Die „Herner Polenrevolte“ im Jahr 1899

Militärpatrouille vor der Castroper Zeche Erin anlässlich der „Herner Polenrevolte“ 1899.
Militärpatrouille vor der Castroper Zeche Erin anlässlich der „Herner Polenrevolte“ 1899.

Die sogenannte „Herner Polenrevolte“, auch als „Krawalle von Herne“ bezeichnet, im Sommer 1899 war ein außer Kontrolle geratener Streik, an dem sich hauptsächlich polnische Bergleute – Erwerbswanderer aus den preußischen Ostprovinzen – beteiligten. Direkter Auslöser des Ausstandes und der darauffolgenden Gewaltakte war die Erhöhung der Abzüge für die Knappschaftskasse durch unmittelbaren Lohnabzug. Am Sonntag, den 25. Juni 1899, organisierte der Vorstand des sozialdemokratischen Berg- und Hüttenarbeiterverbandes aufgrund der gärenden Atmosphäre in Herne und andernorts eine Versammlung und warnte die Arbeiter vor unbesonnenem Handeln. Ein polnischer Redner, der auf die polnische Arbeiterschaft in Herne hätte beruhigend einwirken können, kam aufgrund des Abbruches jener Versammlung nicht mehr zu Wort. Am folgenden Tag traten mehrere Hundert Berg- und Hüttenarbeiter in den Ausstand und es entwickelte sich bei fehlender Kanalisierung des Streikgeschehens eine undurchsichtige und gewalttätige Atmosphäre. Ausgehend von den Zechen „Shamrock“ und „Friedrich der Große“ weitete sich das Streikgeschehen, an dem sich bisweilen sogar die Frauen der Bergarbeiter beteiligten, auf sechs Herner Zechen aus und umfasste zwischen 1.800 und 2.500 Streikende. Am 27. Juni wurden bei Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und Polizeikräften zwei Bergleute erschossen und 14 weitere verletzt – diese Ereignisse haben als „Schlacht an der Bahnhofstraße“ Eingang in das Herner Lokalgedächtnis gefunden.

Daraufhin wurde über Herne und Umgebung der Belagerungszustand verhängt und die Behörden forderten das Militär an, das unter anderem mit zwei Infanteriebataillonen und einer Eskadron Kavallerie in Herne einmarschierte, um die Polizeikräfte bei der Niederschlagung des Streiks zu unterstützen. Am Peter-und-Paul-Tag, dem 29. Juni, versuchten sowohl die Pfarrer der Herner Gemeinden von der Kanzel aus auf die Streikenden einzuwirken und sie zur Mäßigung und Aufgabe zu bewegen, als auch die Redaktion der einflussreichen polnisch-katholischen Zeitung „Wiarus Polski“, die einen Aufruf an die polnische Arbeiterschaft veröffentlichte und auf Plakaten die Aufforderung verbreitete, sie mögen Ruhe bewahren und sich nicht aufwiegeln lassen. Ähnlich reagierten der Alte Verband und der Gewerkverein christlicher Arbeiter, die ihre Mitglieder aufforderten, sich vom Streik fernzuhalten, und versuchten beruhigend auf die jugendlichen und fremdsprachigen streikenden Arbeiter einzuwirken. Lediglich vonseiten des Vereins der polnischen Arbeiter in Herne, „Przedświt” (Morgenrot), einem Ableger der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna, PPS), sollen – mutmaßlich auf Anweisung der Berliner PPS – Streik- und Revolutionsaufrufe erfolgt sein. Belegt sind zumindest Streikaufrufe in sozialistischem Geiste, deren Urheber nicht eindeutig zugeordnet werden können, für die aber Mitglieder des PPS-Ablegers in Herne im Nachgang des Streiks polizeilich verfolgt und gerichtlich bestraft wurden.

Infolge des sich bis in die ersten Julitage 1899 hineinziehenden Streikgeschehens kamen mindestens sechs streikende Bergleute ums Leben und es gab mehrere Hundert Verletzte und teils Schwerverletzte. Mehr als 500 Bergleute wurden nach Beendigung des Streiks von den Zechen entlassen. Unter den 192 behördlich gemaßregelten Streikteilnehmern waren 157 polnische Arbeiter und fünf Masuren, die meisten davon unter 25 Jahre alt. Überdies gab es mehrere Dutzend Festnahmen, die zu Gerichtsverfahren und teils zu mehrmonatigen Haftstrafen führten, unter anderem aufgrund von Gewaltakten, Bedrohungen und Agitationsversuchen gegenüber Arbeitswilligen, dem Streik beizutreten. Mit mehrjährigen Haftstrafen wurden beispielsweise einige Mitglieder des erst ein knappes Jahr zuvor gegründeten Vereins „Przedświt” belegt, die von den Behörden und der Presse als „verhetzende Agitatoren“ für den Ausbruch und die mehrtägige Fortführung des Streikes verantwortlich gemacht wurden. Der lediglich 20 Mitglieder zählende Verein wurde daraufhin aufgelöst.

Die Ursachen für den aus dem Ruder gelaufenen Streik waren jedoch komplexer, als dass sie allein auf die Erhöhung des Mitgliedsbeitrages für die Knappschaftskassen und die agitatorische Tätigkeit einer unter den Ruhrpolen kaum Einfluss besitzenden sozialistischen Gruppe zurückgeführt werden könnten. Der Streik warf auch ein neues Schlaglicht auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der polnischen Zuwanderer, deren Zahl seit dem Ende der 1880er Jahre drastisch angestiegen war, und machte deutlich, dass ihnen eine gewerkschaftliche Vertretung fehlte. Mit Ausnahme eines Teils der oberschlesischen, polnischsprachigen Erwerbsmigranten, die als erfahrene oder ausgebildete Bergleute in das rheinisch-westfälische Industrierevier gekommen waren, standen die zumeist jungen Zuwanderer aus den preußischen Ostprovinzen in der Arbeiterhierarchie an unterster Stelle. Die Beziehungen zu den deutschsprachigen Arbeitern waren durch die fehlenden Sprachkenntnisse und mentalen Barrieren erschwert, ihre Interessen waren nicht deckungsgleich. Die bestehenden Gewerkschaften, wie etwa der Alte Verband und der Gewerkverein christlicher Arbeiter, behandelten die polnischen Zuwanderer allenfalls stiefmütterlich. Letzterer veröffentlichte während des Streikes einen Aufruf an seine Mitglieder, in dem davon die Rede war, dass die polnischen Arbeiter kaum zu den eigentlichen Bergleuten gerechnet werden könnten. Weder fand vonseiten der bestehenden Gewerkschaften eine Aufklärung der eingetretenen Veränderungen hinsichtlich der Verdienstabgaben unter der polnischen Arbeiterschaft statt, noch setzten sie sich für die preußischen Polen ein, als 1899 im Oberbergamtsbezirk in Dortmund der sogenannte Sprachparagraph in Kraft trat. Dieser regelte, dass unter anderen die Sicherheitsvorschriften in den Betrieben und Bergwerken künftig nur noch in deutscher Sprache ausgehängt werden sollten – und bedeutete für die meist des Deutschen nicht mächtigen Arbeiter statt Sicherheit, nur neue Gefahren. Zudem wurde in dieser Zeit im Reichstag über das sogenannte „Zuchthausgesetz“ debattiert, mit welchem das Versammlungs- und Streikrecht eingeschränkt werden sollte, was die Arbeiterschaft im preußischen Staat generell auf die Barrikaden trieb.

Die Ereignisse des Jahres 1899, und dabei ganz zentral die „Herner Polenrevolte“, lösten innerhalb der polnischen Arbeiterschaft und des Kreises der polnischen Intellektuellen um den „Wiarus Polski“ Diskussionen darüber aus, inwiefern die polnischen Arbeiter an Rhein und Ruhr von den bestehenden Gewerkschaften überhaupt vertreten wurden und ob nicht der Aufbau einer eigenen gewerkschaftlichen Vertretung notwendig war. Diese Idee wurde vor allem von Jan Brejski – Politiker und Verleger unter anderem des „Wiarus Polski“ – entscheidend forciert und schließlich 1902 mit der Entstehung der Polnischen Berufsvereinigung (Zjednoczenie Zawodowe Polskie, ZZP) in die Realität umgesetzt. Die ZZP stieg innerhalb von nur zehn Jahren zum drittgrößten Gewerkschaftsbund in ganz Deutschland auf. Im Jahr 1912 zählte die in Bochum beheimatete Bergarbeiterzentrale 30.000 der landesweit insgesamt 70.000 Mitglieder.

 

David Skrabania, November 2018

 

Literatur:

Tenfelde, Klaus: Die „Krawalle von Herne“ im Jahre 1899 (Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 15. Jg. 1979, Heft 1), S. 71–104.

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