Tadeusz Kantor in Nürnberg

Auf dem Bild Tadeusz Kantor bei der Premiere von “Die Künstler sollen krepieren” in Nürnberg am 2.Juni 1985.
Tadeusz Kantor war bei seinen Theateraufführungen stets mit den Schauspielern auf der Bühne. Manchmal gab er noch Hinweise, rückte noch schnell einen Gegenstand im Bühnenbild zurecht oder saß einfach nur auf einem Stuhl an der Seite und schaute zu.

Als Tadeusz Kantor am 29. April 1985 in den Flieger von Warschau nach Nürnberg steigt, begleitet ihn sein inzwischen auch im Westen berühmtes Theater “Teatr Cricot 2“. Sie bringen ihr neues Stück mit nach Deutschland, eine Uraufführung, mit der sie mal wieder einen Meilenstein der Theatergeschichte verrücken werden: “Die Künstler sollen krepieren“ (Niech sczezną artyści).

Das “Teatr Cricot 2“ um den Künstler, Maler, Bühnenbildner, Regisseur und Dramaturgen Tadeusz Kantor begann die Arbeit an dem Stück “Die Künstler sollen krepieren“ im Januar 1985 in seiner Heimatstadt Krakau. Die Einladung nach Nürnberg kam von Dr. Karl Gerhard Schmidt, der damals Inhaber der größten privaten Bank in der Bundesrepublik war. Schmidt, Kunstsammler und  großzügiger Kunstmäzen, hatte in der Bank als polnischer Honorarkonsulat in Nürnberg sein Domizil gefunden. Karl Gerhard Schmidt wurde Ende der 70er Jahre auf Tadeusz Kantor aufmerksam, als er sich 1977 das Stück “Die tote Klasse“ (Umarła klasa) in der Alten Messehalle in Nürnberg anschaute. Er war von der Vorstellung begeistert und Kantor wurde zu “seinem“ Künstler. Schmidt besuchte Kantor in Krakau und schaute sich “Die tote Klasse“ an seinem Ursprungsort, dem Theater Kszysztofory, an. Zusammen mit dem “Institut für Moderne Kunst“ aus Nürnberg und dem “Centro di Ricerce Teatrali“ aus Mailand war Karl Gerhard Schmidt nun selbst Produzent eines Meisterwerkes des großen Tadeusz Kantor.

Tadeusz Kantor wurde am 06. April 1915 in Wielopole, 130 Kilometer östlich von Krakau, geboren. Wielopole war damals eine polnisch-jüdische Kleinstadt im Grenzgebiet der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Sein Vater, der ebenfalls einen Drang zum Theater hatte, war Dorflehrer und kämpfte während des I. Weltkrieges als Soldat der polnischen Unabhängigkeitsarmee. Tadeusz Kantor wuchs ohne seinen Vater auf. Deshalb blieb seine Mutter, Helena Berger, bis zu ihrem Tod Tadeusz Kantors wichtigste Bezugsperson. Seine Schulzeit verbrachte er in der Dorfschule in Wielopole und auf einem Tarnówer Gymnasium, an dem er 1933 das Abitur ablegte. Im Herbst 1933 begann Kantor sein Jurastudium an der Jagiellonen-Universität in Krakau, allerdings hielt er es nur zwei Wochen durch. Schnell wechselte er an die private Malschule von Zbigniew Pronaszko (Wolna Szkoła Malarstwa) und begann im November 1934 das Studium der Malerei an der Akademie der Schönen Künste (Akademia Sztuk Pięknych) in Krakau. Hier inszenierte er bereits seine ersten Theaterstücke. Die Akademie beendete er am 12. Dezember 1939 mit Auszeichnung. In den Kriegsjahren engagierte er sich für eine Künstler-Theater-Gruppe im Untergrund und gründete 1942 sogar sein eigenes Theater mit dem Namen “Teatr Niezależny“ (Das Unabhängige Theater). Die erste Vorstellung des “Teatr Niezależny“ war Balladyna (1943) von Juliusz Słowacki.

Nach dem Krieg arbeitete Tadeusz Kantor zuerst als Bühnenbildner am “Stary Teatr“ (Das Alte Theater) in Krakau. Während der ganzen Zeit trennte sich Tadeusz Kantor jedoch nie von seiner Malerei. 1946 wurde sein Bild “Portret malarza“ (Ein Portrait des Malers) im Rahmen der ersten Internationalen Ausstellung der Gegenwartskunst im Pariser Palais Chaillot gezeigt. Viele Einzel- und Gruppenausstellungen sollten folgen. Tadeusz Kantor erhielt ein Künstlerstipendium des polnischen Ministeriums für Kunst und Kultur und verbrachte ein halbes Jahr in Paris. Nach seiner Wiederkehr im Jahr 1947 wurde Tadeusz Kantor als Professor an die Staatliche Kunsthochschule (damals noch Akademie der Schönen Künste) in Krakau berufen. Aufgrund  anonymer Verleumdungen und Berichte eines Parteifunktionärs wurde er 1950 der Hochchule verwiesen und arbeitete erneut als Bühnenbildner im “Stary Teatr“ und im “Teatr Słowackiego“ in Krakau.

Im Herbst 1955 gründete er zusammen mit Maria Jerema und Kazimierz Mikulski das Theater “Teatr Cricot 2“ (angelehnt an die in Krakau von 1933 bis 1939 agierende Theatergruppe “Teatr Artystów Cricot”), das im Prinzip die Arbeit von Kantors “Teatr Niezależny“ fortsetzte. Mit Cricot 2 inszenierte Kantor: “Mątwa“ (Tintenfisch, 1956), “W małym dworku“ (Im kleinen Landhaus, 1961), “Wariat i zakonninca“ (Der Narr und die Nonne, 1963) “Kurka Wodna” (Das Wasserhuhn, 1967), “Szewcy” (Die Schuster, 1972) “Nadobnisie i koczkodany” (Grazien und Vogelscheuchen, 1973), “Umarła klasa” (Die tote Klasse, 1975), “Wielopole, Wielopole” (1980), “Niech sczezną artyści” (Die Künstler sollen krepieren, 1985), “Nigdy tu już nie powrócę” (Ich kehre hier niemals zurück, 1988), “Dziś są moje urodziny” (Heute ist mein Geburtstag, 1991). Spätestens seit “Umarła klasa“ war Cricot 2 aus der Geschichte des Theaters nicht mehr wegzudenken. Es folgten internationale Tourneen, Preise und Auszeichnungen. Tadeusz Kantor wurde mit seinem Ensemble zum Erneuerer des europäischen Theaters der Nachkriegszeit. Er arbeitete bis zum Schluss auf der Bühne. Am 8. Dezember 1990 stirbt Tadeusz Kantor in Krakau.

Dass Tadeusz Kantor zu einem der bedeutendsten Künstler seiner Zeit werden würde, ahnt der Bankier und Kunstmäzen Karl Gerhard Schmidt bereits 1977 und er weiß es mit Sicherheit spätestens 1985, als er Tadeusz Kantor mit dem Stück “Die Künstler sollen krepieren“ nach Nürnberg holt. Ende April 1985 reist die Gruppe nach Nürnberg, um die in Krakau angefangenen Proben zusammen mit italienischen Schauspielern fortzusetzen. Die Proben gestalten sich nicht einfach, Kantor ist launisch, mal unhöflich, mal zuvorkommend. Barbara Ziegler, die für den organisatorischen Teil des Aufenthalts von Kantor und Teatr Cricot 2 zuständig war, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Doch Schmidt springt ein und meistert die Situation mit Bravour und einem Trick. Zu den Proben kommt er mit seiner Ehefrau, wohlwissend, dass sich der Gentleman der alten Schule, Tadeusz Kantor, bei ihrer Anwesenheit ruhiger verhalten wird. Die Premiere findet wie geplant am 2. Juni 1985 statt. Im Mittelpunkt des Stückes stehen die Vergänglichkeit, das Sterben, der Tod und die Rituale nach dem Tod. Wie bei den anderen Werken von Tadeusz Kantor gibt es auch hier keine richtige Handlung. Es sind alte Bilder, vergilbte Fotografien, verschwommene Erinnerungsfetzen, große historische Ereignisse und das kleine Leben in Hinterhöfen, die das Gerüst und die Grundlage für das Universelle bilden.

Im Zentrum der Kantorschen Idee steht auch hier das “Zimmer“, diesmal auf einem Friedhof, auf dem die fast vergessenen Toten wie in einem spirituellen Akt auferstehen. Es gibt einen kränklichen sechsjährigen Jungen, eine groteske Armee von Offizieren, die wie Zinnsoldaten anmuten, einen General auf einem Pferdeskelett, für Kantor typische Figuren “niedriger Art” wie den “Kartenspieler”, die “Prostituierte”, den “Erhängten”, den “Gefängniswärter”, die “Tellerwäscherin”, die “Prüde” und den “Schmutzfink”, die immer wieder in der Kantorschen Kunst auftauchen. Dazwischen agiert Veit Stoß, einer der berühmtesten Künstler des Mittelalters (geb. um 1447 in Horb am Neckar, gest. 1533 in Nürnberg), eine der wichtigen künstlerischen Bezugspersonen für Kantor. Es ist ein Kantorsches Spektakel, in dem das Leben des großen Künstlers, der Tod und die Vergänglichkeit sich in einer scheinbar nie endenden Revue offenbaren.

Die speziell für das Teatr Cricot 2 umfunktionierte Industriehalle der Alten Gießerei Kabelmetal in Nürnberg ist an dem Abend der Premiere am 2. Juni 1985 und an den folgenden fünf Vorstellungen ausverkauft. Es ist ein voller Erfolg für Tadeusz Kantor und für die Nürnberger Theaterwelt (der Applaus dauerte 15 Minuten lang). Das Institut für Zeitgenössische Kunst und der dazugehörige Verlag geben daraufhin reichlich bebilderte Bücher zum Aufenthalt Tadeusz Kantors in Nürnberg und zu seiner Kunst heraus. Darunter auch der bis dahin umfangreichste Sammelband Kantors theoretischer Texte “Ein Reisender. Seine Texte und Manifeste“. Karl Gerhard Schmidt kann sich bis heute als Besitzer zahlreicher Kunstwerke von Tadeusz Kantor glücklich schätzen. Seine private Sammlung befindet sich in Nürnberg.

 

Adam Gusowski, April 2015

 

Zusatzinformationen:

Die Nürnberger Weltpremiere  von “Die Künstler sollen krepieren“ war nicht der erste Aufenthalt Kantors in Deutschland. Bereits 1959 stellte Tadeusz Kantor seine Bilder in der Kunsthalle in Düsseldorf und auf der Documenta 2 in Kassel aus. 1964 war er mit seinen Bildern in Bochum auf der Profile IV vertreten. Etwas länger blieb er 1966 in Baden-Baden, wo er mit deutschen Schauspielern das Stück “Der Schrank“ inszenierte. Mit dem Stück bereiste er die Städte München, Heidelberg, Bochum und Essen. 1977 stellte er in der Galerie Ricard in Nürnberg aus. Im selben Jahr nahm er an der Documenta 6 in Kassel teil. Ebenfalls 1977 zeigte er seine “Tote Klasse“ in Nürnberg (Alte Messehalle) und Erlangen (Theater in der Garage). Das Nürnberger Schauspielhaus zeigte 1981 “Wielopole, Wielopole“. Diese Stück präsentierte Cricot 2 1986 ebenfalls in West-Berlin, zusammen mit dem Stück “Die Künstler sollen krepieren“ in der Theatermanufaktur. In Berlin (West) hatte Tadeusz Kantor im selben Jahr eine Einzelausstellung in der Galerie Eva Poll.  Seine “Maszyna miłości i śmierci“ (Die Maschine der Liebe und des Todes) zeigte er 1987 im Rahmen des Theaterprojektes “Spiel Räume“ bei der Documenta 8 im Staatstheater in Kassel. 1988 gastierte Cricot 2 mit “Nigdy tu już nie powrócę“ (Ich kehre hier niemals zurück) in der Akademie der Künste in West-Berlin. Zwei Jahre später stellte die Galerie Eva Poll Kantors Zeichnungen aus. Auch das letzte Stück, das nach dem Tod von Tadeusz Kantor von den Schauspielern des Teatr Cricot 2 zu Ende inszeniert wurde, “Dzis są moje urodziny“ (Heute ist mein Geburtstag), wurde mehrmals in Deutschland gezeigt, unter anderem im Hebbeltheater in Berlin.

 

Wichtige Auszeichnungen (Auswahl)

 

1976 - Ehrenpreis für “Umarła klasa” (Die tote Klasse) auf dem 17. Festival Polnischer Gegenwartskunst in Wrocław (Breslau)

1976 - Boy-Preis für “Umarła klasa” (Die tote Klasse)

1977 - Norwid-Kritikerpreis für “Umarła klasa” (Die tote Klasse)

1978 - Hauptpreis in Caracas für “Umarła klasa” (Die tote Klasse)

1978 - Rembrandt-Preis einer internationalen Jury der Goethe-Stiftun in Basilea für den realen Beitrag in die Gestaltung der Kunst unserer Epoche

1980 - OBIE-Preis der New Yorker Theaterkritiker (USA) für das Jahr 1979 für “Umarła klasa” (Die tote Klasse)

1981 - Preis des Ministerium für Kunst und Kultur I. Grades  im Bereich Theater für bühnenbildnerische Tätigkeit.

1982 - ein Dyplom (Diplom) des Außenministers der Volksrepublik Polen für die Verbreitung polnischer Kultur im Ausland

1986 - "Targa Europea"-Preis für bedeutende Vertreter der Kultur und Bildung (Italien)

1986 - Preis der New Yorker Kritiker für die beste Brodway-Vorstellung (Regie und Schauspieler) für "Niech sczezną artyści" (Die Künstler sollen krepieren)

1989 - Der Ordre des Arts et des Lettres (Orden der Künste und der Literatur), Frankreich

1990 - Das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für bedeutenden Einfluß auf die Gegenwartskunst in Europa und für Verdienste um Beleben der Kultur in der Bundesrepublik Deutschland

Mediathek
  • “Die Künstler sollen krepieren”

    Tadeusz Kantor bei den Arbeiten an dem Stück “Die Künstler sollen krepieren”, Mai 1985.
  • Premiere

    Eine Szene aus dem Stück “Die Künstler sollen krepieren” von Tadeusz Kantor. Die Premiere war am 2. Juni in Nürnberg.
  • “Die Künstler sollen krepieren”

    Eine Szene aus dem Stück “Die Künstler sollen krepieren” von Tadeusz Kantor. Das Foto entstand bei der Premiere am 2. Juni 1985 in Nürnberg.
  • “Die Künstler sollen krepieren”

    Eine Szene aus dem Theaterstück “Die Künstler sollen krepieren” von Tadeusz Kantor. Das Foto entstand bei der Premiere am 2. Juni 1985 in Nürnberg.
  • Tadeusz Kantor

    Tadeusz Kantor mit seinem Cricot 2 bei den Arbeiten an dem Stück “Die Künstler sollen krepieren” in Nürnberg. Mai 1985.
  • “Die Künstler sollen krepieren”

    Eine Szene aus dem Stück “Die Künstler sollen krepieren” von Tadeusz Kantor. Das Foto entstand bei der Premiere am 2. Juni 1985 in Nürnberg.
  • Tadeusz Kantor als Taktgeber

    Tadeusz Kantor als Taktgeber. Der Künstler und Regisseur war ein Perfektionist und verlangte stets die perfekte Umsetzung seiner Ideen. Manchmal musste er auch etwas vormachen.
  • Tadeusz Kantor in Nürnberg - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku"

    In Zusammenarbeit mit "COSMO Radio po polsku" präsentieren wir Hörspiele zu ausgewählten Themen unseres Portals.