Deutsch-Polnische Schulbuchkommission

Polnische und deutsche Mitglieder der Schulbuchkommission bei der Verleihung des Viadrina-Preises im Juni 2017.
Polnische und deutsche Mitglieder der Schulbuchkommission bei der Verleihung des Viadrina-Preises im Juni 2017.

Die erste Tagung der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission fand vom 22. bis 26. Februar 1972 mit Historikern und Geographen aus beiden Ländern in Warschau statt. Da der Kalte Krieg und die fehlenden diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen einen offiziellen Dialog lange Zeit unmöglich machten, gingen diesem Treffen jahrelange informelle Kontakte und Bemühungen der Wissenschaftler voraus.

Wegbereiter der deutsch-polnischen Schulbuchdiskussion in der Nachkriegszeit war der Oldenburger Gymnasiallehrer Enno Meyer (1913-1996), der im Zweiten Weltkrieg Wehrmachtssoldat war. Seine Erlebnisse an der Ostfront bewogen Meyer in der Nachkriegszeit dazu, die polnische Geschichte zu erforschen. Sein Ziel bestand darin, in den Schulbüchern eine möglichst breit gefächerte Darstellung der deutsch-polnischen Themen zu erreichen, ohne sie einer nationalen, also einseitigen, Sichtweise preiszugeben. Diese Überlegungen stimmte Meyer mit polnischen Wissenschaftlern ab, die damals im Exil lebten. Daraufhin veröffentlichte das Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig 1956 seine 46 Thesen. Meyer warnte in ihnen unter anderem vor der übermäßigen Verherrlichung des Deutschen Ordens in den deutschen sowie vor der Herausstellung seiner militärischen Rolle in den polnischen Schulbüchern. Außerdem sprach er darauf an, dass die Deutschen auf das Leid der jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg fokussiert seien, während sie über das Unrecht hinwegsähen, das den Polen und anderen Nationalitäten unter der deutschen Besatzung angetan worden war.

Meyers Thesen, die zu großen Kontroversen führten, stießen jedoch auf starke Resonanz der Wissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen. Sie formulierten das Kernproblem, obwohl es lange nicht gelang, einen offiziellen Dialog aufzunehmen. Einen ebenso wesentlichen Beitrag zu Gründung der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission leistete auf der deutschen Seite der Pädagoge, Ethnologe und Historiker Georg Eckert (1912-1974), seit 1964 Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission. Er knüpfte Kontakte in den mittel- und osteuropäischen Ländern und engagierte sich gemeinsam mit ihnen für die Gründung bilateraler Schulbuchkommissionen. 

Dem ersten Treffen der Wissenschaftler im Rahmen der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission ging eine spürbare Verbesserung der Beziehungen auf Regierungsebene voraus. Am 7. Dezember 1970 wurde in Warschau der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“ unterzeichnet, in dem die Bundesrepublik Deutschland die Westgrenze Polens an der Oder und Neiße anerkannte. Darüber hinaus verpflichteten sich die Regierungen beider Länder, sich für die Erweiterung ihrer wechselseitigen wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen einzusetzen. An diesem Tag kam es mit dem Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal der Helden des Ghettos in Warschau auch dazu, der ermordeten Menschen mit einer historischen Geste zu gedenken, die im Laufe der Zeit zu einem Symbol seiner Politik der Verständigung mit dem Osten wurde. 

Trotz der Entspannungspolitik zwischen beiden Ländern wurde das erste Treffen der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, das 1972 in Warschau stattfand, in den Kreisen der Wissenschaftler eher interessiert als mit Enthusiasmus und in der Hoffnung auf eine schnelle Einigung in den anstehenden Fragen aufgenommen. Dies belegen die Aussagen der Konferenzteilnehmer:

„Der erste Kontakt hatte etwas von gegenseitigem Abtasten. Im Prinzip kannten wir uns ja gar nicht. Die Kontakte zwischen den westdeutschen Historikern und uns waren ja unterbrochen gewesen. Ich muss schon sagen, dieser erste Versuch war sehr sympathisch. Das waren alles Fachleute mit eigenen Thesen. Aber all diese standen im Dialog.“[1] So erinnerte sich der polnische Historiker Professor Gerard Labuda (1919-2010) als Mitglied der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission in den Jahren 1972 bis 1989.

Eine ähnliche Einschätzung brachte der Berliner Historiker Professor Klaus Zernack (geb. 1931) zum Ausdruck:

„Mit einem politischen Realismus des ersten und vielleicht zweiten Blicks ist der Sache kaum eine Chance einzuräumen gewesen. Wenn man sich das Jahr 1972 vor Augen hielt, konnte man sagen: Gut, den Versuch kann man machen, aber da wird nicht viel herauskommen”[2]      

Gleichwohl endete die Konferenz mit der Veröffentlichung von 14 Empfehlungen zur Behandlung der deutsch-polnischen Beziehungen in den Schulbüchern der Fächer Geschichte und Geographie. Kaum zwei Monate später fand vom 12. bis zum 15. April 1972 das zweite Treffen der Wissenschaftler in Braunschweig statt, das mit der Vorstellung weiterer 17 Expertenempfehlungen für die Lehrbücher zu Ende ging. Die Wissenschaftler, die an dieser Schulbuchkonferenz teilnahmen, resümierten in ihrem Abschlussbericht, dass die Konferenz „in einer offenen, sachlichen, wissenschaftlich anregenden Atmosphäre statt[fand], die die Verständigung begünstigte.“[3] Zudem riefen sie dazu auf, die Ergebnisse der Konferenz unverzüglich in die Praxis einzuführen und im Unterricht umzusetzen.

Beide Empfehlungslisten betrafen Deutungsprobleme von der Entstehung der ersten Staatsformen auf den heutigen Gebieten Polens und Deutschlands, über die Leistungen Polens im Zeitalter der Renaissance, über die Reformation in Deutschland und die Zeit der Teilungen Polens bis zum Zweiten Weltkrieg. Hinsichtlich der letzten Zeitperiode wurde im Hinblick auf die breit gefächerte Thematik entschieden, sich bei den nächsten Treffen detaillierte mit ihr zu befassen. Die weiteren Konferenzen der Kommission fanden dann in einem regulären Turnus statt, manchmal sogar vier Mal im Jahr. Dabei wurden neue Fragen erörtert und die bisher ergangenen Empfehlungen vertieft.

1976 wurden die bisherigen Ergebnisse der Schulbuchkommission in beiden Ländern publiziert, was für heftigen Dissens und Diskussionen sorgte, etwa über das Fehlen des Begriffs „Vertreibung“ in Bezug auf die Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gezwungen wurden, die bis dahin von ihnen bewohnten Gebiete zu verlassen. Zur Behandlung dieser Frage benutzte man Termini wie „Evakuierung“, „Zwangsumsiedlung“, „Flucht“ und „Ausweisung“. Ebenfalls unerwähnt blieb der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt (Hitler-Stalin-Pakt bzw. Ribbentrop-Molotov-Pakt), da jede Anspielung auf ihn eine scharfe Reaktion der Sowjetunion zur Folge gehabt und die Arbeit der Kommission sicher beendet hätte. Aus eben diesem Grund fehlte auch die Information über das Massaker von Katyń, bei dem 1940 polnische Offiziere von Angehörigen des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) erschossen wurden. Offiziell wurde die Verantwortung für diesen Massenmord bis 1990 den Deutschen angelastet. Es gab also Zeiten, in denen die politische Großwetterlage die Wissenschaftler dazu zwang, die historische Wahrheit hintanzustellen und Kompromisse zu suchen, die von der kommunistischen Obrigkeit akzeptiert wurden. 

 

[1]   Wywiad Thomasa Strobla, pracownika Instytutu Międzynarodowych Badań Podręcznikowych im. Georga Eckerta w Brunszwiku przeprowadzony z prof. Gerardem Labudą 28.10.2005 z okazji 35-lecia Polsko-Niemieckiej Komisji Podręcznikowej.

[2]   Wywiad Thomasa Strobla z prof. Klausem Zernackem przeprowadzony 08.07.2003.

[3]   Wstęp do broszury „Konferencja polskich i zachodnioniemieckich ekspertów w sprawie szkolnych podręczników historii i geografii“, Państwowe Zakłady Wydawnictw Szkolnych, Warszawa 1972.

Die politische Wende eröffnete der wissenschaftlichen Arbeit 1989 eine neue Dimension, so dass sich die Aktivitäten der Schulbuchkommission in den 90er Jahren auf die Ausarbeitung von Unterrichtsmaterialien konzentrierten. In dieser Zeit gab sie auch eine Reihe von Themenbänden heraus, die sich an die Lehrer beider Länder wandten. 2006 regte der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmaier die Erarbeitung eines gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichtsbuchs an. Daraufhin wurde im Mai 2008 eine Projektgruppe aus Wissenschaftlern und Politikern beider Länder einberufen. 2012 traten die Verlage Eduversum aus Wiesbaden und Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne (WSiP) aus Warschau dieser Kooperation bei.

Schließlich wurde im Juni 2016 in der Berliner Robert-Jungk-Oberschule der erste Band des gemeinsamen Deutsch-Polnischen Geschichtsbuchs in Anwesenheit der Außenminister beider Länder, Frank-Walter Steinmeier und Witold Waszczykowski, unter dem Titel „Europa – unsere Geschichte“ („Europa – nasza historia“) vorgestellt, der die Periode von der Antike bis zum Mittelalter umfasst. Nach dem Deutsch-Französischen Geschichtsbuch (2007) erschien damit erneut eine Publikation, die von zwei Ländern mit ähnlicher historischer Erfahrung herausgegeben wurde, um ihre verschiedenen Perspektiven und ihren verschiedenen Duktus zu dokumentieren.

Bis 2020 sollen alle vier Bände dieses Lehrbuchs fertiggestellt sein. Die Projektarbeiten führt ein bilateral besetzter Expertenrat unter Vorsitz von Professor Michael G. Müller aus Halle und Professor Robert Traba, dem Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften, durch. Das Projekt wird gleichermaßen von den Regierungen beider Länder finanziert.

Die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission wird auf der deutschen Seite von Anfang an, also seit 1972, organisatorisch vom Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig betreut. Über die institutionelle Anbindung auf polnischer Seite entscheidet der jeweilige Vorsitzende der Kommission. Dabei ist die polnische Seite der Schulbuchkommission seit 2007 in das Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften eingebunden.

Im Juni 2017 wurde die Arbeit der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission mit dem Viadrina-Preis gewürdigt, der vom Kuratorium des Förderkreises der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder an Personen und Organisationen verliehen wird, die sich in besonderer Weise um die deutsch-polnische Verständigung verdient gemacht haben. 

 

Monika Stefanek, Dezember 2017

Mediathek
  • Vorstellung des ersten Bandes des Geschichtsbuchs am 22. Juni 2016

    Vorstellung des ersten Bandes des Geschichtsbuchs am 22. Juni 2016 in der Robert-Jungk-Oberschule in Berlin.
  • Die Projektgruppe

    Die Projektgruppe, die an der Erstellung des ersten Bandes des „Gemeinsamen Geschichtsbuches“ teilgenommen hat.
  • Vorstellung des ersten Bandes des Geschichtsbuchs

    Vorstellung des ersten Bandes des Geschichtsbuchs. Von links nach rechts: Thomas Strobel, der Sekretär des Geschichtsbuch-Projekts auf deutscher Seite, sowie die beiden Außenminister Frank-Walter Stei...
  • Piwniczna 1990

    Gemeinsame Freizeit der Konferenzteilnehmer 1990 in Piwniczna.
  • Sitzung in 1980

    Sitzung der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission im Januar 1980 in Münster.
  • Verleihung des Viadrina-Preises

    Polnische und deutsche Mitglieder der Schulbuchkommission bei der Verleihung des Viadrina-Preises im Juni 2017.
  • Das Geschichtsbuch in polnischer Version

    Das Geschichtsbuch „Europa – unsere Geschichte“ („Europa - nasza historia“) in polnischer Version.
  • Das Geschichtsbuch in deutscher Version

    Das Geschichtsbuch „Europa – unsere Geschichte“ („Europa - nasza historia“) in deutscher Version.