Wie ein polnischer Jude die Nazi-Zeit in Frankfurt überlebte: Leopold Tyrmands autobiographischer Roman „Filip“

Der Schriftsteller und Bestsseller-Autor Leopold Tyrmand, Warschau 1947
Der Schriftsteller und Bestsseller-Autor Leopold Tyrmand, Warschau 1947

„Solange ich zurückdenken kann, hatte sich in meinen eigenen Abgründen immer eine leichte Tendenz verborgen, mich oberflächlich durch die Gefilde des Lebens zu schlängeln, keine dauerhaften Entscheidungen zu fällen, die Tiefgründigkeit von Schicksal, Bindungen und Gefühlen zu meiden. Mein besserer Teil focht einen unaufhörlichen Kampf gegen diese Neigung, die mich nur allzu oft zu einer gefährlichen Halbherzigkeit verleitete“, resümiert der 23-jährige, dessen vorgebliche Unbekümmertheit ihn nicht nur in gefährliche Situationen bringt, sondern auch nicht über die Ängste und Sehnsüchte eines jungen Erwachsenen hinwegtäuschen kann: Als Filip die junge Hella, Tochter eines hohen deutschen Reichswehroffiziers, kennenlernt und sich in sie verliebt, lugt schließlich immer öfter sein wahres Gesicht hinter der Maske des Filou hervor. Es zeigt sich ein sensibler junger Mann, der verzweifelt versucht, sich von dem Wahnsinn des Krieges nicht brechen zu lassen. Ein junger Mann, der sich nach Nähe und Geborgenheit sehnt. Um seine Angebetete zu erobern, kehrt er dem Kellnerdasein im Parkhotel den Rücken. Und es treten neue Figuren und neue Turbulenzen in sein Leben: die Baronin von Wrangel, die ihm zu einer Anstellung als Bibliothekar verhilft. Der Pole Ziutek, der ihm einen Fremdenpass besorgt. Und der Italiener Dino, der Hitler-Anhänger Janowsky und der Deserteur Max. Hinzu kommen die immer schwerer werdenden Bombardierungen der Stadt durch die Alliierten, ein Verhör bei der Gestapo und eine Ermordung, die Filip schmerzhaft daran erinnern, wie die wahre Kriegsrealität aussieht …

 

Der autobiographische Hintergrund: Leopold Tyrmand

Es ist ein lebendiges Stimmungsbild einer deutschen Großstadt während des Zweiten Weltkriegs aus einer noch wenig bekannten Perspektive, für das der Schriftsteller Leopold Tyrmand in seinem Roman „Filip“ auf seine eigene Lebensgeschichte zurückgreifen konnte. Tyrmand entstammte einer assimilierten jüdischen Familie und wurde 1920 in Warschau geboren. Nach dem Abitur studierte er ein Jahr lang an der Pariser Akademie der Künste, kehrte aber 1939 nach Polen zurück. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen floh er nach Vilnius, wo er sich dem Widerstand anschloss und 1941 vom sowjetischen Volkskommissariat für innere Angelegenheiten NKWD (Narodnyj kommissariat wnutrennich del) festgenommen wurde. Durch den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion gelang ihm die Flucht. Mit Hilfe gefälschter Dokumente gab er sich als Franzose aus und meldete sich zum freiwilligen Arbeitseinsatz in Deutschland, um anschließend über Deutschland nach Frankreich fliehen zu wollen. Die Jahre 1942/43 verbrachte er ­– wie in seinem autobiographischen Roman sein Alter Ego – überwiegend kellnernd im Rhein-Main-Gebiet. Bei seinem Vorhaben, als Matrose ins neutrale Schweden zu gelangen, wurde er von den Behörden aufgegriffen und im KZ Grini bei Oslo festgesetzt, wo er das Ende des Krieges erlebte. Seine Eltern wiederum gerieten während der deutschen Besetzung Polens in Gefangenschaft. Sein Vater wurde im KZ Majdanek bei Lublin ermordet. Seine Mutter überlebte den Holocaust und emigrierte nach Kriegsende nach Palästina. Nach Kriegsende kehrte Tyrmand nach Warschau zurück, wo er einer der schillerndsten polnischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und ein renommierter Bestseller-Autor werden sollte. Wegen seiner Kritik am sowjetischen Regime hatte er ab 1954 zunehmend Probleme mit der Zensur und schließlich ein Publikationsverbot. Leopold Tyrmand emigrierte 1966 in die USA. Er starb 1985 in Fort Myers, Florida.

In Polen zählt der Schriftsteller und Geistesvater des Romans „Filip“ zu den beliebtesten Autor:innen seines Heimatlandes. Und auch in Deutschland wurde er zu Lebzeiten von deutschen Literaturkreisen viel beachtet, seine regimekritischen Romane wie „Der Böse“ (1956) und „Ein Hotel in Darlowo“ (1962) früh ins Deutsche übersetzt. Unerklärlich warum ausgerechnet sein autobiographischer Roman über den Überlebenswillen eines polnischen Juden im Nationalsozialismus so lange auf seine deutsche Übersetzung hat warten müssen. Nun aber, 60 Jahre nach der Veröffentlichung in Polen, liegt die lesenswerte deutschsprachige Erstausgabe in der Übersetzung von Peter Oliver Loew vor – und lädt dazu ein, den polnischen Schriftsteller Leopold Tyrmand und seine Lebensgeschichte (wieder-)zuentdecken.

 

Katarzyna Salski, Januar 2022

 

Zum Buch:

Leopold Tyrmand: Filip. Roman. Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2021. 632 Seiten, 24 Euro, ISBN 9783627002848.

 

Mediathek
  • Zeugnis von Leopold Tyrmand des Schuljahres 1931/32

    Zeugnis von Leopold Tyrmand des Schuljahres 1931/32 am Jan-Kreczmar-Gymnasium in Warschau (Gimnazjum imienia Jana Kreczmara w Warszawie).
  • Historisches Gebäude des Parkhotels

    Das historische Gebäude des Parkhotels am Wiesenhüttenplatz in Frankfurt existiert noch heute.
  • Leopold Tyrmand, 1947

    Leopold Tyrmand als Berichterstatter beim Davis Cup in Warschau, 1947.
  • Ausweisdokument, 1953

    Ausweisdokument von Leopold Tyrmand mit Passfoto und Fingerabdrücken, 1953.
  • „Filip“. Roman von Leopold Tyrmand

    „Filip“. Roman von Leopold Tyrmand, übersetzt von Peter Oliver Loew. Buchcover: Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2021.