"Zofia Posmysz – szrajberka"

Zofia Posmysz, Erkennungsbild (Fragment), aufgenommen bei der Registrierung im KL Auschwitz im Jahr 1942
Zofia Posmysz, Erkennungsbild (Fragment), aufgenommen bei der Registrierung im KL Auschwitz im Jahr 1942

Maria Anna Potocka: Zofia Posmysz – szrajberka [Die Schreiberin]

(Ausschnitte aus dem Buch unter demselben Titel, das Ende 2017 im Verlag des MOCAKs erscheint)

 

Flüstern kann am lautesten sein

 

Nach sechswöchigen Ermittlungen, während derer ich vier Mal verhört wurde, wurde ich von Krakau nach Auschwitz verlegt und obwohl ich schon viel von Auschwitz gehört hatte, war ich ob dieser Information unbesorgt. Ich freute mich sogar, denn das hieß für mich, dass ich nie wieder zum Sitz der Gestapo geladen werde. Diese Verhöre waren damals unserer schlimmste Alptraum.

Als ich mich dem Lagertor näherte und die Aufschrift „Arbeit macht frei” sah, dachte ich naiv, dass es sicher nicht so schlimm sein wird. Ich dachte, wenn ich arbeiten werde, werden sie mich freilassen, denn schließlich hat es gegen mich keinen ernsthaften Prozess gegeben. Ich dachte, dass ich mir die Freiheit erarbeiten werde.

Anfangs, als ich dem Außenkommando zugeteilt war, haben sie uns um halb vier nachts geweckt. Sicher deshalb so früh, weil der SS-Trupp die Ordnung seinerzeit nicht richtig in den Griff bekam. Zuerst musste man die Kessel mit Kaffee und Tee aus der Küche in die Blocks bringen und dort in die Becher und Schüsseln verteilen. Das nannte man Frühstück. Manche Gefangene waren diszipliniert genug, um am Abend zuvor noch eine Scheibe Brot zurückzulegen, andere wiederum hatten morgens nur diese Flüssigkeit und gingen hungrig zur Arbeit.

Die Arbeit der ersten Tageshälfte dauerte bis halb eins. Dann kamen LKWs mit Suppenkesseln. Nach dem Mittag gab es eine halbe Stunde Erholung, in der man sich hinlegen durfte. Einigen gelang es sogar, einzunicken. Danach folgte die nächste Arbeitsphase, die bis sechs Uhr dauerte. Nach der Rückkehr ins Lager wurden wir sofort zum Abendappell befohlen. Dabei hat ein SS-Mann oder eine SS-Frau zusammen mit einem, der eingetragen war, abermals den Blockstand geprüft. Anschließend wurde der Appell abgepfiffen. Dann ging es in die Küche, um den abendlichen Kaffee oder Tee und die Lebensmittelration abzuholen, vor allem Brot. Jeder Gefangenen stand ein Drittel eines Ein-Kilo-Leibes zu. Tatsächlich aber haben wir eine solche Portion jedoch nie bekommen, da die Blockführerin einen Teil für sich behielt. Zum Brot gab es noch ein kleines Stück Margarine oder Käse, den man Quark nannte. Das war eine deutsche beziehungsweise eine österreichische Spezialität, eine Art Camembert, und dieser Käse schmeckte mir sogar.

Unsere erste Arbeit nach der Ankunft in Auschwitz bestand in der Zerkleinerung von Erdschollen auf einem Feld, das einige Kilometer vom Lager entfernt war. Eine grausame Schinderei war das. Hinzu kamen Hunger, schreckliche Hitze und der Mangel an Flüssigkeiten. Nach der Arbeit stellten wir uns abends mit Schüsseln oder Halbliterbechern in eine Schlange vor dem Brunnen. Ein Problem stellte sich ein: Was kann man mit so wenig Wasser machen? Die meisten tranken es aus. Andere wuschen sich das Gesicht. Ich habe aber auch Mädels gesehen, die hinter die Latrine gingen und sich mit dem Wasser untenrum wuschen. Das kam mir absurd und überspannt vor.

Nach der Rückkehr aus der Strafkompanie wurde in Birkenau die Nummer eintätowiert. Die Tätowierung nahm eine Gefangene vor, die auf einem kleinen Stuhl vor einem kleinen Tisch saß. Sie hatte komisches Werkzeug dabei, das am ehesten an einen Füller erinnerte. Mit diesem Gerät stach sie uns und tätowierte die Nummern ein. Die Gefangene, die das tat, eine Jüdin, jedenfalls schien sie mir eine zu sein, sagte mir, ich sollte den Ärmel hochkrempeln, dann würde sie mir die Nummer höher eintätowieren. 

 

Eines Tages, als wir aus Richtung der Lagerstraße kamen, sah ich eine Gefangenengestalt am Stacheldraht hängen. Sie hat die Lagerwirklichkeit nicht ausgehalten und Selbstmord begangen, indem sie den unter Strom stehenden Stacheldraht fasste. Mit den Händen am Draht verharrte sie in einer dramatischen, hängenden Haltung. Es war ein grausamer Anblick. Da sich solche Situationen häuften, lernte ich, nicht hinzuschauen. Oft hörte man nachts einen entsetzlichen Schrei – die Selbstmorde kamen vor allem nachts vor – der einen aus dem Schlaf riss. Ich wusste nicht, dass ein Mensch, der vom Stromschlag getroffen wird, einen so fürchterlichen Schrei von sich gibt. Nachdem man wach wurde, wusste man, dass wieder jemand im Stacheldraht hing. In einer solchen Situation habe ich immer meinen Kopf weggedreht. Ich wollte lieber nichts sehen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, finde ich in diesen Reaktionen mehr Entsetzen als Mitleid und vielleicht sogar einen Groll gegen die Person, die unsere Nachtruhe störte. Das erste, was ich empfand, war ein mit Hilflosigkeit unterfüttertes Entsetzen. Ich war über meine eigene Hilfslosigkeit entsetzt. Der Mensch im Lager fürchtet Mitleid, da Mitleid nach einer Reaktion verlangt. Ich dagegen habe mehrere Male gesehen, wie Menschen geschlagen wurden, geschlagen bis zur Bewusstlosigkeit und ich konnte nichts tun. Wenn man hilflos ist, fordert der Selbsterhaltungstrieb dazu auf, wegzuschauen. Könnte ich diesen Menschen zu Hilfe eilen und den Kampf mit den Mörderinnen aufnehmen? Wegschauen und Weghören waren eine Art Selbstverteidigung. Was habe ich damals empfunden? Wut? Vielleicht auch, eher aber Hilfslosigkeit. Eigentlich Wut der Hilfslosigkeit. So möchte ich es bezeichnen.

In dieser Zeit, es war Ende Januar 1942, kam ein SS-Mann in den Block, der neue Mitarbeiterinnen für die Küche suchte. Ich wagte, an ihn heranzutreten, meldete mich gehorsam und teilte mit, dass ich soeben gesund geworden sei, dass ich früher in der Küche gearbeitet hätte und daher gern dorthin zurückkehren würde. Er stimmte zu. Noch am selben Tag wurde ich wieder im Küchenblock aufgenommen.

Mitte 1943 wurden in Birkenau alle SS-Männer durch Frauen im Dienste der SS ersetzt. Sie kamen aus Ravensbrück nach Auschwitz, um hier Ordnung zu schaffen. Unter ihnen war die Aufseherin Franz. Sie erfuhr, dass ich Deutsch konnte. Sie musterte mich genau und sagte, dass ich [ab jetzt] die Eingangs- und Ausgangsbücher führen würde. Ich sollte am Ende der Küche arbeiten, dort wo ein kleiner, mit Buchführungsbüchern vollbelegter Tisch mit Schubladen aufgestellt wurde. Am nächsten Tag trat Aufseherin Franz zusammen mit einem polnischen Häftling, der das Abzeichen „P“ für politisch trug, in die Küche. Sie brachte ihn zum Tisch, an dem ich arbeitete und erklärte, dass dieser Häftling mir die Führung der Eingangs- und Ausgangsbücher beibringen werde. Er sagte, sein Vorname sei Tadeusz.[1]

Mein Treffen mit Tadeusz und ganz sicher die Tatsache, dass ich Auschwitz überlebt habe, verdanke ich in gewisser Weise der Aufseherin Franz. Vieles im Lager hing davon ab, auf welches Individuum man traf. Deswegen schaute ich mir sie gründlich an, als sie das erste Mal in die Küche kam. Sie war eine eher unscheinbare Person, nicht allzu groß, dunkelhaarig, von durchschnittlichem Aussehen und ziemlich füllig. Sie war einige Jahre älter als ich. Gleich zu Beginn hielt sie eine Rede. Sie verkündete, dass der SS-Frauen-Trupp hier angekommen sei, um diesen Sumpf in ein ordentliches Lager zu verwandeln, nach dem Vorbild von Ravensbrück. In Auschwitz sollte ein Musterlager entstehen. Um das zu erreichen, sei die Mitwirkung aller Häftlinge unabdingbar. Sie fügte noch hinzu, und das habe ich mir sehr gut gemerkt, dass sie niemanden schlagen werde, da sie sich nicht die Hände schmutzig machen wollte. Sollten wir gewissenhaft arbeiten, hätten wir ein ruhiges Leben, das wurde von ihr ebenfalls gesagt. Sie warnte uns vor allen Verstößen gegen das Reglement, da sie hart bestraft würden. Leider waren Verstöße gegen das Reglement nicht zu vermeiden, da im Lager fast alles eine Straftat war.

 

[1] Tadeusz Paolone (1909-1943), Häftling im KZ Auschwitz mit der Nummer 329, wurde wegen seiner konspirativen Tätigkeit im Lager erschossen. Zofia Posmysz beschrieb ihr Treffen mit ihm in ihrer Erzählung Chrystus oświęcimski [Christus von Auschwitz].

Im Juni 1943 nahm ich meine Arbeit als Schreiberin auf. Direkt nach dem Appell ging ich in mein Büro. Das war ungefähr um sieben beziehungsweise halb acht. Um acht Uhr kam die Küchenaufseherin, in der Regel die Franz; sie löste die Aufseherin, die nachts bei den Köchinnen war, ab. Direkt nach meiner Ankunft fing ich mit der Arbeit an, also mit den Berechnungen und den Überprüfungen. Der Personalstand der Blöcke und die vorgegebenen Portionen, also die festgelegten Essensrationen für jede Gefangene, lagen mir vor. Nun musste ich das auf die entsprechende Menge der Produkte umlegen, je nach dem, was für diesen Tag eingeplant war. Jeden Tag gab es Brot, aber es gab auch Beigaben zum Brot. Das alles hatte ich auszurechnen und umzurechnen.

Ein wenig Zeit für mich hatte ich, wenn die Aufseherin Franz zu Mittag fuhr, dann konnte ich schreiben. Als Schreiberin hatte ich Zugang zu den Schreibutensilien. Ich fing mit Notizen über den Alltag an, ging aber bald zu Gedichten über. Heute messe ich ihnen keinen hohen poetischen Wert mehr bei. Die Gedichtskizzen schreib ich auf lose Zettel. Eines Tages erhielt ich eine Kladde, in die ich die Gedichte dann übertragen habe. Endlich konnte ich sie alle zusammenführen. Die meisten Gedichte waren Gebete oder Erinnerungen an die Freiheit. Einige von ihnen nehmen Bezug auf den Tod von Tadeusz. Unter diesen Gedichten befindet sich auch der für mich wichtige „List do Matki“ [Brief an die Mutter]. Das Schreiben der Gedichte entsprang dem Willen, sich aus der unmenschlichen Wirklichkeit, von der wir damals umgeben waren, loszureißen. Und diese Realität wurde zunehmend schrecklicher. Zwar hatten wir, die wir in der Küche und in der Brotkammer gearbeitet haben, es viel leichter und besser als die anderen Häftlinge, doch dabei hatte alles, was sich an der Rampe und in den Gaskammern abspielte, entsetzlichen Einfluss auf unser Leben. Wir wussten von der Hekatombe, der Apokalypse, die dort herrschte. Tag und Nacht hörte man die ankommenden Züge, ein Transport nach dem anderen. Ob wir es wollten oder nicht, wurden wir Zeugen des Ganzen und irgendwie nahmen wir auch daran teil. Wahrscheinlich war mein Schreiben ein Versuch, mich aus dieser schrecklichen Wirklichkeit loszureißen. Allerdings diensten nicht alle Gedichte der Flucht in eine andere Welt. Es gab auch welche, die ich politisch nennen könnte. Eines davon klagte England für seine Mitschuld am Holocaust an, da es nichts dagegen tat. In Auschwitz sterben Menschen, die Krematorien brennen, die Schornsteine rauchen Tag und Nacht, wir ersticken im Lager am Gestank der brennenden Körper und England tut nichts. Ich dachte, dafür sollte es aus Scham selbst ersticken.

 

Meine letzte Begegnung mit der Aufseherin Franz fand unmittelbar vor ihrer Abfahrt aus Auschwitz statt. Zusammen mit der Führungsriege des Lagers, all den dekorierten SS-Männern und den Häftlingen, verließ sie das Lager noch vor dessen Evakuierung. Ich hatte den Eindruck, sie wollte, dass ich mit ihnen kommen sollte. Gesagt hat sie es nicht direkt, aber ich dachte mir damals, dass es besser wäre, wenn ich mich von der Aktion fernhalten würde, also ging ich zu Frau Doktor Stefania Perzanowska.[2] Sie war Ärztin im Revier, das heißt im Lagerhospital. Ich bat sie, mich für ein paar Tage ins Krankenhaus zu stecken, da ich die Abfahrt der SS-Gruppe abwarten wolle. Frau Doktor Perzanowska verstand mich sehr gut und ließ mich am nächsten Tag kommen.

- Ich gebe dir etwas, wonach du hohes Fieber bekommst.

Ich bekam eine simple Milchspritze in die Pobacke. Es war mir nicht klar, dass sie so wirkungsvoll sein konnte, auf jeden Fall bekam ich sehr schnell hohes Fieber. Die Aufseherin Franz hatte meine plötzliche Erkrankung, von der sie von den Gefangenen erfuhr, so neugierig gemacht, dass sie ins Hospital kam, um zu prüfen, was geschehen war. Doktor Perzanowska trat mit ihr an mein Bett und begann ihr zu erklären, dass ein so hohes Fieber eine ernsthafte ansteckende Erkrankung vermuten lasse. Sie erklärte ihr noch irgendetwas, worauf die Franz wütend „Quatsch!“ sagte, sich umdrehte und ging. Ich habe sie nie mehr gesehen.

Nach dem Krieg verfolgte ich die Prozesse gegen die SS-Männer. Ich beobachtete und wartete, wann die Aufseherin Franz im Gericht erscheinen würde. Ich wusste, dass ich dann sicher als Zeugin geladen würde. Die ganze Zeit überlegte ich, was ich über sie sagen könnte, wie ich es sagen sollte, welche Situationen ich erwähnen sollte… Ich erinnerte mich an verschiedene Fakten, an ihr Verhalten, ihre Reaktionen… Eine psychologische Charakterisierung von ihr hätte ich wohl nicht zustande gebracht. Aber das waren nur meine Vermutungen und Überlegungen. Doch ich dachte die ganze Zeit daran. Letztlich kam ich zum Schluss, dass ich nicht viel über sie sagen könnte, eigentlich nur das, dass sie mir gegenüber in Ordnung gewesen war. Aus diesen Überlegungen entstand die erste Idee, eine Erzählung über eine zufällige Begegnung mit der SS-Frau zu schreiben. Schließlich entstand [der Roman] „Die Passagierin“, der durch ein seltsames Ereignis in Paris inspiriert wurde.[3]

 

Maria Anna Potocka, August 2017

 

[2] Stefania Perzanowska (1896-1974) kam am 15. April 1944 mit einem Transport aus dem KZ Lublin (Majdanek), wo sie Krankenhausärztin war, nach Auschwitz. Sie erhielt die Nummer 77368.

[3] Zofia Posmysz traf auf den Champs-Élysées auf eine Gruppe deutscher Touristen. Die Stimme einer der Frauen klang fast so wie die Stimme der Aufseherin Franz.