Eine Spurensuche – NS-Verbrechen an Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangenen in einem Dorf im Sauerland

Frühstück bei der Ernte bei Bauer Paul Lohmann, links und rechts Zwangsverpflichtete polnische Landarbeiter, 1940. Es war den Bauern bei Strafe verboten, mit den Polen gemeinsam zu essen.
Frühstück bei der Ernte bei Bauer Paul Lohmann, links und rechts Zwangsverpflichtete polnische Landarbeiter, 1940. Es war den Bauern bei Strafe verboten, mit den Polen gemeinsam zu essen.

Garbeck unter dem Hakenkreuz


Die Gemeinde Garbeck gehört bis zur Gebietsreform 1975 zum Amt Balve, heute zur Stadt Balve. 1939 zählt das Dorf mit den Ortsteilen Levringhausen, Hövringhausen und Frühlinghausen 1.419 Einwohner. Ganze drei Zeilen widmet der Heimforscher und Ehrenbürger der Stadt Balve, Josef Pütter, in seinem Buch über die Geschichte der Region[1] der Herrschaft des Nationalsozialismus. Selbstkritisch heißt es dazu auf der Homepage der Stadt Balve: „Eine profunde Darstellung der Wirkungen und Auswirkungen der NS-Zeit ist aus Pietätgründen bisher nicht geschrieben worden. Ehemalige Nazis, vor allem ihre Familien, sollten geschont werden“. Und: „Erst nach der Machtergreifung konnten NSDAP und ihre Gliederungen in Balve festeren Fuß fassen, wie die Wahlergebnisse vor und nach 1933 zeigen. Die Reichstagswahl am 31.11.1932 brachte der NSDAP nur 15,6, dem Zentrum 68,2 Prozent der Stimmen. Zur Reichstagswahl und zum Volksentscheid 1933 war die Stimmung umgeschlagen.“[2] Im benachbarten Garbeck erzielt die NSDAP bei der Wahl am 5. März 1933 bereits 31,3 Prozent, das Zentrum kommt immer noch auf 62,8 und die SPD auf 3,4 Prozent. Die Kommunisten erhalten ganze acht Stimmen.

Die Nazis hatten nun auch das katholische Sauerland fest im Griff. Bei der Pogromnacht im November 1938 misshandeln Nazis den letzten in Balve verbliebenen Juden und demolieren seine Wohnung, entnahm ich der Polizeiakte.[3] David Bondy war 1922 zum ersten Balver Ehrenbürger ernannt worden. Er hatte eine Stiftung zugunsten der Armen gegründet und der Kirchengemeinde eine Turmuhr gestiftet. Seitens der Balver sei dem jüdischen Kaufmann kein Leid geschehen, behauptet Pütter. „Leider musste die Bevölkerung es traurig und machtlos geschehen lassen, dass auswärtige SA-Leute“ dem alten Mann zusetzen.“[4] Einem Musikfreund schreibt Bondy eine letzte Karte aus Theresienstadt. Über das weitere Schicksal des von den Menschen in Balve so „hochgeschätzten“ Juden erfahren wir bei Pütter nichts.

Auch in Garbeck begeistern sich viele für „Führer, Volk und Vaterland“. Ein Viertel aller Erwachsenen im Dorf gehört einer Parteigliederung an, kann ich der NSDAP-Mitgliedskartei entnehmen. Nicht eine Handvoll, wie bis heute vielfach behauptet, fast achtzig Mitglieder zählt die NSDAP-Ortsgruppe. Fünfundzwanzig Männer tragen die Uniform der SA, zum Teil bereits seit Mitte der Dreißigerjahre. Die Lehrer:innen der Garbecker Volksschule sind Mitglieder des NS-Lehrerbundes, selbst das Nationalsozialistische Fliegerkorps und der Deutsche Luftsportverband zählen ein paar Mitglieder im Dorf. Die meisten Kinder und Jugendlichen sind in der Hitlerjugend oder im Bund Deutscher Mädel organisiert. Selbst der Garbecker Kindergarten posiert für ein Erinnerungsfoto mit Hakenkreuzfähnchen.[5] 

 

[1] Josef Pütter, Sauerländisches Grenzland im Wandel der Zeit, Balve 1965

[2] http*//www.balve-online.de/

[3] Archiv Märkischer Kreis, A Ba 2114

[4] Josef Pütter, Sauerländisches Grenzland im Wandel der Zeit, Balve 1965

[5] 100 Jahre Pfarrgemeinde Hl. Drei Könige Garbeck, Balve 1995

Aber nicht alle Garbecker:innen sind begeisterte „Volksgenossen“. Manch frommer katholischer Kirchgänger und Kirchgängerin ballt heimlich die Faust in der Tasche. Vor allem Pater Thomas, der Kooperator von Pfarrer Schulte, ist für seine kritische Haltung gegenüber den Nazis bekannt. „Es gab so ein Lied ‚Die Feinde deines Kreuzes drohen dein Reich, Herr, zu verwüsten‘. Das wurde bei jeder Andacht und bei jeder Gelegenheit gesungen“, sagt meine Tante, Rita Prior (Jahrgang 1926), lachend. Das sei ein richtiges Protestlied gewesen. „Man hörte immer, der Pater müsste sich mehr in achtnehmen, sonst würde er abgeholt“. Trotz des polizeilichen Verbots führen die Geistlichen 1940 die Fronleichnam-Prozession durch. Statt durchs Dorf, ziehen die Gläubigen diesmal nur von der Kirche zur benachbarten Grundschule. Dort werden, unter Mitwirkung der katholischen Jugend, vier Altäre aufgestellt und ein Schild mit der Aufschrift „Christus herrscht – Gott regiert“. Für die Nazis ist das eine Provokation. Ein Foto von der Szene fand ich im Nachlass meines Vaters (Jahrgang 1923), der in der katholischen Jugendgruppe aktiv war. Die Garbecker Schüler:innen durften an der Prozession nicht teilnehmen, erinnert sich Rita Prior, aber: „Wir konnten auf die Straße gucken.“ Und Lehrer Lotze habe gedroht: „Wagt es nicht, aus dem Fenster zu schauen!“. Der Lehrer war SA-Gruppenleiter und kam immer in Uniform zur Schule. Wenn die Ferien anfingen, mussten wir um die Fahne herum strammstehen“, erzählt meine Tante.

Im Juli 1944 denunziert ein Bauer den Pater.[6] Der Balver Gendarmerie Meister Wallmann gibt diese Information an die Gestapo in Meschede weiter. Karl Thomas habe „entgegen den Bestimmungen der Geheimen Staatspolizei ein Ostarbeiterkind getauft. Es handelt sich um das Kind Olga des Ostarbeiter Ehepaars Iwan Borkow, wohnhaft in Frühlinghausen, Gemeinde Garbeck, bei dem Bauern Lohmann.“ Karl Thomas war bereits 1937 zum ersten Mal von der Gestapo verhaftet worden, „wegen Predigtäußerungen gegen die Gemeinschaftsschule“.[7] Zu der Zeit war Thomas in Lebenhan bei Neustadt/Saale als Lehrer tätig. Das Stadtgericht Würzburg belässt es 1938 bei einer Verwarnung, entzieht ihm aber die Lehrbefugnis.[8] Der Orden schickt den Pater daraufhin nach Garbeck, wo er vom 1. Juli 1940 bis zum 31. März 1948 tätig ist. Karl Thomas kehrt anschließend wieder zurück in den Schuldienst und stirbt 1971 bei einem Verkehrsunfall.

 

[6] Archiv Märkischer Kreis, A Ba 2127

[7] Ulrich Hehl, Priester unter Hitlers Terror, Paderborn, 1968, S. 1665

[8] Staatsarchiv Würzburg, 15975 RPBG

„Fremdarbeiter“ auf dem Land: 1940 bis 1945


Unmittelbar nach dem Überfall auf Polen im September 1939 deportieren die Deutschen die ersten polnischen Kriegsgefangenen. Zwischen 1939 und 1945 arbeiten insgesamt rund 13 Millionen Zwangsarbeiter:innen aus den besetzten Ländern Europas – zivile Arbeitskräfte, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge – in der deutschen Kriegswirtschaft. Als Angehörige besiegter „Feindstaaten“ haben sie nicht den Status von „Gastarbeiter:innen“, sondern gelten als Kriegsbeute. Die Methoden, denen sich die deutsche Militärverwaltung bei der Rekrutierung von Arbeitskräften in den besetzten Ländern  bedient, reichen „vom Einsatzbefehl mit Geiselnahme bis zur Werbung für die freiwillige Arbeitsaufnahme“, so lautet das Resümee des Historikers Ullrich Herbert.[9] In der Sowjetunion verpflichten die deutschen Besatzungsbehörden die von ihnen eingesetzten Verwaltungen und Dorfältesten auf dem Land, bis zu bestimmten Daten eine festgelegte Anzahl von Arbeitskräften für die Transporte ins Reich „zu beschaffen“.

Während so genannte „Westarbeiter:innen“, die überwiegend aus Frankreich deportiert wurden, den gleichen Lohn wie deutsche „Gefolgschaftsmitglieder“ bekommen, sind „Ostarbeiter:innen“ aus Polen oder der damaligen Sowjetunion erheblich schlechter gestellt. Aber sie alle leiden unter schlechter Ernährung und willkürlichen Strafen. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der „Ostarbeiter:innen“ sind durch überlange Arbeitszeiten, schlechte Ernährung, geringe Bezahlung, miserable Unterkünfte abgerissene Kleidung, mangelnde ärztliche Behandlung, Diffamierung und Misshandlungen gekennzeichnet.[10] Der Einsatz von Zwangsarbeiter:innen ist zunächst umstritten. Während Landwirtschaft und verarbeitendes Gewerbe wegen des großen Arbeitskräftemangels stets auf eine Ausweitung drängen, wollen Teile der NSDAP die Ausländerbeschäftigung aus ideologischen Gründen beschränken.  In der Metallindustrie lernen viele Unternehmen Zwangsarbeiter:innen an, manche geben sogar Zusatzverpflegung aus, schließlich sind die Betriebe an einem möglichst effektiven Arbeitskräfteeinsatz und der Steigerung der Produktion interessiert. Für die Unternehmen ist der Einsatz von „Fremdarbeiter:innen“ ein sehr lohnendes Geschäft. Ende 1944 ist jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland mit Zwangsarbeiter:innen besetzt, überwiegend aus Polen und der Sowjetunion. In der Land- und Forstwirtschaft stellen Ausländer:innen 46 Prozent der Beschäftigten.[11]

Auch in Garbeck schuften seit 1939 Zwangsarbeiter:innen. „Das ganze Dorf war voll“, meint Rita Prior: „Bei den Bauern, in den Betrieben, überall waren Fremdarbeiter. In der Gransauer Mühle waren Franzosen, im Kalkwerk sowjetische Kriegsgefangene.“ Auch in Privathaushalten arbeiteten Zwangsarbeiter:innen. Als Unterkunft dient zunächst der Saal einer im Zentrum des Dorfs gelegenen Gaststätte. Die meisten Pol:innen nehmen anfangs an der Sonntagsmesse in der Kirche teil. „Die ersten Zwangsarbeiter kamen schon Anfang des Krieges nach Garbeck, zuerst aus Polen, seit dem Russlandfeldzug auch aus der Ukraine, Russland, Weißrussland, Litauen, Lettland, Estland“, erzählt mir der pensionierte Bauunternehmer Liborius Hemeier (Jahrgang 1931): „Allgemein nannte man sie Russen. Es waren auch Frauen und Mädchen als Zwangsarbeiter hier, auch in den Fabriken, bei Heinrich Honert, Hubert Waltermann und Josef Keggenhoff. Die waren erst alle in der Gransauer Mühle untergebracht und wurden dort auch verpflegt. Nachher hatte Honert seine Zwangsarbeiter bei Levermanns. In den alten Büroräumen wurden Schlafstätten eingerichtet. Hubert Waltermann baute später an der Fabrik eine Baracke.“

[9] Ulrich Herbert, Fremdarbeiter, Bonn 1985, S. 157

[10] Ulrich Herbert, Fremdarbeiter, Bonn 1985, S. 286

[11] Ulrich Herbert, Fremdarbeiter, Bonn 1985

 

Über die Situation der polnischen Zwangsarbeiter:innen im Dorf, in dem bis auf eine Familie alle katholisch sind, gibt ein Eintrag von Pfarrer Schulte im Gemeindebuch Auskunft: „Diese waren auf dem Saal der Gaststätte Syre untergebracht und wurden täglich auf die einzelnen Betriebe verteilt. Im Herbst 1940 wurde das Lager aufgehoben und ein neues am Kalkwerk eingerichtet. Die Insassen konnten wir seelsorgerisch nicht erfassen, da uns der Zutritt verwehrt war. Im Laufe des Jahres 1940 wurden die Kriegsgefangenen ersetzt durch zivile Arbeiter und Arbeiterinnen aus Polen. Diese wohnten in den Häusern, in denen sie Arbeit gefunden hatten. Diese Leute durften zunächst am Gottesdienst der Gemeinde teilnehmen. Viele, nicht alle, Polen besuchten die Sonntagsmesse. Im September 1940 erschien eine polizeiliche Verfügung, durch die den Polen die Teilnahme am Gemeindegottesdienst grundsätzlich verboten wurde. dagegen wurden gesonderte Gottesdienste gestattet, vorher war die Polizei zu verständigen. Im Juli 1941 erschien eine ministerielle Verlautbarung, die nochmals die Teilnahme am Gottesdienst verbot, da sehr unliebsame Erscheinungen zutage gekommen seien.“ [12]

Aus der Sicht der NS-Führung gefährdet der Einsatz von ausländischen Arbeitskräften die ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus. Um den Gefahren, die „Rasse“ und „Volkstum“ durch „Fremdvölkische“ drohen, Herr zu werden, erlässt die Reichsregierung eine ganze Reihe von diskriminierenden Verordnungen, die das Leben von polnischen Arbeitskräften immer weiter einschränken. Die sogenannten „Polenerlasse“ verschärfen und radikalisieren die rassistischen Vorstellungen von „slawischen Untermenschen“ und „rassisch überlegenen“ Deutschen. Kontakte mit „Ostarbeiter:innen“ sollen sich auf das Arbeitsverhältnis beschränken.[13] Das Merkblatt „Pflichten der Zivilarbeiter und -arbeiterinnen polnischen Volkstums während ihres Aufenthalts im Reich“ von 1940 schreibt folgendes vor: „(...) Das Verlassen des Aufenthaltsortes ist streng verboten. Während des von der Polizeibehörde angeordneten Ausgehverbots darf auch die Unterkunft nicht verlassen werden. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, z.B. Eisenbahnen, ist nur mit besonderer Erlaubnis der Ortspolizeibehörde gestattet. Alle Arbeiter und Arbeiterinnen polnischen Volkstums haben die ihnen übergebenen Abzeichen stets sichtbar auf der rechten Brustseite eines jeden Kleidungsstücks zu tragen. Das Abzeichen ist auf dem Kleidungsstück fest anzunähen. Wer lässig arbeitet, die Arbeit niederlegt, andere Arbeiter aufhetzt, die Arbeitsstätte eigenmächtig verlässt usw., erhält Zwangsarbeit im Konzentrationslager. Bei Sabotagehandlungen und anderen schweren Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin erfolgte schwerste Bestrafung, mindestens eine mehrjährige Unterbringung in einem Arbeitserziehungslager. Jeder gesellschaftliche Verkehr mit der deutschen Bevölkerung, insbesondere der Besuch von Theatern, Kinos, Tanzvergnügen, Gaststätten und Kirchen, gemeinsam mit der deutschen Bevölkerung, ist verboten. Tanzen und Alkoholgenuss ist in den polnischen Arbeitern besonders zugewiesenen Gaststätten gestattet. Wer mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mann geschlechtlich verkehrt, oder sich sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode bestraft.“[14]

[12] Privatsammlung Johannes Waltermann, Garbeck

[13] Ulrich Herbert, Fremdarbeiter, Bonn 1985

[14] Staatsarchiv Münster, Sammlung Primavesi 363

 

Das „Arbeitserziehungslager Hönnetal“ in Sanssouci bei Balve


Zur Aufrechterhaltung der Arbeitsmoral und zur Abschreckung und Disziplinierung widerständiger Arbeitskräfte errichten die NS-Machthaber ein ganzes System von Straflagern. Entgegen landläufigen Vorstellungen, wonach es sich bei den Häftlingen um „Kriminelle“ handelt, gilt als Grund für die Inhaftierung in Straflagern „Umhertreiberei“ oder „Arbeitsvertragsbruch“, wie Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin im Beamtendeutsch genannt werden. Ab 1940 werden Ausländer in so genannten „Arbeitserziehungslagern“ inhaftiert, auf Anordnung und unter Aufsicht der Gestapo. Die Haftzeit ist zunächst auf 56 Tage, später auf drei Monate begrenzt. Im Sommer 1940 wird das „Reichsarbeitsdienstlager“ Hunswinkel bei Lüdenscheid der Firma Hoch und Tief, das bereits seit 1938 bestand, zum „Arbeitserziehungslager“ für Ausländer ausgebaut. Die Gefangenen leisten beim Bau der Versetalsperre Schwerstarbeit. Im Herbst 1944 werden die Arbeiten eingestellt, die meisten Häftlinge ins „Arbeitserziehungslager Hönnetal“ nach Sanssouci, einem Ortsteil von Balve, überführt.[15]

„An der neuen Arbeitsstätte werden von der Organisation Todt im Auftrag des Reichsbeauftragten Geilenberg sehr eilige Steinbrucharbeiten durchgeführt“,[16] informiert der Dortmunder Gestapo-Chef, Erich Roth, am 29. Dezember 1944 den Regierungspräsidenten in Arnsberg. Das Bauvorhaben „Schwalbe I“ hat für die NS-Wirtschaftsplaner hohe Priorität und unterliegt strengster Geheimhaltung. Nach den alliierten Bombenangriffen auf Treibstoffwerke im Mai 1944 sollen auf Befehl von Rüstungsminister Speer die wichtigsten Benzinfabriken unter die Erde verlagert werden. Die „Sofortmaßnahmen“ seien mit „großzügigstem Einsatz von Arbeitskräften und Material und mit rücksichtsloser Energie“ durchzuführen, heißt es im Führererlass vom 30. Mai 1944. SS und Gestapo setzen über 350.000 Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene an dieser Großbaustelle im Hönnetal zwischen Balve und Menden ein. Zehntausende Zwangsarbeiter:innen schlagen einen zweieinhalb Kilometer langen Stollen in den Felsen, um hier anschließend im Auftrag der Union Rheinische Braunkohle Kraftstoff AG, Köln-Wesseling, eine Fabrik zur Hydrierung von Flugbenzin zu errichten.

Die Zwangsarbeiter:innen werden täglich misshandelt, viele sterben an den Folgen der Qualen oder verhungern. Über die schrecklichen Zustände im „Arbeitserziehungslager Hönnetal“ berichtet der Arnsberger Medizinalrat Dr. Josef Mahr am 27. November 1944: Die Unterbringung der vierhundert „Ostarbeiter“ sei „äußerst primitiv“, sämtliche Räume überbelegt. Von den Gefangenen seien 115 erkrankt, davon litten die meisten an Hungerödemen, „ein Teil von ihnen dürfte in den nächsten Tagen sterben“. Als Todesursache sei auf den Todesbescheinigungen bisher „sämtlich Herzmuskellähmung“ vermerkt. Das Straflager stelle „eine schwere Seuchengefahr für die Zivilbevölkerung“ dar, warnt der Arzt: „Die Lagerinsassen dürfen keinesfalls zusammen mit den übrigen Volksgenossen täglich zur Arbeitsstelle gebracht werden.“ Sie müssten vielmehr „so genährt werden, dass sie nicht verhungern und darüber hinaus auch eine Arbeitsleistung erzielen können.“ Die Zahl der Häftlinge, die zu Tode kommen, ist unklar, einigen wenigen gelingt die Flucht.  Ende März 1945 wird das Lager aufgelöst, die Häftlinge in Trecks in Richtung Ostwestfalen getrieben. Ihr weiteres Schicksal ist nicht überliefert. Im benachbarten Beckum will niemand den Auszug von Hunderten von Gefangenen bemerkt haben, meint der dortige Heimatforscher Peter Witte. Er zitiert den Polizisten Heinrich Q.: „Es sind nicht mehr viele übriggeblieben von denen, die aus Sanssouci kamen.“[17] Bis heute erinnert in Balve-Sanssouci nichts an das „Arbeitserziehungslager Hönnetal“.

 

[15] Matthias Wagner, Das Arbeitserziehungslager Hunswinkel/Lüdenscheid 1940-1945, Dokumentation zur Geschichte der Zwangsarbeiter im Märkischen Kreis, Altena 2001, S. 121

[16] Peter Witte, Das Arbeitserziehungslager Hönnetal in Sanssouci, in „700 Jahre Beckum. Die Geschichte eines Dorfes im Sauerland“, Arnsberg 1985, S. 219

[17] ebd.

 

Zwangsarbeiter:innen in Garbeck


Die Landbevölkerung verhält sich im Umgang mit Zwangsarbeiter:innen höchst ambivalent. Manche Bauern behandeln sie wie andere Landarbeiter:innen, beurteilen sie nach Leistung und Unterordnung, teilen die Mahlzeiten und verbringen zum Teil auch die Freizeit mit ihnen. Andere wahren Abstand und verhalten sich ganz vorbildlich, wie „deutsche Bauern“ eben. Auch die Kolleg:innen in den Metallbetrieben verhalten sich widersprüchlich. Im Fabrikalltag wird geredet, gescherzt und geschimpft, doch zusätzliche Lebensmittel bringen nur wenige Deutsche für sie mit, den meisten ist das Los der Ausländer:innen gleichgültig. Dies lässt sich an einigen Beispielen nachzeichnen, auf die ich bei meinen Nachforschungen in der Gegend gestoßen bin.

 

Bauer J. Fischer

1940 vermittelt das Arbeitsamt den polnischen Zwangsarbeiter Ceslaus Rinzat an den Hof von Bauer J. Fischer, erzählt der Sohn des Bauern (Jahrgang 1930) bei unserem Gespräch im Herbst 2005 in Garbeck. Anfangs habe dieser nichts Dreckiges anfassen wollen. Rinzat ist Frisör aus Krakau. Nachdem ihn der Dorfgendarm Gerwiener „zurechtgestaucht hatte, machte der alles“, meint Fischer, nur melken habe er nicht gekonnt. Im Winter, wenn es auf dem Hof wenig zu tun gab, habe Rinzat bei Böhmer, dem Friseur im Dorf, ausgeholfen. Der Mann freundet sich mit einer „Russin“ vom Nachbarhof an. Als sie schwanger wird, habe sie „weggemusst“. „Wohin, da haben wir nicht nachgefragt. Es war schließlich Krieg. Schauen Sie, was die Amerikaner heute im Irak machen. Unsere Enkelkinder werden den Krieg mit den Muslimen noch erleben“, erklärt Fischer. Im Herbst 1944 sei „Ceslaus“ dann zu einem Holzhändler in Linnepe gekommen. Ceslaus Rinzat sei nach dem Krieg in Dortmund nach einer Magenoperation gestorben.[18]

Bauer H. Rademacher

Der Bauer Heinrich Rademacher in Levringhausen gerät wegen seines „familiären“ Umgangs mit dem polnischen Landarbeiter Theophil Rozycki (Teofil Różycki) in Konflikt mit der Obrigkeit, lese ich in der Polizeiakte. Der Bauer muss Hausdurchsuchungen erleben, bekommt Anzeigen, Drohungen und eine „staatspolizeiliche“ Verwarnung durch den Dorfpolizisten. In seiner „Anzeige gegen einen Polen und zwei deutsche Staatsangehörige“ vom 16. Mai 1944 schreibt Polizeimeister Wallmann über Rademacher: „Die Einstellung des Bauern zu seinem Polen ist durchaus familiär. Sie leben in völliger Gemeinschaft.“ Er macht den Vorschlag, „dass der Pole umvermittelt wird“. Er halte den „gebotenen Abstand“ nicht, wozu er „als deutscher Bauer“ verpflichtet sei. Rademacher sei zudem „notorischer Trinker“ und „typischer Hamsterer und Hehler“. In der “Staatspolizeilichen Warnung“ heißt es: „Mir ist eröffnet worden, dass ich staatspolizeiliche Maßnahmen, insbesondere Schutzhaft und Einweisung in ein Konzentrationslager zu gewärtigen habe, falls ich gegenüber polnischen Staatsangehörigen den nötigen Abstand nicht halte und sonst verbotenen Umgang pflege.“ Am 19. August 1944 meldet Polizeimeister Wallmann der Gestapo Vollzug: „Rademacher hat zurzeit keine ausl. Arbeiter. (...) Rozycki ist jetzt bei der Witwe Schulte-Heller in Garbeck.“[19] Theophil Rozycki stirbt am 25. Februar 1945 an einer „Gehirnblutung“, die genauen Todesumstände teilt der Amtsdirektor Balve der britischen Militärverwaltung am 8. Januar 1950 nicht mit.[20]

 

Martin Rapp, Juni 2021

 

Die ungekürzte Fassung des Artikels von Martin Rapp finden Sie in der Mediathek.

 

[18] ebd.

[19] ebd.

[20] Archiv Märkischer Kreis, A Ba 6 60-1

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