Der „Narodowiec“ – eine nationalpolnische Ruhrgebietszeitung

Titelseite der ersten Ausgabe von „Narodowiec“, Herne, 2. Oktober, 1909
Titelseite der ersten Ausgabe von „Narodowiec“, Herne, 2. Oktober, 1909

Interessanterweise waren die beiden Herausgeber Michał (Michael) Kwiatkowski und Josef Pankowski wie auch weitere Mitarbeiter in den Jahren zuvor beim „Wiarus Polski“ als Redakteure angestellt oder dort freie Mitarbeiter. Auf den ersten Blick unterschieden sich die Zeitungen inhaltlich denn auch nicht wesentlich voneinander, so dass die Herausgabe des „Narodowiec“ wohl auch nur für Eingeweihte zu verstehen war. So meinte noch 1914 der Polizei-Präsident in Bochum, dass „persönliche Eitelkeiten" zu dominieren (schienen). Kwiatkowski und Brejski, die Hauptleiter und Inszenierer der Polenbewegung im Westen, streiten darüber, wer der radikalere ist, und nehmen jeder für sich die Vaterschaft an dem Polenkongreß in Holland in Anspruch. (Sie glauben) auch in diesem Kampf sich dem Polentum dadurch zu empfehlen, daß sie ihre fortgesetzte Anfeindung der deutschen Geistlichen sich als besonderes Verdienst um die „nationale Sache“ anrechnen lassen.[3] Diese Sicht herrscht bis heute in der deutschen Geschichtsschreibung über diese beiden Zeitungen vor.

Tatsächlich aber waren nicht in erster Linie „persönliche Eitelkeiten“, die es auch gegeben haben mag, und ein Wettbewerb, wer der radikalere Deutschenhasser sei, die Ursache für die Herausgabe des „Narodowiec“, sondern wesentliche Meinungsverschiedenheiten politischer Natur. Der „Narodowiec“ und der „Wiarus Polski“ waren Organe zweier auch in den Herkunftsgebieten der polnischsprachigen Arbeitsmigration existierender konkurrierender politischer Strömungen. Diese vertraten in einigen wesentlichen Punkten unterschiedliche Konzeptionen für die Arbeit unter den polnischsprachigen katholischen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung des alten polnischen Adels- und Magnatentums mit seinem nationalen Führungsanspruch und den mit ihnen verbundenen politischen Organisationen. Im Unterschied zu diesen sprachen sie sich für die Gleichberechtigung aller Schichten innerhalb der Nation aus. Politisch drückte sich diese Ansicht in der Ideologie des gesellschaftlichen Solidarismus aus: Jede gesellschaftliche Schicht habe innerhalb der Nation wie auch im gemeinsamen nationalen Staat ihre Aufgabe und man müsse deshalb auch jede für sich respektieren und ihre Lebensgrundlage sichern. Einig waren sich ebenfalls beide in dem Ziel, das nationale Gefühl unter den Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten zu entwickeln und zu festigen. Wesentliches Mittel dazu sei die Gründung polnischer Vereine sowie die Verknüpfung dieser Organisationen zu einer polnischen Gesellschaft „in der Fremde“, wie man die Siedlungsgebiete der Arbeitsmigrantinnen und -migranten nannte. Im Falle der Neugründung eines polnischen Staates sollte so gewährleistet werden, dass eine möglichst große Zahl dorthin übersiedelte. Auch in der strikten antisozialistischen Ausrichtung der Polenbewegung und der Bewahrung und Stärkung des Katholizismus in ihr stimmte man überein. Unterschiedliche Auffassung vertrat man aber darüber, welches Gewicht dem Arbeitercharakter der polnischsprachigen Migration im Ruhrrevier zugebilligt werden dürfe und welche Rolle die politischen Organisationen der National- sowie der sich herausbildenden Christdemokratie „in der Heimat“ unter der Arbeitsmigration „in der Fremde“ spielen sollten. Der Herausgeber des „Wiarus Polski“, Jan Brejski, und infolge dessen die Zeitung[4] selbst, trat für eine weitgehend politische wie auch organisatorische Unabhängigkeit der Arbeitsmigration „in der Fremde“ ein und sprach als Anhänger der in den Herkunftsgebieten bestehenden politischen Strömung der Ludowcy – diese verstand sich als Vertreterin der kleinen Leute – dem Arbeitercharakter der Erwerbsmigration eine zentrale Rolle zu. Nur so könnten die nationalpolnischen Kräfte seiner Meinung nach Einfluss auch auf den klassenbewussten Teil der polnischen Arbeiter*innen „in der Fremde“ gewinnen.

 

[3] Ebenda, Blatt 134

[4] S. dazu und den weiteren Ausführungen zum Wiarus Polski“ ausführlich: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/wiarus-polsk…

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  • Titelseite der ersten Ausgabe von „Narodowiec“

    Titelseite der ersten Ausgabe von „Narodowiec“, Herne, 2. Oktober 1909, aus: „Polak w Niemczech”, Bochum 1972, S. 44
  • Gebrüder Marian und Michał Kwiatkowski

    Gebrüder Marian und Michał Kwiatkowski, aus „Polak w Niemczech”, Bochum 1972, S. 44
  • Verlag und Druckerei von „Narodowiec“

    Verlag und Druckerei von „Narodowiec“ auf der Bahnhofstraße in Herne, aus „Narodowiec“, Jubiläumsausgabe 1959, siehe PDF Narodowiec 1972-1959, S. 91
  • Redakteure und Setzer in der Druckerei

    Redakteure und Setzer in der Druckerei von „Narodowiec“ auf der Bahnhofstraße in Herne, aus „Narodowiec“, Jubiläumsausgabe 1959, siehe PDF Narodowiec 1972-1959, S. 91
  • Setzer in der Druckerei von „Narodowiec“

    Setzer in der Druckerei von „Narodowiec“ auf der Bahnhofstraße in Herne, aus „Narodowiec“, Jubiläumsausgabe 1959, siehe PDF Narodowiec 1972-1959, S. 91
  • An der Druckmaschine

    An der Druckmaschine in der Druckerei von „Narodowiec“ auf der Bahnhofstraße in Herne, aus „Narodowiec“, Jubiläumsausgabe 1959, siehe PDF Narodowiec 1972-1959, S. 91
  • Redaktionsteam von „Naród“

    Redaktionsteam von „Naród“ auf der Bahnhofstraße in Herne, aus „Narodowiec“, Jubiläumsausgabe 1959, siehe PDF Narodowiec 1972-1959, S. 91
  • Titelseite der letzten Ausgabe von „Naród“

    Titelseite der letzten Ausgabe von „Naród“, Herne, 1. September 1939, aus: „Polak w Niemczech”, Bochum 1972, S. 44
  • Narodowiec 1954-1959

    Narodowiec 1954-1959
  • Narodowiec 1972-1959

    Narodowiec 1972-1959, darunter die Jubiläumsausgabe "Narodowiec-50 Jahre" (Seite 89)
  • Bestandstabelle "Narodowiec"

    Übersicht über vorhandene Ausgaben und Jahrgänge in Bibliotheken, Institutionen und Archiven