Kinderzwangsarbeit in Hessen – Die Geschichte von Tomasz Kiryłłow

Tomasz Kiryłłow mit seinen Schulfreunden
Tomasz Kiryłłow mit seinen Schulfreunden

Die Geschichte von Tomasz Kiryłłow ist für die in der Zwischenkriegszeit geborene Generation durchaus typisch, weil in seiner Familie mindestens zwei Kulturen vereint waren, die polnische und die belarussische. Seine Familie lebte im nordöstlichen Teil der Zweiten Polnischen Republik, in Hlybokaje[14], als der Zweite Weltkrieg begann. Die Familie seiner Mutter war polnisch, er wurde nach katholischem Ritus getauft und erhielt einen polnischen Vornamen. Die Familie seines Vaters dagegen war belarussisch und orthodox. Tomasz Kiryłłow konnte neben Polnisch auch Russisch und Belarussisch sprechen. Der junge Tomasz war zudem des Französischen mächtig, weil er die ersten zehn Jahre seines Lebens, bis 1935, in Nordfrankreich verbracht hatte. Aus wirtschaftlichen Gründen waren seine Eltern in die Nähe von Lille und Valenciennes (Pas-de-Calais) migriert. Das polyglotte Aufwachsen und die vielseitigen Sprachkenntnisse von Tomasz Kiryłłow sollten sich später als sehr wichtig für seine Überlebensstrategien als Zwangsarbeiter erweisen.

Noch als Heranwachsender mit 17 Jahren verließ Tomasz Kiryłłow Anfang 1943 die Belarussische Sowjetrepublik mit dem Zug mit anderen Jugendlichen aus seiner Region. Aus Angst vor Repressalien gegen seine Familie, falls er sich dem deutschen Diktat verweigerte, versuchte er nicht vor Zwangsarbeit im Deutschen Reich zu fliehen. Nach einer mehrtägigen Fahrt kam er direkt in Hessen an: Die Endstation des Zuges war Kelsterbach, im Südwesten von Frankfurt. Schließlich, nach seiner Ankunft in Deutschland und einer ersten Nacht in einem Durchgangslager für „Ostarbeiter“[15] mussten Tomasz Kiryłłow und andere mit der Bahn nach Wetzlar an der Lahn fahren.

Der erste Eindruck weckte in ihm Erinnerungen an seine Kindheit in Frankreich:

„Wir gingen durch die Stadt. Die hohen, mehrstöckigen Häuser gefielen mir. Keiner von uns hatte bisher aus der Nähe eine so schöne Stadt gesehen. Über die breiten Asphaltstraßen eilten Autos, Motorräder und Fahrräder. Auf den Gehwegen drängten sich gut gekleidete Passanten. Die Geschäfte hatten große Schaufenster.“[16]

Im Lager in Wetzlar erfuhr er dann zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, mit einer Nummer und nicht mehr mit seinem Namen angesprochen zu werden. Tomasz Kiryłłow beobachtete außerdem ältere ausländische Arbeiter:innen, die die „OST“-Armbinde der „Ostarbeiter“ trugen. Bereits ab dem ersten Tag erlebte er, was es bedeutete, von bewaffneten Soldaten umgeben zu sein.

 

[14] Belarussisch: Hłybokaje; russisch: Glubokoje; polnisch: Głębokie.

[15] Weil er in der Belarussischen Sowjetrepublik gelebt hatte, wurde er zwar als „Ostarbeiter“ kategorisiert, Pol:innen dagegen wurden eigentlich anders kategorisiert und mussten ein „P“ tragen.

[16] Kiryłłow 1985, S. 39.

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  • Häftlings-Personal-Karte Buchenwald von Tomasz Kiryłłow

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  • Tomasz Kiryłłow mit seinen Schulfreunden

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  • Tomasz Kiryłłow in Wetzlar an der Werner-von-Siemens-Schule 1987

    Tomasz Kiryłłow in Wetzlar an der Werner-von-Siemens-Schule 1987