steifen Haltung des Porträtierten und den grob ausgeführten Händen an Bildnisse von Oskar Kokoschka aus den Zehnerjahren oder von Chaim Soutine, eine Dekade später gemalt, erinnert, findet Kirszenbaum in Paris seinen eigenen Stil: Durch das Studium der Impressionisten in den Museen und Galerien und den Einfluss der École de Paris, die sich in dieser Zeit vor allem durch Zuwanderer aus Osteuropa beträchtlich erweiterte, wurde Kirszenbaum ein Meister der Grauwerte und der Zwischentöne, während einzelne leuchtende Farbereignisse seine Bilder gliedern. Der „Mann mit Zigarette“ (Abb. 10, Mitte), eine Farbtusche-Zeichnung von 1935, zeigt eine Alltagsszene aus Staszów. Die „Ankunft des Messias im Dorf“ (1939, Abb. 11) ist eine von mehreren ähnlichen Bildern des Künstlers, in denen er Jesus beim Einzug in Jerusalem so darstellt, als würde ein Chasside auf einem weißen Esel in Staszów oder in ein jüdisches Dorf hineinreiten. Kirszenbaum verbindet also die biblische Überlieferung mit der Erinnerung an das Leben im Stetl. Ein Bild von James Ensor, der „Einzug Christi in Brüssel“ (1888), mag bei der Idee Pate gestanden haben.

Nachdem der Künstler 1942 aus dem Arbeitslager in Bellac fliehen konnte, versteckte er sich in Limoges und schließlich bis zum Kriegsende in Lyon im unbesetzten Teil Frankreichs. Sowohl im Lager als auch im Untergrund entstanden Gemälde, von denen fünf in der Ausstellung zu sehen sind (Abb. 12): „Der Messias und die Engel erreichen das Dorf“ (1942, Abb. 13), auf dem eine große Menschenmenge und der Maler mit seiner Palette zu sehen sind, wie er die Szene im Bild festhält, ein „Wasserträger“ (1942, Abb. 14), wie Kirszenbaum ihn in seiner Kindheit in Staszów gesehen hat, ein „Jude auf einer winterlichen Straße“ (1942), ein „Holzsammler“ (1941) sowie eine Winterlandschaft von 1941, bei der unklar bleibt, ob sie eine Gegend in Polen oder in Frankreich zeigen soll. Drei Porträts: ein verschwommen, vermutlich aus der Erinnerung gezeichnetes Bildnis seiner verschollenen Frau Helma, ein Selbstporträt (1947) und ein um 1950 von Alix de Rothschild gezeichnetes Bildnis von Kirszenbaum (Abb. 15) leiten in die Nachkriegszeit über.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Ausstellung unter der Überschrift „Kunst nach der Shoa“ (Abb. 16) zusammengefasst, betrug nur neun Jahre in Kirszenbaums Leben. Aus ihr stammen aber zwangsläufig die meisten Werke. Anders als in den vorangegangenen Kapiteln stehen sie beispielhaft für größere Werkgruppen, die heute noch in Museen und Privatsammlungen vorhanden sind. Kirszenbaums persönliche Situation, so ist in der Literatur nachzulesen, war verzweifelt. Ohne Geld und Familie, am Boden zerstört durch den Verlust seiner Frau und seines Lebenswerks, musste er sich an den französischen Staat wenden um zu überleben. Er fand Freunde wie Alix de Rothschild, die ihm aus finanzieller und psychischer Not heraushalfen, ihn motivierten wieder künstlerisch zu arbeiten und an Ausstellungen teilzunehmen.

In seinen Gemälden beschäftigte er sich mit den Auswirkungen des Krieges. „Flucht einer Mutter mit zwei Kindern“ (1945, Abb. 16, links) variiert das Thema der ewig wandernden, heimatlosen und fliehenden Juden, das ihn schon seit 1938 in Zeichnungen, Radierungen und Gemälden beschäftigte. Mehrfach malte er Engel, die die „verloren Seelen des Stetls“, für die es „auf der Erde keinen Platz mehr gibt“ (Abb. 17), in die Ewigkeit tragen. Er malte Musiker (Abb. 18), die ebenso wie ein „Sitzender Hausierer“ und ein „Jüdischer Mann mit Tallit“ (beide um 1945, Abb. 19) die Erinnerung an die Volkstypen aus Staszów und der für immer verlorenen Welt des Stetls wachrufen. Einen „Trompeter“ (1946, Abb. 20) und einen „Violinisten“ (1949), beide im Galakostüm, könnte er auch in Paris gesehen haben. Beide verweisen auf ein anderes Thema, das Kirszenbaum in dieser Zeit bearbeitete, Clowns oder allgemeiner den Zirkus (in der Ausstellung nicht vertreten), das von den Malern der École de Paris häufig gewählt wurde, vor allem von Georges Rouault (1871-1958), mit dem Kirszenbaum befreundet gewesen sein soll. Die flächige, leuchtende Farbigkeit dieser Figurenbilder verweist auf die Gruppe der Fauves, vielleicht auf André Derain. Französischen Einfluss, offenbar den des jung verstorbenen Amedeo Modigliani (1884-1920), verrät auch das 1946 gemalte Porträt des jugendlichen Journalisten Robert Giraud (1921-1997, Abb. 21), den Kirszenbaum in Limoges kennen gelernt haben könnte, wo dieser als Mitglied der Résistance von den Deutschen verhaftet und mit dem Tod bedroht worden war und der seit Kriegsende in Paris lebte.

Kirszenbaums Rückbesinnung auf die Kindheit in Staszów führte in diesen Jahren auch zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Alten Testament und anderen religiösen Themen. Unter anderem schuf er ein monumentales Triptychon mit den Propheten Moses, Elija und Jeremias in lebensgroßen Formaten (1947), heute im Tel Aviv Museum of Art (nicht in der Ausstellung). In dieses Umfeld gehört auch eine Gruppe mit Bildnissen von christlichen Heiligen und jüdischen Denkern (1945-47), darunter von seinem eigenen Vater, teils in expressionistischem Duktus, teils im flächigen Stil der Fauves, jedoch meist in dunkleren Farben (Abb. 22-23). Auch die Projektion religiöser Thematiken auf den Ort seiner Kindheit nimmt er wieder auf, jetzt jedoch in prägnanter Farbigkeit: Wieder ist die „Ankunft des Messias im Stetl“ zu sehen, daneben ein „Vorüberfliegender Engel“ über den Gebäuden und Bewohnern der Stadt (beide von 1946), vor ähnlicher Kulisse die Entrückung des Propheten Elija auf einem geflügelten Pferd in einer aquarellierten Zeichnung von 1954, schließlich Juden „Vor einer christlichen Statue in der Stadt“ (um 1947) und kniende „Betende Frauen“ vor einer Mariensäule (1949) (Abb. 24). Erneut in den feinen Grautönen der frühen Pariser Zeit mit kleineren Farbereignissen erscheinen hingegen eine „Versammlung unter dem Baum“, vermutlich ebenfalls eine Erinnerung an Staszów, sowie eine nicht zu lokalisierende „Landschaft“, beide um 1947 entstanden, die in der Ausstellung aufgrund der stilistischen Kongruenz mit einem Blumenstillleben und einer „Landschaft mit Haus“ aus der Zeit der ersten Lagerhaft in Meslay du Maine von 1940 zusammengehängt worden sind (Abb. 25).  

Eine wesentliche stilistische Erweiterung erreichte Kirszenbaum, als er am Ende der Vierzigerjahre in einigen Arbeiten mit Wasserfarben die Grenze zur Abstraktion überschritt. Freie, eher organische Formen, wie sie Piet Mondrian und Wassily Kandinsky schon um 1910 erfanden, setzte Kirszenbaum jetzt zu abstrakten Geweben und Arabesken zusammen. Roger Bissière (1886-1964), Mitglied der École de Paris, fand in dieser Zeit zu Tableaus, in denen sich gegenständliche und abstrakte Formen mischen, wie es in Kirszenbaums „Abstraktem Garten“ (1949) und seinem „Fisch mit abstraktem Hintergrund“ (um 1948, Abb. 26, 27), der Fall ist. Deutlich ist der Einfluss von Paul Klee zu sehen, zu dem Kirszenbaum während seines Studiums am Bauhaus eine kollegial-freundschaftliche Beziehung pflegte und dessen Bedeutung für sein Schaffen er in seinen Erinnerungen festhielt. Auch Bissière hat sich in frühen Jahren an Klee orientiert.

1948/49 reiste Kirszenbaum nach Brasilien um den Erinnerungen, der traurigen Stimmung und den Zerstörungen in Europa zu entfliehen. Er fand nicht nur freundliche Aufnahme, sondern eine tropische Welt, die ihn zu Gemälden von Land und Leuten in reinen Farbflächen, noch in der Art der Fauves, aber auch von indigener Malerei beeinflusst, bis hin zu visionären Farbexperimenten inspirierten (Abb. 28, 29). Sogar Ausstellungen absolvierte er in dieser Zeit: 1948 in der Galeria Domus, der führenden Kunstgalerie in São Paulo, und noch im selben Jahr im Instituto de Arquitetos do Brasil in Rio de Janeiro. Nach seiner Rückkehr nach Paris, das ihm zur eigentlichen Heimat geworden war, wurde er 1949 französischer Staatsbürger. Reisen nach Marokko im Jahr 1950 und nach Italien schlossen sich an und erweiterten sein malerisches Interesse auf die Natur, vor allem auf exotische Früchte und Pflanzen. Sein Früchtestillleben von 1952 weckt motivische Reminiszenzen an Paul Cézanne, nähert sich in seinem gemäßigten Kubismus aber Pablo Picasso (Abb. 28).

In den Jahren 1951 bis 1953 schwer an Krebs erkrankt, starb Kirszenbaum 1954 in Paris. Die erste Retrospektive in Deutschland seit knapp neunzig Jahren im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen eröffnet den Blick auf ein für Fachleute und Kunstinteressierte völlig neues Werk, das zahlreiche Aspekte der Moderne in sich vereinigt und einen bislang unbeachteten Schüler des Bauhauses ins Licht der Öffentlichkeit rückt. Weitere Ausstellungen mit einem größeren Kreis an Leihgebern und eine intensivere wissenschaftliche Bearbeitung sind mit Spannung zu erwarten.

 

Axel Feuß, April 2019

 

Für Hilfestellung und Informationen danken wir dem Zentrum für verfolgte Künste (Solingen), Herrn Nathan Diament (Tel Aviv) und Frau Anna Taube (Goethe-Institut, Tel Aviv).

Literatur:

J.D. Kirszenbaum (1900-1954). The Lost Generation, herausgegeben von Nathan Diament und Caroline Goldberg Igra, Paris 2012

Johanna Linsler: Jesekiel David Kirszenbaum, entre aspiration révolutionnaire et mémoire du shtetl/Jesekiel David Kirszenbaum, zwischen revolutionärem Streben und Erinnerungen an das Schtetl, in: Anne Grynberg/Johanna Linsler (Herausgeberinnen): L’Irréparable. Itinéraires d’artistes et d’amateurs d’art juifs, réfugiés du „Troisième Reich“ en France/Irreparabel. Lebenswege jüdischer Künstlerinnen, Künstler und Kunstkenner auf der Flucht aus dem „Dritten Reich“ in Frankreich, Magdeburg 2013, Seite 265/290-313

J.D. Kirszenbaum (1900-1954). Retrospektiva/Retrospective, Ausstellungs-Katalog Muzej Mimara/The Mimara Museum, Zagreb 2018

Mediathek
  • Abb. 1: Kunsthalle Solingen

    Kunsthalle Solingen mit dem Zentrum für verfolgte Künste
  • Abb. 2: Nathan Diament

    Der Nachlass-Verwalter, Nathan Diament, während der Eröffnung
  • Abb. 3: Karikaturen und Dokumente

    Reproduktionen von Karikaturen und originale Dokumente aus Kirszenbaums Lebenszeit
  • Abb. 4: Der sportliche Hausfreund, 1927

    Sammelband der Zeitschrift Ulk mit der Karikatur von Kirszenbaum
  • Abb. 5: Drei Karikaturen, 1926

    Sammelband der Zeitschrift Ulk mit drei Karikaturen von Kirszenbaum
  • Abb. 6: Autobiografie

    Autobiografie von J.D. Kirszenbaum in der Solinger Ausstellung
  • Abb. 7: Fotografien

    Historische Fotografien von J.D. Kirszenbaum und seiner Familie
  • Abb. 8: Briefe, 1940

    Briefe von J.D. Kirszenbaum und seiner Frau Helma, 1940
  • Abb. 9: Dokumente, 1945/46

    Briefe und Ausstellungs-Einladungen, Paris und Brüssel, 1945/46
  • Abb. 10: Gemälde, 1930-40

    „Porträt Dr. Freud“, „Mann mit Zigarette“, „Kirche“
  • Abb. 11: Die Ankunft des Messias, 1939

    Die Ankunft des Messias im Dorf, 1939, Öl auf Leinwand
  • Abb. 12: Kunst im Untergrund

    Während der Lagerhaft und im Untergrund entstandene Gemälde, 1941/42
  • Abb. 13: Der Messias und die Engel, 1942

    Der Messias und die Engel erreichen das Dorf, 1942, Öl auf Leinwand
  • Abb. 14: Wasserträger, 1942

    Wasserträger, Staszów, 1942, Öl auf Leinwand
  • Abb. 15: Drei Porträts, 1945-50

    Porträt von Kirszenbaums Frau Helma, 1945; Selbstporträt, 1947; Porträt Kirszenbaum von Alix de Rothschild, 1950
  • Abb. 16: Kunst nach der Shoa

    Flucht einer Mutter, 1945; Die Liebenden, um 1949; In unserer Welt gibt es keinen Platz für Juden, 1947; Engel, eine verlorene Seele des Stetls tragend, 1946
  • Abb. 17: Kein Platz für die Juden, 1947

    In unserer Welt gibt es keinen Platz für die Juden, 1947, Öl auf Leinwand
  • Abb. 18: Der blinde Geiger, 1945

    Der blinde Geiger, 1945, Öl auf Leinwand
  • Abb. 19: Volkstypen aus Staszów, um 1945

    Sitzender Hausierer; Jüdischer Mann mit Tallit, beide um 1945, Öl auf Leinwand
  • Abb. 20: Trompeter, 1946

    Der Trompeter, 1946, Öl auf Leinwand
  • Abb. 21: Porträt Robert Giraud, 1946

    Porträt Robert Giraud, 1946, Öl auf Leinwand
  • Abb. 22: Denker, Heiliger 1945/47

    Der Denker, 1945; Heiliger, 1947, Öl
  • Abb. 23: Jüdische Denker, 1945/46

    Apostel, 1946; Der Denker, um 1945; Mann mit Stock, 1946; Vater des Künstlers, 1945
  • Abb. 24: Staszów in religiöser Thematik

    Gemälde mit religiösen Themen, die in Staszów spielen
  • Abb. 25: Landschaften

    Landschaften und Blumenstillleben, 1940-47
  • Abb. 26: Wege zur Abstraktion

    Abstrakte und abstrakt-gegenständliche Bilder, 1949-54
  • Abb. 27: Fisch, um 1948

    Fisch mit abstraktem Hintergrund, um 1948, Aquarell
  • Abb. 28: Exotische Motive

    Stillleben mit Banane, 1952; Brasilianerin mit Kind, undatiert
  • Abb. 29: Brasilianische Masken, um 1949

    Brasilianische Masken, um 1949, Gouache