Maria Kwaśniewska und die Geschichte einer Fotografie

Die Olympiasiegerinnen im Sperrwurf. Links Tilly Fleischer (Gold), in der Mitte Maria Kwaśniewska (Bronze) und Luise Krüger (Silber), Berlin 1936
Die Olympiasiegerinnen im Sperrwurf. Links Tilly Fleischer (Gold), in der Mitte Maria Kwaśniewska (Bronze) und Luise Krüger (Silber), Berlin 1936

Maria Kwaśniewska kommt am 15. August 1913 in Łódź (Lodsch) als Tochter der Eheleute Jan und Wiktoria Kozłowski zur Welt. Sie verbringt eine friedliche Kindheit, wenngleich, wie sie selbst sagt, zu Hause Disziplin herrschte. Maria besucht das Mädchengymnasium, das den Namen von Romana Sobolewska-Konopczyńska trägt. Hier wird sie von dem Sportlehrer Ludwik Szumlewski, dem späteren Sportkommentator des lokalen Rundfunks in Łódź und Leichtathletik-Trainer beim Sportklub Łódź (Łódzki Klub Sportowy), entdeckt und angeleitet. Schon beim ersten Weitsprungtraining verblüfft Maria Kwaśniewska den Trainer mit ihrem Talent. Im Alter von nicht mal 15 Jahren erhält die junge Sportlerin aus den Händen des Staatspräsidenten der Zweiten Polnischen Republik, Ignacy Mościcki, einen ersten Preis für „vielversprechende sportliche Leistungen”. Zwei Jahre später, 1930, erringt sie ihren ersten polnischen Meistertitel im Weitsprung. 

Ihre sportliche Karriere gewinnt sehr bald an Fahrt. Das Mädchen ist vielseitig talentiert, die sportlichen Aktivitäten machen ihr Spaß. Sie trainiert alles, was sie kann: Speerwurf, Weitsprung, Drei- und Fünfkampf, Volleyball und Basketball sowie das Mannschaftsspiel Hazena, das Vorläufer des Handballs ist. Ihre Königsdisziplin wird aber der Speerwurf, in dem 15 Jahre lang niemand in Polen in der Lage ist, ihre Ergebnisse zu schlagen. Maria Kwaśniewska wird fünf Mal nationale Meisterin in dieser Disziplin, und zwar in den Jahre 1931, 1935, 1936, 1939 und 1946. Bei den dritten Frauen-Weltspielen 1930 in Prag gewinnt sie eine Bronzemedaille im Basketball. Eine Auszeichnung, von der freilich jeder Sportler träumt, ist die olympische Medaille. 

 

Die Propagandaspiele

Gastgeber der Olympischen Sommerspiele 1936 ist Berlin. Bereits drei Jahre zuvor, als das Internationale Olympische Komitee (IOC) diesen Austragungsort verkündet, gibt es einen lauten Aufschrei auf der Welt. Die Brutalität des nationalsozialistischen Regimes ist schon bekannt. Die Mannschaften vieler Länder, unter anderem in Frankreich, Großbritannien, den USA und den Niederlanden, denken über einen Boykott der Spiele nach. Am Ende finden sie trotz dieser Proteste in Berlin statt. Beeinflusst wird diese Entscheidung unter anderem durch den problemlosen Verlauf der Olympischen Winterspiele im Februar 1936 in Garmisch-Partenkirchen. Außerdem erhält das IOC von den Nationalsozialisten die Zusage, Sportler jüdischer Herkunft zu den Spielen zuzulassen. In der deutschen Mannschaft ist Helene Mayer, eine Fechterin mit jüdischen Wurzeln, mit dabei. Dies ist jedoch nur ein Feigenblatt, da 1933 alle anderen jüdischen Sportler mit einem Verbot belegt wurden, das sich sowohl auf ihr Training als auch auf ihre Teilnahme an Wettkämpfen bezog, so dass sie keine Chance hatten, sich für die olympischen Spiele zu qualifizieren.

Für die Zeit der Spiele werden alle Schilder, die Juden den Zugang zu bestimmten Orten verwehren, aus dem Berliner Stadtbild entfernt, auch von weiteren antijüdischen Aktionen sehen die Nationalsozialisten ab. Dabei ist alles nur Schein: In derselben Zeit beginnen die Nazis 30 km nördlich von Berlin mit dem Bau des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Am Rande der Stadt, in Marzahn, werden Sinti und Roma zusammengetrieben, die das Bild des Dritten Reichs, das die Nationalsozialisten der Welt zeigen wollen, stören. Obdachlose und Prostituierte verschwinden ebenfalls von den Straßen Berlins. 

 

Die kleine Polin

Polen schickt seinerzeit 144 Sportler, 127 Männer und 17 Frauen, zu den Olympischen Spielen in Berlin. Die talentierte 23-jährige Leichtathletin Maria Kwaśniewska gehört dazu. Am Sonntag, dem 2. August 1936, kämpfen die Athleten in Berlin unter ungünstigen Wetterverhältnissen. Es weht ein starker Wind und über dem olympischen Stadion ziehen dunkle Wolken auf. Maria Kwaśniewska tritt im Finale des Speerwurfs im Kampf um die Medaillen gegen zwei deutsche Athletinnen, Othilie „Tilly“ Fleischer und Luise Krüger, an. Als sie an der Reihe ist, ist sie voll konzentriert, holt ein paar Mal tief Luft, haucht die Speerspitze an und wirft.[1] Ihr Speer landet bei 41,80 Meter. Kwaśniewska erreicht damit den dritten Platz und die Bronzemedaille. Othilie Fleischer (45,18 m) siegt, Luise Krüger (43,29 m) belegt Platz zwei. 

Adolf Hitler verfolgt diesen Wettkampf der Sportlerinnen in seiner Ehrenloge. Nach der Medaillenzeremonie bittet der Führer die Athletinnen zu sich, um ihnen persönlich zu gratulieren. In der Loge sind unter anderem Propagandaminister Joseph Goebbels sowie Hermann Göring, der damalige Luftwaffenminister des Dritten Reichs, anwesend. Bei dieser Gelegenheit kommt es zu dem bekannten Affront von Kwaśniewska gegen Hitler. Als Hitler zu ihr sagt: „Ich gratuliere der kleinen Polin“ entgegnet sie ihm unüberlegt: „Ich fühle mich überhaupt nicht kleiner als Sie.“[2] Um den Führer aus der peinlichen Situation zu retten, berichtet die deutsche Presse später, Hitler habe dem „kleinen Polen“, also dem Land und nicht der Sportlerin, gratuliert. Ein Erinnerungsstück an dieses Ereignis ist ein gemeinsames Foto der drei Speerwerferinnen mit Adolf Hitler, das nur einige Jahre später eine große Wirkung entfalten wird. 

 

[1] Die Teilnahme von Maria Kwaśniewska an den Olympischen Spielen in Berlin hielt Leni Riefenstahl 1936 in ihrem „Olympia – Fest der Völker“ fest. 

[2] Das Gespräch mit Maria Kwaśniewska-Maleszewska erschien unter dem Titel „Ja bym za siebie nie wyszła“ [Ich hätte mich nicht geheiratet] in der Online-Ausgabe der „Rzeczpospolita“, Mai 2000.

Der Krieg und die Rückkehr in die Heimat

Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs überrascht Maria Kwaśniewska in Italien, wo sie sich in Genua mit einem Stipendium des Polnischen Leichtathletik-Verbands (Polski Związek Lekkiej Atletyki) auf die die Olympischen Spiele 1940 in Helsinki vorbereitet, die dann wegen des Angriffs der UdSSR auf Finnland abgesagt werden. Zu dieser Zeit zählt Kwaśniewska der Weltspitze an. Als sie vom Überfall Deutschlands auf Polen hört, entscheidet sie sich, das damals sichere Italien zu verlassen und nach Warszawa (Warschau) zurückzukehren. „Ich kam ins Land sozusagen gegen den Strom. Man sprach bereits vom Krieg, also hätte ich auch [in Italien] bleiben können. Alle versuchten, mich dazu zu überreden, aber ich wollte es nicht. Am Grenzübergang Zebrzydowice sah man mich ein wenig an, als wäre ich verrückt. Die Menschen verließen massenhaft das Land und ich kehrte nach Warszawa zurück, auch wenn ich nicht recht wusste, womit und wie ich das anstellen sollte“ – so Maria Kwaśniewska über diesen Moment in einem Interview, das sie im Jahr 2000 der Zeitung „Rzeczpospolita” gab.[3]

Am 2. September 1939 stellt sich Kwaśniewska in Warschau vor. Sie hat vor einem Jahr einen Kurs zur Sanitäterin gemacht. Einen Führerschein besitzt sie auch. Ab sofort wird sie als Krankenwagenfahrerin im Bereich des Warschauer Elektrizitätswerks in der Wybrzeże-Kościuszkowskie-Straße eingesetzt und soll verletzte Soldaten aus den Schützengräben in die Krankenhäuser transportieren. Für ihre Teilnahme an der Verteidigung Warschaus wird sie noch vor der Kapitulation der Hauptstadt von Stefan Starzyński, dem ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt, mit dem Tapferkeits-Kreuz (Krzyż Walecznych) ausgezeichnet. Während des Kriegs lernt Maria Kwaśniewska ihren zweiten Ehemann, Julian Koźmiński, kennen. Er ist Direktor des Elektrizitätswerks und Kommandant der Verteidigung von Warschau. Doch ihr Glück währt nicht lange. Koźmiński wird von der Gestapo verhaftet und in das Gefängnis in der Szucha-Allee verbracht, das er so krank verließ, dass er kurz darauf verstarb. Noch zu seinen Lebzeiten jedoch zieht das Ehepaar in ein Haus in Podkowa Leśna bei Warschau.

 

Der Passierschein ins Leben

In der Zeit nach dem Wohnungswechsel ist Kwaśniewska ununterbrochen im Widerstand aktiv. Anfang August 1944 wird im nahegelegenen Pruszków das Durchgangslager 121, auch Dulag 121 genannt, von den Nazis errichtet. Es handelt sich um ein Lager für Warschauer Zivilbevölkerung, die im Warschauer Aufstand und nach seiner Zerschlagung aus ihren Häusern vertrieben wurde. Innerhalb eines halben Jahres werden rund 400.000 Menschen durch dieses Lager geschleust. Die Nazis führen dort Selektionen durch: wer kräftig genug ist, wird zur Zwangsarbeit eingeteilt, die Schwachen, Alten und Kranken werden in Konzentrationslager verbracht. 

Zu dieser Zeit erinnert sich Maria Kwaśniewska an das tief in einem Koffer versteckte Foto mit Adolf Hitler. Sie nimmt es mit und zeigt es den Wachmännern am Eingangstor des Lagers Pruszków. Das Foto wirkt wie ein Passierschein. Gewiss wissen die Gendarmen nicht, wer Kwaśniewska ist, wollen aber der Frau, die den Führer persönlich kennt, nicht widersprechen, also salutieren sie vor ihr und erlauben ihr, das Lagergelände zu betreten. Maria Kwaśniewska holt Gefangenen aus den Baracken, zuerst jeweils ein Paar, später, ermutigt durch die Reaktion der Wachposten, ganze Gruppen. „Ich habe die Leute nach draußen gebracht, erst nach Pruszków und dann nach Podkowa Leśna, in mein Haus. In meinem Haus hatte ich ein Durchgangslager“, erinnert sich Kwaśniewska und fügt zu: „Die Gendarmen führten ihre Hände an die Mützen und ließen meine Transporte durch.“[4]

Wie viele Menschen ihr Leben der berühmten Speerwerferin verdanken, ist unbekannt. Sicher ist, dass die Schriftstellerin Ewa Szelburg-Zarembina sowie der Schriftsteller und Feuilletonist Stanisław Dygat dazugehören. Viele der von Maria Kwaśniewska geretteten Personen hielten noch viele Jahre nach dem Krieg Kontakt zu ihr. 

 

Ein sporterfülltes Leben

Nach dem Ende des Kriegs kehrt die Leichtathletin für eine kurze Zeit zum Sport zurück. Sie ist jetzt 32 Jahre alt und hat ihre beste Zeit hinter sich. Trotzdem wird sie noch ein Mal, ein letztes Mal, polnische Meisterin im Speerwurf und vertritt ihr Land noch einige Male im Basketball. 1946 verabschiedet sie sich bei den Europameisterschaften in Oslo, wo sie im Speerwurf den sechsten Platz belegt, vom aktiven Sport, bleibt ihm aber treu. Von 1947 bis 1979 gehört sie dem Vorstand des Polnischen Leichtathletik-Verbands an und wirkt auch über 20 Jahre im Leichtathletik-Weltverband (IAAF) mit.[5] Außerdem ist sie Mitbegründerin des Olympioniken-Klubs (Klub Olimpijczyka), langjähriges Mitglied des Polnischen Olympischen Komitees (Polski Komitet Olimpijski) und Trägerin der „Kalós Kagathós”-Medaille (2003).[6] Maria Kwaśniewska ist auch die erste polnische Sportlerin, die für ihre Verdienste um die Olympischen Spiele den Olympischen Orden in Bronze erhielt (1978). 2003 wurde in der Ortschaft Spała eine nach ihr benannte Gedenkstätte des polnischen Sports (Park Pokoleń Mistrzów Sportu) eingerichtet. 

Maria Kwaśniewska, die bis zum Ende aktiv blieb, starb am 17. Oktober 2007 im Alter von 94 Jahren in Warschau. Ihre letzte Ruhestätte fand sie auf dem alten Teil des Powązki-Friedfofs.

 

Monika Stefanek, September 2019

 

[3] Ebenda. [Zebrzydowice (dt. Seibersdorf) liegt an der Grenze zu Tschechien in Schlesien. - Anm. der Übers.]

[4] Wie oben.

[5] Maria Kwaśniewska, Talent i serce [Maria Kwaśniewska. Talent und Herz], online auf: www.sportowcydlaniepodległej.pl 
[6] Mit der Kalós Kagathós Medaille werden herausragende Sportler geehrt, die sich auch Verdienste jenseits des Sports erwarben. - Anm. d. Übers.]

Mediathek
  • Das berühmte Foto der Speerwerferin mit Adolf Hitler, Berlin 1936

    Das berühmte Foto der Speerwerferin mit Adolf Hitler und den deutschen Teilnehmerinnen an diesem Wettkampf, Berlin 1936.
  • Olympische Medaillenzeremonie, Berlin 1936

    Olympische Medaillenzeremonie, Maria Kwaśniewska auf dem Podium rechts, Berlin 1936.
  • Maria Kwaśniewska während der Olympischen Spiele, Berlin 1936

    Maria Kwaśniewska beim Speerwurfwettkampf während der Olympischen Spiele, Berlin 1936. 
  • Polnische Leichtathletinnen vor der Abfahrt zu den Olympischen Spielen in Berlin, 1936

    Polnische Leichtathletinnen vor der Abfahrt zu den Olympischen Spielen in Berlin, von rechts: Maria Kwaśniewska, Jadwiga Wajsówna und Stanisława Walasiewicz (alle kehren mit Medaillen zurück), 1936.
  • Verabschiedung der polnischen Olympia-Mannschaft, 1936

    Verabschiedung der polnischen Olympia-Mannschaft durch ihre Fans, 1936.
  • Vorbeimarsch der olympischen Frauenmannschaft, Warschau 1936

    Vorbeimarsch der olympischen Frauenmannschaft, erste Reihe von links die Leichtathletinnen Jadwiga Wajsówna, Stanisława Walasiewicz und Maria Kwaśniewska, Warschau 1936. 
  • Polnische Leichtathletinnen vor dem Morgentraining, London 1934

    Polnische Leichtathletinnen vor dem Morgentraining, Maria Kwaśniewska dritte von links, London 1934.
  • Maria Kwaśniewska beim Weitsprung, London 1934

    Maria Kwaśniewska beim Weitsprung im Fünfkampf der Frauen, London 1934.
  • Die Siegerinnen im Speerwurf bei den Olympischen Spielen, Berlin 1936

    Die Siegerinnen im Speerwurf bei den Olympischen Spielen, von links nach rechts: Othilie „Tilly“ Fleischer (Gold), Maria Kwaśniewska (Bronze) und Luise Krüger (Silber), Berlin 1936. 
  • Vereidigung der Olympioniken, Warschau 1935

    Vereidigung der Olympioniken durch den Präsidenten des Polnischen Olympischen Komitees, Oberst Kazimierz Glabisz, Maria Kwaśniewska in der Mitte des Bildes, Warschau 1935. 
  • Leichtathletin Maria Kwaśniewska, Dresden 1935

    Leichtathletin Maria Kwaśniewska, Dresden 1935.
  • Maria Kwaśniewska, Warschau 1934

    Maria Kwaśniewska, Warschauer Meisterschaft im Dreikampf, Warschau 1934. 
  • Maria Kwaśniewska beim Speerwurfwettkampf, Łódź 1934

    Bezirksmeisterschaft der Stadt Łódź im Fünfkampf, Maria Kwaśniewska beim Speerwurfwettkampf, Łódź 1934.
  • Leichtathletikmannschaft der Frauen der Stadt Łódź vor den Wettkämpfen, 1934

    Leichtathletikmannschaft der Frauen der Stadt Łódź vor den Wettkämpfen von 1934, erste Reihe: Jadwiga Wajsówna und Maria Kwaśniewska (rechts).
  • Maria Kwaśniewska mit einem Blumenstrauß

    Maria Kwaśniewska mit einem Blumenstrauß, kurz nachdem sie den polnischen Rekord im Speerwurf aufgestellt hat. 
  • Maria Kwaśniewska mit ihrem Speer, 1935

    Maria Kwaśniewska mit ihrem Speer, 1935.