Dora Diamant – Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin
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Vereinzelte und zeitlich begrenzte Informationen über Dora Diamant waren seit langem bekannt. Der Schriftsteller Max Brod (1884–1968), Franz Kafkas enger Freund und späterer Nachlassverwalter, wusste von ihr spätestens seit September 1923 aus Postkarten und Briefen, die Kafka ihm aus Berlin-Steglitz nach Prag schrieb. Am 9. November reiste Brod nach Berlin um seine Geliebte, die Schauspielerin Emmy Salveter, zu treffen, sich Gewissheit über Kafkas gesundheitlichen Zustand zu verschaffen und um dessen neue Freundin Dora kennen zu lernen. Seitdem ließ Dora Grüße an Brod bestellen. „Ich möchte auch mal an Max schreiben“, betonte sie im Januar 1924 in einem Brief.[1] Kafkas jüngste Schwester Ottla (1892–1943 KZ Auschwitz-Birkenau) und ihr Mann Josef David (1891–1962) erfuhren spätestens seit Dezember 1923, Kafkas Eltern seit Januar 1924 regelmäßig über Dora und erhielten auch von ihr persönlich verfasste Notizen und Grüße. Noch in seinem letzten Brief an die Eltern schrieb Kafka, dessen Tuberkulose im Frühjahr 1924 auf den Kehlkopf übergegriffen hatte, am Tag vor seinem Tod von der „in der Ferne völlig unvorstellbaren Hilfe von Dora“.[2] Auch in Kafkas Briefen an die jugendliche, mit ihren Eltern in Berlin lebende spätere Tänzerin Tile Rössler (Tehila Ressler, 1907–1959), an seine vorherige Geliebte Milena Jesenská (1896–1944 KZ Ravensbrück), an den Vortragskünstler und Rezitator Ludwig Hardt (1886–1947) und an den Freund Robert Klopstock (1899–1972), der Kafka gemeinsam mit Dora Diamant bis zu dessen Tod pflegte, wurde Dora regelmäßig erwähnt.
Dora Diamant erzählt über ihre Zeit mit Franz Kafka
Etwas mehr als zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam Diamant über ihre Zeit mit Kafka erstmals öffentlich zu Wort. In London führte der aus Prag stammende Autor und Kunsthistoriker Josef Paul Hodin (1905–1995), promovierter Jurist, Biograf des norwegischen Malers Edvard Munch und schließlich Presseattaché der tschechoslowakischen Exilregierung in London, Interviews mit Dora Dymant, wie sie sich seit ihrer Übersiedlung nach London nannte, und mit dem Maler Friedrich Feigl (1884–1965), einem Prager Mitschüler von Kafka. Feigl, der seit 1910 mit seiner Frau in Berlin lebte, hatte Kafka zusammen mit Diamant in Berlin wiedergetroffen. Beide Gespräche verarbeitete Hodin zu dem umfangreichen Aufsatz „Memories of Franz Kafka“, der im Januar 1948 in der monatlichen Londoner Literaturzeitschrift Horizon – A Review of Literature and Art erschien und im Juni 1949 in deutscher Fassung in Berlin in dem bei der amerikanischen Militärregierung herausgegebenen Magazin Der Monat, einer „internationalen Zeitschrift für Politik und geistiges Leben“, abgedruckt wurde.[3]
Feigl, der zusammen mit Kafka das Deutsche Altstädter Gymnasium in Prag besucht und anschließend an der Prager Kunstakademie studiert hatte, berichtete Hodin, Kafka habe ihm in Berlin seine Verlobte, also Dora Diamant, vorgestellt und eines seiner Bilder gekauft, eine etwas unheimlich wirkende Studie von Prag, die Kafka seiner Verlobten geschenkt habe.[4] Hodin schrieb, er habe viele Stunden mit Mrs. Dora Dymant zugebracht, in denen sie über Kafka und über dessen letzte Lebensmonate gesprochen hätten. Sie habe dabei eingeräumt nicht objektiv sein zu können, mehr als 20 Jahre, nachdem Kafka gegangen sei: „But after all, one can only measure time by the importance of one’s experiences. Even today it is often difficult for me to talk about Kafka. Frequently it is not the facts which are decisive, it is a mere matter of atmosphere. What I tell has an inner truth. Subjectivity is part of it.“[5]
In dem Interview berichtete Diamant über ihre erste Begegnung mit Kafka, der ihr am Strand von Müritz in Begleitung seiner Schwester Elli (1889–1942 Vernichtungslager Kulmhof) und von deren beiden Kindern, Gerti und Felix, aufgefallen war. Beeindruckt von Kafkas Erscheinung war sie ihnen in den Ort nachgegangen und hatte ihn am Abend im „Haus Huten“, dem Ferienhaus des Jüdischen Volksheims, wiedergetroffen, wohin Dr. Franz Kafka aus Prag als Ehrengast zum Abendessen eingeladen worden war. Das weitläufige, zweigeschossige Herbergsheim am Rand des Birkenwalds im Osten von Müritz[6] lag in Sichtweite zum „Landhaus Glückauf“, in dem Kafka wohnte. Sie schilderte seine Verhaltensweisen und Wesensart, das spätere Zusammenleben mit ihm in Berlin, die Eigenheiten seiner schriftstellerischen Tätigkeit, seine alltäglichen Gepflogenheiten und Marotten, erteilte Auskunft über Schriftsteller und Publizisten wie Franz Werfel (1890–1945), Willy Haas (1891–1973) und Rudolf Kayser (1889–1964)[7], die ihn besucht hatten, und über Literatur, die er liebte, wie Kleists „Marquise von O.“ oder Goethes „Hermann und Dorothea“. Sie berichtete über seine krankheitsbedingte Abreise von Berlin zu den Eltern nach Prag, über die Einweisungen in Sanatorien in Niederösterreich und Klosterneuburg und über seinen Tod.
Wenig erzählte sie von sich selbst. Sie sei „aus dem Osten“ gekommen, „als ein dunkles Geschöpf voller Träume und Vorahnungen, wie aus einem Roman von Dostojewski entsprungen.“ Sie hätte so viel „vom Westen gehört, von seinem Wissen, seiner Klarheit und seinem Lebensstil“ und so sei sie nach Ende des Ersten Weltkriegs „nach Deutschland mit einer aufnahmebereiten Seele“ gereist: „Nach der Katastrophe des Krieges erwartete jedermann Rettung vom Osten. Ich aber war aus dem Osten davongelaufen, weil ich glaubte, dass das Licht aus dem Westen käme. […] Im Osten wusste man um den Menschen; vielleicht konnte man sich dort nicht so frei in der Gesellschaft bewegen und wusste sich nicht so leicht auszudrücken, aber man wusste um die Einheit von Mensch und Schöpfung. Als ich Kafka das erste Mal sah, erfüllte sein Bild sofort meine Vorstellung vom Menschen.“[8]
[1] Brief Franz Kafka an Max Brod, Berlin-Steglitz, Ankunftsstempel Praha-Hrad, 14.1.1924, in: Max Brod, Franz Kafka – eine Freundschaft. Band 2: Briefwechsel, Frankfurt am Main 1989. Briefe von Franz Kafka aus verschiedenen Quellen können auf der Webseite von ADir. Werner Haas (Universität Wien) mithilfe einer Suchfunktion erschlossen werden, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/ (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). – Max Brod, promovierter Jurist und selbst anerkannter Romanschriftsteller, arbeitete bis zum Frühjahr 1924 als Beamter bei der Postdirektion in Prag, anschließend als Kunst- und Literaturkritiker beim Prager Tagblatt. Postkarten von Kafka an Max Brod vom 20. und 28.4.1924 adressierte Diamant an die Postanschrift des Prager Tagblatt.
[2] Brief Franz Kafka an die Eltern, Kierling, Sanatorium Dr. Hoffmann, 2.6.1924, in: Franz Kafka. Briefe an Ottla und die Familie, herausgegeben von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach, Frankfurt am Main 1975; auch in: Brod 1962 (siehe Literatur), Seite 257 f.
[3] Hans-Gerd Koch fasste die deutsche Übersetzung des Interviews aus der Zeitschrift Der Monat unter dem Autorennamen von Dora Diamant mit der Überschrift „Mein Leben mit Franz Kafka“ zusammen und publizierte diese erneut 1995 in seinem bei Wagenbach erschienenen Sammelband: „Als Kafka mir entgegenkam …“ (siehe Literatur), Seite 174–185. Klaus Wagenbach 1964 [10. Auflage 1972, siehe Literatur], Seite 146, zitiert eine weitere Fassung unter dem Namen von Dora Dymant und dem Titel „Ich habe Franz Kafka geliebt“ aus: Die Neue Zeitung vom 18.8.1948. Dieses Blatt erschien seit 1945 in München und später mit einer eigenen Ausgabe in Berlin als „eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung“ im Verlag der US-Armee; vgl. Bernhard von Zech-Kleber: Die Neue Zeitung, auf: Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Die_Neue_Zeitung (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[4] Hodin 1948 (siehe Literatur), Seite 32–34.
[5] Ebenda, Seite 35.
[6] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 26.
[7] Der Literaturhistoriker Rudolf Kayser war seit 1922 Herausgeber der Berliner Literaturzeitschrift Die neue Rundschau, die im Oktoberheft desselben Jahres Kafkas Novelle „Ein Hungerkünstler“ veröffentlichte. Kayser schrieb im Juli-Heft 1924 einen Nachruf auf Franz Kafka (Band 35, 2. Band, Heft 7, Seite 752); erneut abgedruckt im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 196 f.
[8] Dora Diamant: Mein Leben mit Franz Kafka 1995 (siehe Anmerkung 3), Seite 175.
Bekannte und Freunde berichten über Kafka und Diamant
Als Ergänzung zu Diamants Ausführungen liest sich der von der österreichischen Schriftstellerin Martha Hofmann (1896–1975) aufgezeichnete Erlebnisbericht der damals sechzehnjährigen Tile Rössler, die sich ebenfalls in Müritz in Kafka verliebt hatte und der der Schriftsteller im August 1923 von dort aus einen Brief nach Berlin schrieb.[9] Tile, 1907 als Tehila Ressler im kleinpolnischen Tarnów im österreichisch regierten Galizien geboren, war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit ihren Eltern nach Berlin geflohen, arbeitete nun als Lehrmädchen in der Berliner Buchhandlung Jurovicz unweit vom Alexanderplatz und hielt sich im Juli 1923 ebenfalls im jüdischen Ferienheim in Müritz auf. Ihr war Kafkas Name geläufig, denn sie hatte dessen Erzählung „Der Heizer“ (1913) schon selbst in die Auslage der Buchhandlung gelegt. Kafka wurde bei einer Theateraufführung der Ferienkinder auf Tile aufmerksam und lud sie zu sich in den Strandkorb ein. Tile, so berichtete sie später, habe sich mit einer Einladung zu den Heimabenden im Volksheim revanchiert und Kafka dort mit Dora, der Küchenleiterin des Heims, bekannt gemacht. Als Kafka, zurück in Berlin, Tile zu einer Aufführung von Schillers Drama „Die Räuber“ ins Schauspielhaus ausführte, schienen sich ihre Erwartungen auf eine engere Verbindung zu dem berühmten Schriftsteller zu erfüllen. Umso enttäuschter war sie, als sie bei einer Einladung in Kafkas Steglitzer Wohnung auf Dora traf, die sich jetzt als dessen Lebensgefährtin erwies.[10]
An Dora Diamant erinnerte sich auch die französische Essayistin, anerkannte Kafka-Spezialistin und Kafka-Übersetzerin Marthe Robert (1914–1996), die drei Monate nach Diamants Tod einen Nachruf in der in Paris erscheinenden Zeitschrift Évidences, der Monatszeitschrift des American Jewish Committee, veröffentlichte. Der kurze Text wurde zehn Monate später in der monatlich in München erscheinenden Kulturzeitschrift Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken in deutscher Übersetzung erneut abgedruckt.[11] Robert, die Diamant als zurückgezogen und deren Verhältnisse in London als „bedrückt“ beschrieb, war nur ein einziges früheres Interview bekannt, das der Herausgeber von Évidences, der aus Ungarn stammende französische Journalist und Aktivist Nicolas Baudy (eigentlich Miklos Neumann, 1907–1972), zwei Jahre zuvor veröffentlicht hatte. Dieser hatte sich bei Diamant unter anderem zu Kafkas Hebräisch-Unterricht und zu seinem Verhältnis zum Judentum und zum Zionismus erkundigt.[12] Auf wiederkehrende Fragen, ob Kafka „geglaubt“ habe, also religiös gewesen sei, so Robert, habe Diamant stets mit einem klaren „Nein“ geantwortet.[13] Robert berichtete, Diamant habe zu Beginn ihrer eigenen Krankheit begonnen, Erinnerungen an Kafka niederzuschreiben. Eine von Robert geplante Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen kam jedoch nicht zustande.
Wörtlich zitierte sie Diamants Schilderung von ihrer ersten Begegnung mit Kafka in Müritz. Vor allem aber gab sie erstmals darüber Auskunft, dass Diamant sich Jahrzehnte nach Kafkas Tod im Londoner Exil „berufen“ gefühlt habe, die jiddische Sprache vor ihrer Auslöschung zu retten: „Die jiddische Poesie und Literatur waren in ihren Augen der einzige Teil der Wahrheit, den sie bewahren und überliefern konnte.“ Sie habe Vortragsabende, Versammlungen, Lesungen und Theateraufführungen veranstaltet: „Sie deklamierte, spielte, sang selbst, ließ die anderen mitsingen und entfaltete vor einem Publikum, dessen Gefühl für alte, fast vergessene Emotionen sie wiedererweckte, die außergewöhnlichen schauspielerischen Fähigkeiten, die sie auf dem Theater nicht hatte entwickeln wollen. Mit dem Ende des jüdischen Polen war diese Leidenschaft in ihr wach geworden, jenes Polen, aus dem sie, wie so viele andere, in ihrer Jugend geflohen war und das sie trotzdem niemals ganz verlassen hatte.“ Sie habe ihr eigenes Licht verbreitet. So wie sie es auf Kafka ausgestrahlt hatte, „so strahlte sie es auf ihre Umgebung in dem jüdischen Milieu von Whitechapel aus, das zu ihrer Wahlheimat geworden war.“[14]
Brod, Kafkas Freund seit der gemeinsamen Studienzeit 1902 in Prag, Förderer, Mentor und Sammler von dessen literarischem Werk und Herausgeber des umfangreichen Nachlasses einschließlich der drei großen Romane „Das Schloss“, „Der Prozess“ und „Amerika“, überlieferte in seiner 1937 zuerst in Prag und dann 1962 im S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kafka-Biografie auf 21 Seiten jene Informationen über Dora Dymant, die seitdem standardmäßig wiederholt worden sind. Mit seiner letzten Lebensgefährtin, so urteilte Brod im Kapitel „Die letzten Jahre“, sei Kafka „Glück zuteil geworden […], dass der Ausgang seines Schicksals positiver, lebensvoller war als die ganze Entwicklung bis dahin“.[15]
[9] Martha Hofmann, in Wien geborene Dichterin, Literatin, Lehrerin und jüdische Aktivistin, hatte vermutlich um 1940 in Palästina von Tile Rössler (Tehila Ressler) den Erlebnisbericht und Kafkas Brief erhalten und danach 1942 die um deren Begegnung mit Kafka kreisende Novelle „Dinah und der Dichter“ in hebräischer Sprache veröffentlicht. 1954 enthüllte sie in der Wiener Wochenschrift Die Österreichische Furche (siehe Literatur), dass es sich bei „Dinah“ um Tile Rössler handelte, referierte erneut deren Erlebnisbericht und publizierte im Anhang Kafkas Brief an „Meine liebe Dinah“, bzw. „Meine liebe Tila“, datiert aus Müritz vom 3.8.1923 und adressiert an den Buchladen Jurovicz in Berlin C 2, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/br23-017.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Der Brief befindet sich heute laut Yonat Rotman 2011 (siehe unten, Anmerkung 10), im Archiv der Beit Ariela Bibliothek in Tel Aviv. Hans-Gerd Koch publizierte den Beitrag von Martha Hofmann erneut unter dem Namen von Tile Rössler und mit dem Titel „Begegnung in Müritz“ 1995 in seinem Sammelband „Als Kafka mir entgegenkam …“ (siehe Literatur), Seite 168–173.
[10] Tile Rössler/Tehila Ressler machte ab 1925 eine Tanzausbildung bei Irmgard Meyer in Mannheim, einer Schülerin der Choreografin und Tanzpädagogin Mary Wigman, dann in Dresden bei Wigman selbst und in der 1925 gegründeten Tanzschule von Gret Palucca. Palucca und Rössler pflegten eine enge Beziehung. Ab 1930 arbeitete Rössler als Lehrerin und Schuldirektorin an der Palucca-Schule. 1933 wurde sie im Zuge der „Gleichschaltung“ der Nationalsozialisten zusammen mit allen anderen jüdischen Angestellten von Palucca entlassen. Sie emigrierte nach Palästina, wo sie in Tel Aviv eine eigene Tanzschule, die Tehila Ressler School, gründete. 1943 etablierte sie an ihrer Schule ein Lehrerinnenseminar, deren erste Schülerin die israelische Tänzerin, Tanzpädagogin, Choreografin und Textilkünstlerin Noa Eshkol (1924–2007) war. Ressler starb 1959 in Tel Aviv. Zu Tile Rössler/Tehila Ressler vergleiche: Biographisches Lexikon der Theaterkünstler (Frithjof Trapp und andere, Herausgeber: Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933–1945, Band 2), München 1998, Seite 788; Yonat Rotman: Three letters to Tehila Rössler, in: Mahol Akhshav-Dance Today, Nr. 21, 2011, Seite 69–71, https://www.israeldance-diaries.co.il/wp-content/uploads/2018/10/DT21_Three_letter_to-Tehila.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[11] Robert 1952 und Robert 1953 (siehe Literatur).
[12] Baudy 1950 (siehe Literatur); ein Exemplar der Zeitschrift befindet sich in der Pariser Nationalbibliothek. Vergleiche auch Iris Bruce: Der Proceß in Yiddish, or The Importance of being Humorous, in: Traduction, terminologie, rédaction (TTR), Band 7, Nr. 2, Québec 1994, Seite 41.
[13] Robert 1953 (siehe Literatur), Seite 848 f.
[14] Ebenda, Seite 848.
[15] Brod 1962 (siehe Literatur), Seite 239.
Dora Dymant, so Brod, „stammte aus einer angesehenen ostjüdischen chassidischen Familie. Bei aller Verehrung gegenüber dem geliebten Vater konnte sie den Zwang, die Enge der Tradition nicht ertragen […] Dora entwich aus dem Städtchen in Polen, nahm zuerst in Breslau, dann in Berlin Stellungen an, als Angestellte des Volksheims kam sie nach Müritz. - Sie war eine vorzügliche Hebraistin, Kafka lernte zu jener Zeit mit besonderem Eifer Hebräisch. […] Eines der ersten Gespräche der beiden endete damit, dass Dora ein Kapitel aus Jesaja in der Ursprache vorlas. Franz erkannte ihre schauspielerische Begabung, auf seinen Rat und unter seiner Leitung bildete sie sich später in dieser Kunst aus.“[16]
Kaum zurück aus der „Sommerfrische“ in Müritz fasste Kafka den Entschluss, alle Bindungen nach Prag „zu zerreißen, nach Berlin zu ziehen, mit Dora zu leben“.[17] Während der ersten sechs Wochen lebte das Paar in Steglitz in der Miquelstraße. Da die Zimmervermieterin, eine Frau Hermann, der Kafka in der Erzählung „Eine kleine Frau“ (1924) ein literarisches Denkmal setzte, dem in ‚wilder Ehe‘ lebenden jüdischen Paar laufend Schwierigkeiten bereitete, zog dieses bald in zwei Zimmer in der Grunewaldstraße. „Dort habe ich ihn besucht“, fährt Brod fort, „sooft ich nach Berlin kam, im Ganzen wohl dreimal. Ich fand ein Idyll, endlich sah ich meinen Freund in guter Stimmung, sein körperliches Befinden hatte sich allerdings verschlechtert. […] Franz sprach von Dämonen, die ihn endlich freigelassen hätten. ‚Ich bin ihnen entwischt, diese Übersiedlung nach Berlin war großartig, jetzt suchen sie mich, finden mich aber nicht, wenigstens vorläufig nicht.‘ Das Ideal des selbständigen Lebens, des eigenen Heims hatte er endlich erreicht, er war nicht mehr Familiensohn, sondern gewissermaßen selbst pater familias. […] In diesem Sinn habe ich Kafka in seinem letzten Lebensjahr, das trotz der grauenhaften Krankheit ihn vollendete, auf dem richtigen Weg und mit seiner Lebensgefährtin wahrhaft glücklich gesehen.“[18]
Die äußeren Lebensumstände des Paars waren durch den Inflationswinter 1923 geprägt. Von Einkaufstouren nach Berlin sei Kafka „wie aus dem Schlachtengetümmel“ heimgekommen, wird Dora zitiert. Beide duldeten große Entbehrungen. Kafka habe, so Brod, mit seiner kleinen Pension auskommen wollen: „Nur im äußersten Fall und sehr bedrückt nimmt er von der Familie Geld und Lebensmittelpakete an. […] Es mangelt an Kohle. Butter erhält er aus Prag.“ Dennoch habe er für mittellose Bekannte „Liebesgabenpakete“ erbeten, die nur das Notwendigste enthalten hätten: „Jetzt lebe noch ein paar Tage von dem Grieß, Reis, Mehl, Zucker, Tee und Kaffee und dann stirb, wie es sein muss, mehr können wir nicht tun.“ Zwischen Weihnachten und Neujahr machten Kafka schwere Fieberanfälle zu schaffen. Dennoch zogen er, fiebrig wie er war, und Dora nach Zehlendorf um: „Er lebt zurückgezogen. Ganz selten kommt einmal ein Besuch aus Berlin: Dr. Rudolf Kayser, Ernst Blass.“[19]
Kafka habe Pläne entwickelt nach Palästina überzusiedeln und mit Dora, „die so vorzüglich kochte“, ein Restaurant zu eröffnen, in dem er als Kellner fungieren könnte. In einer der Berliner Wohnungen habe Dora, so habe sie Brod später berichtet, auf Kafkas Geheiß einige von dessen Manuskripten verbrannt: „Er befahl es, sie gehorchte zitternd; noch viele Jahre später tat es ihr leid, dass sie gehorcht hatte. Dabei betonte sie aber, dass sie, vor die gleiche Situation gestellt, auch heute sich dem Willen Kafkas beugen würde. […] Andere Schriften Kafkas, die bei Dora zurückblieben, wurden nach 1933 von der Gestapo beschlagnahmt und offenbar vernichtet.“[20]
Am 17. März 1924 begleitete Brod den inzwischen schwer erkrankten Kafka nach Prag, nachdem Dora und der aus Ungarn stammende Medizinstudent Robert Klopstock, der selbst im Ersten Weltkrieg an Tuberkulose erkrankt war und den Kafka Anfang 1921 in der Heilanstalt des slowakischen Erholungsortes Tatranské Matliare kennen gelernt hatte,[21] ihn in Berlin zum Bahnhof gebracht hatten. Dora kam, so Brod, einige Tage später nach. Nach Zwischenstationen bei den Eltern in Prag und dem Sanatorium Wienerwald in Feichtenbach in Niederösterreich wurde Kafka mit einer Kehlkopftuberkulose nach Wien in eine Klinik verlegt. „Für die Fahrt vom Sanatorium nach Wien“, berichtet Brod, „war nur ein offenes Auto zur Verfügung. Regen und Wind. Während der ganzen Fahrt stand Dora aufrecht im Wagen, suchte Franz mit ihrem Leib gegen das schlimme Wetter zu schützen“. Dora und Klopstock, nun „scherzhaft Franzens ‚kleine Familie‘“ genannt, widmeten sich voll und ganz seiner Pflege und erreichten schließlich eine Verlegung in das helle und freundliche Sanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg.
Kaum mehr in der Lage zu sprechen und Nahrung aufzunehmen, fasste Kafka in den folgenden Wochen neuen Mut. „Er wollte Dora heiraten“, berichtet Brod, „hatte an ihren frommen Vater einen Brief abgeschickt, in dem er darlegte, dass er zwar in des Vaters Sinn kein gläubiger Jude, aber ein ‚Bereuender‘, ein ‚Umkehrender‘ sei und daher vielleicht doch hoffen dürfe, in die Familie des frommen Mannes aufgenommen zu werden.“ Der Vater sei mit dem Brief zum Gerrer Rebbe, der höchsten Autorität der chassidischen Gemeinde, gegangen, der den Brief gelesen, weggelegt und „Nein“ gesagt habe. Der Antwortbrief des Vaters habe für Kafka als „schlechtes Vorzeichen“ gegolten.[22] Zuletzt arbeitete Kafka an Korrekturfahnen für seinen letzten Sammelband „Ein Hungerkünstler“ (1924) und gab Anweisungen zu einer Umstellung der Novellen. Am folgenden Morgen um 4 Uhr begann eine Krisis, die Dora zuerst bemerkte und die nur noch durch Morphium gelindert werden konnte. Im Verlauf des 3. Juni 1924 starb Kafka im Beisein von Diamant und Klopstock.
[16] Ebenda, Seite 240.
[17] Ebenda.
[18] Ebenda, Seite 241 f.
[19] Ebenda, Seite 245–247.
[20] Ebenda, Seite 247 f. – Die von Kafka stammenden Schriftstücke wurden am 8. März 1933 in der Wohnung von Lutz und Dora Lask in der Pariser Straße 13 in Berlin-Wilmersdorf von der Gestapo beschlagnahmt, darunter Tagebuchblätter, 35 an Dora gerichtete Briefe und 20 Manuskripthefte. Sie gelangten ins Archiv der Gestapo, vermutlich 1945 mit dem Gestapo-Bestand nach Moskau, wurden in den 1950er-Jahren an die DDR zurückgegeben, wo sie im Ministerium für Staatssicherheit aufbewahrt wurden, und liegen heute unerkannt vermutlich inmitten riesiger bislang nicht gesichteter Aktenbestände im deutschen Bundesarchiv; vergleiche Hans-Gerd Koch: Franz Kafka. Der unbekannte Aktenberg, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.12.2019, https://www.sueddeutsche.de/kultur/kafka-bundesarchiv-gestapo-akten-1.4711090 (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[21] Zur Biographie von Robert Klopstock vergleiche: Robert Klopstock – Kafkas letzter Freund, auf: PragToGo, https://prag-to-go.com/kafka-in-prag/themen/familie-und-freunde/robert-klopstock-kafkas-letzter-freund (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Vergleiche außerdem Robert Klopstock: Mit Kafka in Matliary, im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 153–156.
[22] Brod 1962 (siehe Literatur), Seite 254.
Endlich beschäftigt sich die Forschung mit dem Thema
In den beiden Jahrzehnten nach dem Erscheinen der Frankfurter Ausgabe von Brods Kafka-Biografie interessierte sich offenbar niemand für die fehlenden Jahrzehnte im Lebenslauf von Dora Diamant. Denn die Zeit vor ihrer ersten Begegnung mit Kafka in Müritz und die 28 Jahre nach dessen Tod konnten vermeintlich nichts zu der immer umfangreicher werdenden Literatur zu dem Schriftsteller beitragen.[23] Erst 1984 fügte der aus Breslau stammende deutsch-amerikanische Übersetzer und Biograf Ernst Pawel (1920–1994) in seiner preisgekrönten Kafka-Biografie „The Nightmare of Reason“ auf anderthalb Seiten Begebenheiten aus Diamants Leben seit den späten 1920er-Jahren hinzu. Sie habe in dieser Zeit eine prominente Führungsperson der Deutschen Kommunistischen Partei geheiratet und mit ihm ein Kind bekommen. Einige Tage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sei ihr Ehemann im Februar 1933 ins Ausland geflohen, gerade rechtzeitig vor der Fahndung durch die Gestapo und der Durchsuchung ihrer gemeinsamen Wohnung, bei der auch Papiere Kafkas konfisziert worden seien. Wenig später hätten Diamant und ihr Kind Deutschland verlassen und seien nach Moskau gegangen. Ihr Ehemann sei in der Sowjetunion festgenommen, als trotzkistischer Saboteur verurteilt und nach Workuta deportiert worden. Sie habe nie wieder etwas von ihm gehört. Nach einer Erkrankung ihrer Tochter an einem Nierenleiden sei Diamant 1938 die Ausreise nach England erlaubt worden, wo diese nach Diamants Tod 1952 heute noch leben würde.[24]
Pawel zitierte auch einen Brief von Diamant an Brod vom Mai 1930 aus Berlin-Charlottenburg, den Brod bereits 1966 unkommentiert veröffentlicht hatte und in dem sie ihr ambivalentes Verhältnis zu Kafkas literarischem Schaffen und der geplanten Veröffentlichung seines Nachlasses schilderte: „Wie ich noch in so unmittelbarer Nähe von Franz lebte, konnte ich nichts anderes, als ihn und mich sehen. Alles, was nicht er selbst war, war halt unbedeutend und manchmal sogar lächerlich. Sein Werk war im besten Fall unbedeutend. Der Versuch, sein Werk als einen Teil von ihm darzustellen, war mir halt lächerlich. Das ist der Ursprung meines ablehnenden Verhaltens gegenüber der Herausgabe des Nachlasses. Außerdem kam damals das mir erst jetzt zu Bewusstsein kommende Gefühl des Teilenmüssens. Jede öffentliche Äußerung, jedes Gespräch betrachtete ich als einen gewaltsamen Einbruch in mein Reich. […]“[25]
Noch zu diesem Zeitpunkt, also im Mai 1930, hatte Diamant verheimlicht, nach Kafkas Tod eine bedeutende Anzahl von dessen Manuskripten und Briefen zurückgehalten zu haben, was schließlich zum Verlust der Schriftstücke bei der Beschlagnahme durch die Gestapo führte. Auch in diesem Fall hatte Brod schon früher berichtet, dass Diamant diesen Umstand schließlich habe gestehen müssen. Nach der Beschlagnahme von einem Teil von Kafkas Nachlass „bei Frau Dora Dymant“ habe er, Brod, den Schriftsteller Camill Hoffmann (1878–1944 KZ Auschwitz), Presseattaché der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin, um „Nachforschung und Intervention“ gebeten: „Seine Mühe war diesmal vergebens. Bald verschwand er selbst in den Stürmen der Zeit […] Auschwitz? – Der Berliner Nachlass Kafkas ist wohl endgültig als verloren anzusehen.“[26]
Mitte der Achtzigerjahre begann die heute in San Diego, Kalifornien, ansässige Theaterwissenschaftlerin Kathi Diamant (*1952) mit intensiven Nachforschungen über Dora Diamant, nachdem sie bereits 1971 während ihres Studiums in einem Kurs für deutsche Literatur mit ihrer Namensverwandten konfrontiert worden war. Nach der Lektüre von Pawels Kafka-Biografie reiste sie zu Recherchen nach Polen, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, in die Tschechoslowakei und nach Israel. Sie forschte in öffentlichen Archiven wie dem Stadtmuseum Pabianice/Muzeum Miasta Pabianic und dem dortigen Einwohnermeldeamt/Urząd stanu cywilnego, wo sie Doras Geburtsurkunde fand, dem Russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte in Moskau, wo Dora Diamants Komintern-Akte archiviert ist, der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv in Berlin sowie im Berliner Landesarchiv, wo Gestapo- und SED-Akten von Dora und der Familie Lask aufbewahrt werden, und im Stadtarchiv Düsseldorf, in dem sich Melde- und Aufenthaltsbescheinigungen von Dora Diamant befinden. In privaten Sammlungen fand sie unter anderem Briefe aus den Jahren 1941 und 1951/52, im Nachlass von Marthe Robert in Frankreich jenes „Tagebuch“, das die Grundlage für Diamants niemals veröffentlichte „Erinnerungen“ an Kafka bilden sollte, im Archiv Klaus Wagenbach in Berlin eine Abschrift des „Tagebuchs“ sowie Texte, Notizen und Briefe aus der Zeit von Dora Diamants Krankheit und Tod.[27]
2003 veröffentlichte Kathi Diamant in New York die rund 400 Seiten starke Biografie „Kafka’s Last Love. The Mystery of Dora Diamant“, in der sie erstmals auch das „Tagebuch“ und weitere chronologische Notizen veröffentlichte. Nach Übersetzungen ins Spanische, Französische, Chinesische, Russische und Portugiesische erschien die deutsche Ausgabe erst ein Jahrzehnt später. Sie enthält Dora Diamants Notizen in der Umschrift der deutschsprachigen Originale, vermehrt durch fotografische Faksimiles.[28] Nicht berücksichtigt blieben 70 Briefe von Dora Diamant an Max Brod, die wegen eines seit 2005 geführten Rechtsstreits um Brods in Israel lagernden Nachlass nicht zugänglich waren, welcher 2016 der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem zugesprochen wurde und seit 2019 zugänglich ist.[29]
[23] Der Literaturwissenschaftler und Kafka-Biograf Reiner Stach (*1951) weist darauf hin, dass Frauen berühmter Männer traditionell die „ehrenvolle Aufgabe“ zukam, „den männlichen Geist zu entzünden und für sinnlichen Brennstoff zu sorgen“: „‚Das Genie und seine Muse‘ ist ein Topos der neueren europäischen Kulturgeschichte und einer der ideologisch hartnäckigsten: Selbst noch im 20. Jahrhundert, als der Geniebegriff längst obsolet geworden ist“. „Felice, Milena, Dora“, „Frauen also, zu denen Kafka in einer bedeutsamen erotischen Beziehung stand und von denen wir wissen, dass sie seine schriftstellerische Arbeit beeinflussten“ sei es ebenso ergangen. Während sich von Felice Bauer, Kafkas erster Verlobten, immerhin ein riesiges Bündel an Briefen erhalten habe, hätten dessen 1952 von Willy Haas herausgegebene „Briefe an Milena“, also an Milena Jesenská, beinahe wie der Titel eines literarischen Werks angemutet. Dies habe dazu geführt, diese Frauen „als bloße Projektionsflächen“ anzusehen. „Und von Dora Diamant hatte man überhaupt keine Vorstellung, außer dass sie für den schwerkranken Kafka ein ganz außergewöhnliches Glück gewesen sein muss. – Erst gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts kam sowohl in der Forschung als auch beim Publikum spürbare Frustration darüber auf, dass man es noch immer mit gesichtslosen Musen zu tun hatte. Es gab nun ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass dies Kafka unmöglich angemessen sein konnte. Denn es ist biografisch durchaus von Belang, wer die Menschen waren, denen er sich nahe fühlte, die er in gewissem Sinne gewählt hatte - ganz zu schweigen davon, dass diese Frauen nun auch um ihrer selbst willen interessant wurden.“ (Vorwort von Reiner Stach, in: Kathi Diamant 2013, siehe Literatur, Seite 17 f.).
[24] Pawel 1984 (siehe Literatur), Seite 438 f.
[25] Bei Pawel 1984 (siehe Literatur, Seite 438) in englischer Übersetzung. Im deutschen Original zitiert bei Max Brod: Der Prager Kreis, Stuttgart und andere: Kohlhammer 1966, Seite 113.
[26] Max Brod: Streitbares Leben 1884–1968, München und andere: F. A. Herbig 1969, Seite 14 f.
[27] Vorwort zur ersten Ausgabe, in: Kathi Diamant 2013, siehe Literatur, Seite 13 f.; Quellen, ebenda, Seite 441–443.
[28] Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe, in: Kathi Diamant 2013, siehe Literatur, Seite 15 f.
[29] Tim Aßmann: Max-Brod-Nachlass in Israel. Kafkas Vokabelheft, auf: Deutschlandfunk vom 7.8.2019, https://www.deutschlandfunk.de/max-brod-nachlass-in-israel-kafkas-vokabelheft-100.html (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
Eine jüdische Biografie zwischen Polen und Deutschland
Dworja Diament wurde nach der Geburtsurkunde im Einwohnermeldeamt von Pabianice am 4. März 1898 als Tochter von Hersz Aron Diament und Frajda Fridl Diament, 24 und 25 Jahre alt, geboren. Der Name des Vaters lautete in der jiddischen Übertragung Herszel (hebräisch Zvi) Aron Lizer Dymant, seine Ehefrau hörte auf den jiddischen Namen Friedel. Früheste Urkunden gehen auf einen Weber Szlama Efroim Dymant zurück, der 1827 in Brzeziny wenige Kilometer östlich von Łódź geboren wurde. Dieser wechselte zwanzig Jahre später mit seiner jungen Familie nach Pabianice, wo zum Ausbau der Baumwollindustrie Weber und Schneider angesiedelt wurden. Herszel Dymant, vermutlich sein Enkel, und Friedel bekamen 1897 einen Sohn, David. Darauf folgten Dworja (oder Dora), dann Jakub, die Schwester Nacha, schließlich Abram und ein weiterer Sohn, Arje. 1905, im Jahr der Geburt des letzten Sohnes, starb die Mutter.[30] Der ältesten Tochter, also Dora, kam von nun an die Versorgung des Haushalts und der Geschwister zu.
Herszel zog nach dem Tod seiner Frau mit den Kindern nach Będzin, wo er sich in der ul. Modrzejowska im Gebiet zwischen der Burgruine und der großen Synagoge (Abb. 1) ansiedelte und erfolgreich eine Werkstatt für Hosenträger und Strumpfbänder betrieb. Er war gebildet, besaß eine umfangreiche Bibliothek, sprach Polnisch, Deutsch, Jiddisch und Hebräisch und wurde einer der angesehensten Bürger der Stadt. Er kleidete sich traditionell im Kaftan, trug Bart und Schläfenlocken, war Leiter der lokalen chassidischen Gemeinde des Rebbe von Ger (Góra Kalwaria) und war verantwortlich für das Gebetshaus. Gemeindemitglieder kamen am Sabbat in sein Haus, während er sich für arme Familien engagierte. Er tat nichts ohne die Entscheidung des amtierenden Gerrer Rebbe, Avraham Mordechai Alter (1866–1948), der wiederum von „Herszel dem Paviancer“, also Herszel aus Pabianice, als seinem „Diamanten“ sprach. Während Będzin am Ende des 19. Jahrhunderts über die siebtgrößte jüdische Gemeinde im Königreich Polen verfügte, die mit rund 11.000 Mitgliedern 45 Prozent der Einwohnerschaft der vom Bergbau geprägten Kreisstadt stellte,[31] widmeten sich die Gerrer Chassiden dem Studium des Talmud, verboten alle Neuerungen und Modernisierungen, die nicht in der Thora standen, und bekämpften die jüdischen Reformbewegungen.
Dora durfte polnische Schulen besuchen, obwohl im russisch regierten Kongresspolen für Kinder bis zum 14. Lebensjahr keine Schulpflicht bestand. Für Mädchen, denen das Studium des Talmuds nach den jüdischen Regeln nicht erlaubt war, verbesserte jedoch eine schulische Allgemeinbildung die „Aussichten auf dem Heiratsmarkt“. Der Vater versäumte indessen, Dora frühzeitig zu verheiraten, was vermutlich auf ihre Pflichten im familiären Haushalt zurückzuführen war.[32] In ihrem Bildungshunger schloss sie sich im Laufe des Ersten Weltkriegs der von zionistischen Gruppen in Będzin gegründeten Organisation Hebraica an, die auf der Grundlage der ersten 1881 gegründeten zionistischen Bewegung, Chibbat Zion, der Überzeugungen von Theodor Herzl (1860–1904) und des ersten Zionistischen Weltkongresses von 1897 die Gründung eines jüdischen Staates und die Verbreitung des Hebräischen als Nationalsprache propagierte. Obwohl die Glaubensgemeinschaft des Gerrer Rebbe den Eltern von Lernenden dieser Organisation, die aus allen politischen und gesellschaftlichen jüdischen Schichten kamen, mit Ausschluss aus der Gemeinde drohten, schrieb Dora sich für Hebräischkurse ein. Die Kurse für Mädchen sowie für Frauen, die ihren Kindern Hebräisch beibringen wollten, wurden von dem in Będzin geborenen Schriftsteller David Maletz (1899–1981), einem der späteren Gründungsmitglieder des Kibbuz En Charod in Palästina, abgehalten, der an einer Talmudhochschule studiert hatte (Abb. 2).[33] Außerdem nahm Dora an einer Theatergruppe teil, in deren Aktivitäten die „ultraorthodoxen religiösen Gruppen“, so Kathi Diamant in ihrem Bericht, eine „Schändung der heiligen Sprache“ sahen.[34]
Nachdem Herszel Dymant 1918 wieder geheiratet hatte und mit seiner neuen Frau weitere Kinder bekam, brachte er Dora nach Krakau, wo sie an der dortigen Beis-Ya’acov-Schule/Szkoła Beis Jaakow zur Kindergärtnerin ausgebildet werden sollte. Diese 1917 von der polnisch-jüdischen Lehrerin Sara Szenirer (Sarah Schenirer, 1883–1935) gegründete Schule, der weltweit weitere Schulgründungen folgten, wurde von den chassidischen Rabbinern wie dem Gerrer Rebbe unterstützt und sollte orthodoxen jungen Frauen erstmals eine höhere Schulbildung ermöglichen, sie vor säkularen Einflüssen und der Assimilation an die polnische Gesellschaft bewahren. Es heißt, dass Dora sich hier erstmals als „denkende und bewusste Person“ wahrnahm.[35] Dennoch fühlte sie sich unter den Mitschülerinnen so unwohl, dass sie heimlich ihre Koffer packte und ins preußische Breslau reiste, wo Bekannte von ihr lebten. Ihr Vater machte sie dort ausfindig, brachte sie erst nach Hause und dann zurück in die Schule nach Krakau.
Doch Dora riss ein zweites Mal aus und fuhr wieder nach Breslau, woraufhin der Vater sich geschlagen gab. Sie arbeitete in einem Kinderheim, lernte Deutsch und bewegte sich in literarischen und studentischen Kreisen. Zu ihren Bekannten gehörte der aus Berlin stammende Journalist Dr. Manfred Georg (Manfred George, 1893–1965),[36] zu dieser Zeit Redaktionsleiter der Vossischen Zeitung in Breslau, nach seiner Ausbürgerung aus Deutschland 1938 Chefredakteur des Nachrichtenblatts Aufbau des German Jewish Club in New York. Der in Breslau geborene Arzt Dr. Ludwig Eleazar Nelken (1898–1985), der dort zum Ende des Ersten Weltkriegs Medizin studiert hatte und zuletzt als Arzt in Jerusalem arbeitete, erinnerte sich, dass Dora, die aus Polen kam, Jiddisch gesprochen, aber sehr schnell Deutsch gelernt habe. Die strenge Hingabe der hübschen und intelligenten Frau zu allem Jüdischen, so Nelken, habe eine gewisse Anzahl von jüdischen Jugendlichen beeinflusst, welche sich anderenfalls assimiliert hätten oder in das linke Lager abgewandert wären (siehe PDF).[37]
[30] Zur frühen Biografie von Dora Diamant und zu ihrem familiären Umfeld vergleiche Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 41–50.
[31] Vergleiche: Będzin, auf Świętokrzyski Sztetl – Ośrodek Edukacyjno-Muzealny, http://swietokrzyskisztetl.pl/asp/en_start.asp?typ=14&menu=178&sub=173 (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[32] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 45.
[33] Eine Schilderung der Organisation Hebraica in Będzin von Moshe Rozenkar, einem der Gründer, findet sich in dem (hebräisch und jiddisch geschriebenen) über 400 Seiten starken Band von Abraham Samuel Stein (Avraham Shemuʼel Shtain, 1912–1960): Pinkes Bendin. A Memorial to the Jewish Community of Bendin (Poland), Tel-Aviv: Hotsẚat Irgun yotsʾe Bendin be-Yiśrẚel, 1959, Seite 294, https://archive.org/details/nybc313684/page/n6/mode/2up (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Dort findet sich auch die früheste fotografische Aufnahme von Dora Dymant im Kreis der Hebräisch-Schülerinnen und mit ihrem Lehrer David Maletz (Abb. 2) etwa von 1916, Seite 294.
[34] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 27, 46, 48.
[35] Eigener Lebenslauf in der Komintern-Akte in Moskau, zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 49.
[36] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 49.
[37] Eric Gottgetreu: They knew Kafka, in: The Jerusalem Post Magazine, Jerusalem, 14.6.1974, Seite 16 (siehe PDF), https://archive.org/details/TheJerusalemPost1974IsraelEnglish/Jun%2014%201974%2C%20The%20Jerusalem%20Post%20Magazine%2C%20%2314%2C%20Israel%20%28en%29/page/n7/mode/2up (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Die Absätze zu Ludwig Nelken erneut in deutscher Übersetzung als Ludwig Nelken: Ein Arztbesuch bei Kafka, im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 186 f.
Ein neues Leben in Berlin
1920 ging Dora Diamant nach Berlin, wo sie sich der jüdischen Gemeinde anschloss. Sie fühlte sich, wie sie später in ihren „Tagebüchern“ schrieb, „von Deutschland berauscht“.[38] Nelken, der inzwischen als Assistenzarzt am Jüdischen Krankenhaus in Berlin angestellt war, erinnerte sich später, dass Diamant als Kinderfrau im Haushalt des aus Breslau stammenden preußischen Ministerialrats Hermann Badt (1887–1946) gearbeitet habe.[39] Badt war im Ministerium des Innern tätig, saß ab 1922 für die SPD im preußischen Landtag und engagierte sich seit der Vorkriegszeit in der zionistischen Bewegung. Später arbeitete Diamant als Näherin in einem Waisenhaus in Charlottenburg, wo sie auch wohnte.[40] Sie habe, so Nelken weiter, auf einer „linken“ Kundgebung im Gebäude des vormaligen Preußischen Herrenhauses gesprochen, auf der auch die in Italien lebende sozialistische Politikerin Angelica Balabanova (1869–1965) geredet habe. Diamant sei jedoch hauptsächlich an jüdischen Fragestellungen interessiert gewesen und habe eine Aufgabe als Sozialarbeiterin in dem als Zuflucht für Kinder jüdischer Immigranten aus Osteuropa fungierenden Jüdischen Volksheim übernommen. Eines von Diamants Vorbildern in Berlin, so heißt es, sei die kommunistische Reichstagsabgeordnete und Frauenrechtlerin Clara Zetkin (1857–1933) gewesen,[41] mit der Balabanova Frauenkongresse organisierte.
Bereits kurz nach ihrer Ankunft in Berlin hatte Diamant von den Aktivitäten des Volksheims erfahren und bot ihre Mithilfe als Kindergärtnerin oder „Fröblerin“ an. Sie orientierte sich dabei an den erzieherischen Grundsätzen des deutschen Pädagogen Friedrich Fröbel (1782–1852), die sie während ihrer Ausbildung in Krakau erlernt hatte und die in Österreich-Ungarn für den Betrieb von Kindergärten galten.[42] Ihr eigentliches Interesse widmete sie aber dem Vorhaben, die Kinder auf eine Übersiedlung nach Palästina vorzubereiten: „Sie glaubte mit Leidenschaft an die Notwendigkeit einer jüdischen Heimat in Palästina, in Eretz Israel, dem Gelobten Land. In ihren Tagträumen sah sie sich oft, wie sie sagte, ‚in den Feldern Galiäas‘, in einem Kibbutz, Seite an Seite mit anderen freien Juden arbeiten und leben, Männern und Frauen aus allen Ländern, die Moore und Brachland urbar machten, Gärten bepflanzten und für ihre zukünftigen Kinder und Enkelkinder eine sichere und gerechte Welt erschufen.“[43]
Das Jüdische Volksheim (Abb. 3) war 1916 von dem Berliner Arzt und Pädagogen Siegfried Lehmann (1892–1958) in der Dragonerstraße 22 gegründet worden[44] und wurde von Max Brod, dem Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965), dem anarchistischen Schriftsteller Gustav Landauer (1870–1919 ermordet), dem Kaufmann, Fabrikanten und Kunstsammler Siegbert Samuel Stern (1864–1935) und dem Berliner Rabbiner Malwin Warschauer (1871–1955) gefördert. Es sollte Kindern und Jugendlichen aus den mit jüdischen Flüchtlingen aus Galizien und Schlesien überfüllten Elendsquartieren des Berliner Scheunenviertels eine Heimstatt, jüdische Erziehung, Fort- und Allgemeinbildung, Sportveranstaltungen und Musikunterricht bieten, hielt aber auch Mütterabende ab und öffnete für medizinische und rechtliche Beratungen.[45]
Der Tagesablauf im Volksheim gliederte sich in Kinderspielstunden am Vormittag gefolgt von nachmittäglichen Knaben- und Mädchenkameradschaften sowie Klubs junger Mädchen und mit männlichen Jugendlichen besetzten Lehrlingsklubs am Abend. Kinder- und Jungengruppen wurden mit Fröbelarbeiten wie Flecht-, Papp- und Tonbasteleien, aber auch mit hebräischen Kinderliedern und Tanzspielen beschäftigt. Andere Tage waren „dem Lesen und Erzählen von Märchen, Sagen und Erlebnissen gewidmet“. Ältere Jungen erhielten Unterricht im Tischlern, Buchbinden und in Metallarbeiten, die Mädchen in Näh- und Handarbeiten und einmal wöchentlich im Chorsingen.[46] Das Volksheim gab Diamant, so heißt es, „ein Gefühl von Gemeinschaft und Familie“.[47] Mit den „chassidischen Überlieferungen und Erzählungen der ostjüdischen Mystik“ war sie aufgewachsen, „ihre Sprache und Ausdrucksweise war geprägt von den Sprichwörtern und den alten jüdischen Gleichnissen ihrer Großmütter“. Später würde sie Kafka allabendlich mit den „bubbe meises“, den Märchen und Volkssagen der alten jüdischen Frauen, bezaubern.[48]
Als Kafka (Abb. 4) und Diamant sich am 13. Juli 1923, am Vorabend des Schabbats, erstmals im Müritzer Ferienheim trafen, wurde schnell klar, dass die junge Frau für den Prager Schriftsteller zahlreiche Aspekte des jüdischen Lebens verkörperte, für die er sich seit längerem interessierte. Während sie sich das Hebräische schon seit Kindertagen angeeignet hatte, indem sie ihren Bruder beim Cheder-Unterricht belauscht hatte, erlernte Kafka die Sprache mühsam erst seit 1917, dem Jahr, als seine Tuberkulose diagnostiziert wurde. Brod und er lernten im Folgejahr dann auch zusammen mit dem Journalisten Felix Weltsch (1884–1964), dem seit 1904 gemeinsamen Freund im literarischen Prager Kreis,[49] während Diamant schon in der Lage war, Bibelstellen im Urtext zu rezitieren. Sie kam aus der Będziner Theatergruppe, während er 1910 mit Begeisterung im Prager „Café Savoy“ eine ostjüdische Theaterkompanie entdeckt hatte. Durch sie hatten er und Brod sich „in die uns neue Welt ostjüdischer Volkskraft“ gestürzt, was Kafka wiederum veranlasst hatte, sich mit jüdischer Geschichte und jiddischer Literatur zu beschäftigen.[50]
Durch Diamant erhielt Kafka endlich eine persönliche Verbindung zum Jüdischen Volksheim, von dessen Zielen und Aufgaben er durch Brod und den gemeinsamen langjährigen Bekannten Martin Buber erfahren hatte. Seiner vorherigen Verlobten Felice Bauer (1887–1960) hatte er eine Mitarbeit im Volksheim als „Weg zu einer geistigen Befreiung“[51] dringend angeraten, die dort daraufhin die literarische Arbeit mit Mädchen organisierte. Jetzt, aus Müritz, schrieb Kafka an den Prager Schulfreund Hugo Bergmann (1883–1975), inzwischen Bibliothekar an der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem: „Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehen. […] Ostjuden, durch Westjuden vor der Berliner Gefahr gerettet. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang. Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks. […] Heute werde ich mit ihnen Freitag-Abend feiern, ich glaube zum ersten Mal in meinem Leben.“[52] Bergmann, Schüler von Buber und auch mit Weltsch und Brod befreundet, hatte Kafka den Zionismus nahegebracht. Jetzt träumten Kafka und Diamant gemeinsam von einer Ausreise nach Palästina. Von nun an waren sie durch nichts mehr zu trennen: „Franz hilft Kartoffel schälen im Volksheim in Müritz. – Die Nacht auf der Landungsbrücke. – Auf der Bank im Müritzer Wald“, notierte Diamant in ihren letzten Lebenstagen in ihr „Tagebuch“.[53]
Kafka reiste am 6. August 1923 aus Müritz ab, verbrachte zwei Tage in Berlin und bestieg dann, schwer krank, den Zug nach Prag. Diamant widmete sich noch einen knappen Monat ihren Aufgaben im Ferienheim in Müritz. Zunächst setzte Kafka seine Hebräisch-Studien in Prag fort und begann sich für jüdische Gebetsrituale zu interessieren. Währenddessen magerte er auf unter 60 Kilo ab. Seine Schwester Ottla brachte ihn daraufhin zu einem Landaufenthalt in den kleinen Ort Schelesen/Želízy an der Elbe nördlich von Melnik/Mělník, wo Kafka sich seit seiner Erkrankung an der Spanischen Grippe 1918 schon dreimal zur Erholung aufgehalten hatte. Diamant begann in der Zwischenzeit in Berlin, die von ihr und Kafka geplante gemeinsame Unterkunft zu suchen, die sie schließlich als ein großes, helles möbliertes Zimmer mit Küche und eigenem Bad, Erkerfenstern und einer Veranda im dritten Stock des Eckhauses der damaligen Miquelstraße 8 in der Nähe des Steglitzer Rathauses fand (Abb. 5).[54] Während sie Kafka bis zum September „enthusiastische und ermutigende“ Briefe schrieb, kämpfte er in Schelesen um seine Genesung.[55]
[38] Zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 50.
[39] Gottgetreu 1974 (siehe Anmerkung 37).
[40] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 28.
[41] Ebenda, Seite 27.
[42] Ebenda, Seite 26, 49.
[43] Ebenda, Seite 26.
[44] Heute Max-Beer-Straße 5. Mehrere Webseiten berichten über das ehemalige Jüdische Volksheim in Berlin; unter anderem auf: Arbeitskreis Jüdische Wohlfahrt (auch über Dora Diamant), https://akjw.hypotheses.org/946, sowie auf: Jüdisches Museum Berlin, https://www.jmberlin.de/berlin-transit/orte/juedischesvolksheim.php (beide zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[45] Siegfried Lehmann: Nachwort. Über jüdische Erziehung, in: Das Jüdische Volksheim Berlin. Erster Bericht, Mai/Dezember 1916, Eigenverlag Berlin 1916, Seite 17 f., https://archive.org/details/JudischeVolksheimBerlin/page/16/mode/2up (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Die fünf aufgelisteten Förderer werden auf einer eigenen Widmungsseite genannt.
[46] Ebenda, Seite 6–11.
[47] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 25.
[48] Ebenda, Seite 33–35.
[49] Miriam Singer: Hebräischstunden mit Kafka, im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 140–143. – 1922 intensivierte Kafka, körperlich inzwischen geschwächt, noch einmal seinen Hebräischunterricht. Seine in Palästina geborene Hebräischlehrerin Puah Ben-Tovim (1904–1991) erinnerte sich: „Zwischen 1917 und 1923 begann Kafka, sich allmählich seines Judentums bewusst zu werden. […] Ich glaube auch, dass er sich von Dora Diamant zu einem großen Teil deshalb so sehr angezogen fühlte, weil sie aus einer ultrakonservativen chassidischen Familie kam. Er wollte alles über das Leben der Pioniere in Palästina wissen […] Das Hebräischstudium bot ihm die Möglichkeit zu einer zumindest symbolischen Verbindung zu Palästina […] Ich lebte schon in Berlin, als Kafka mich in Eberswalde in einem Sommerferienlager, in dem ich arbeitete, besuchen wollte […] Kafka bat mich, den Hebräischunterricht wiederaufzunehmen, und ich gab ihm fünf oder sechs Stunden. Dann wurde mir klar, dass dies eigentlich auch Dora tun konnte, die die Sprache in Grundzügen gut beherrschte.“ (Pouah Menczel: J’Etais Professeur D’Hebreu de Kafka, in: Libération, Paris, vom 2./3.7.1983, Seite 19 f.; erneut als Puah Menczel-Ben-Tovim: Ich war Kafkas Hebräischlehrerin, im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 165–167.
[50] Brod 1962, Seite 135–137. – Dora Diamant wiederum notierte in ihren Aufzeichnungen um 1950 unter der Überschrift „Aus Franz‘ Quartheften. 3.10.1911. Letzte Zeilen der Eintragung“: „Erstes direktes Zusammentreffen mit der Welt des Ostjüdischen durch Löwy’s Theatergruppe. Unter den Eindrücken der Aufführung ‚Der Meschumed‘ von Lateiner“ und dann ein wörtliches Zitat aus Kafkas Tagebüchern [Quartheften] vom 8.10.1911: „Wunsch ein großes jiddisches Theater zu sehen, da die Aufführung doch vielleicht an dem kleinen Personal und ungenauer Einstudierung leidet. Auch der Wunsch, die jiddische Literatur zu kennen, der offenbar eine ununterbrochene nationale Kampfstellung zugewiesen ist …“; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 394.
[51] Franz Kafka an Felice Bauer, 12.9.1916, in: Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Frankfurt am Main 1976, Seite 696 f.
[52] Franz Kafka an Hugo und Else Bergmann, Müritz, 13.7.1923, in: Franz Kafka: Briefe 1902–1924, Frankfurt am Main 1975, Seite 436 f.
[53] Dora Diamant: Chronologische Initialien, in: Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 405.
[54] Heute Muthesiusstraße 20–22; vergleiche Sarah Mondegrin: Kafka in Berlin. Das vergessene Haus, in: Tagesspiegel vom 2.12.2012, https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-vergessene-haus-2246500.html (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Die Vermieterin Clara Hermann wurde 1942 ins Getto Theresienstadt deportiert und starb dort am 19. März 1943. Vor dem Haus Muthesiusstraße 20 wurde 2015 zur Erinnerung an sie ein „Stolperstein“ verlegt. https://www.stolpersteine-berlin.de/de/muthesiusstrasse/20/clara-hermann (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[55] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 50–56.
Franz Kafka und Dora Diamant ziehen zusammen
Endlich, am 21. September, schien er soweit wiederhergestellt, dass er drei Tage später die Reise nach Berlin wagen konnte. Noch auf dem Weg zum Bahnhof versuchte der Vater ihn umzustimmen und Kafka seinerseits verschwieg Doras Existenz, da die Eltern schon bei seiner vorangegangenen Verlobung mit Julie Wohryzek (1891–1944 KZ Auschwitz), der Tochter eines Lebensmittelhändlers und Synagogendieners, außer sich geraten waren. An den beiden Tagen zuvor war er vor seiner eigenen „Tollkühnheit“, den Umzug nach Berlin und den Schritt in eine neue Beziehung zu wagen, fast zurückgeschreckt. In der Nacht wurde er von unbeschreiblichen „Ängsten“ um den Schlaf gebracht. In Berlin angekommen, zerstreute die gemeinsame kleine Wohnung zwar seine Befürchtungen. Die Inflation machte ein geregeltes Leben jedoch nahezu unmöglich. Im September 1923 kostete ein Brot 4 Millionen Mark. An Ottla schrieb er am 2. Oktober: „… die Preise klettern wie die Eichhörnchen bei Euch, gestern wurde mir fast ein wenig schwindelig davon und die innere Stadt ist davon und auch sonst für mich schrecklich. Aber sonst, hier draußen, vorläufig, hier ist es friedlich und schön. Trete ich abends an diesen lauen Abenden aus dem Haus, kommt mir aus den alten üppigen Gärten ein Duft entgegen, wie ich ihn in dieser Zartheit und Stärke nirgends gefühlt zu haben glaube …“.[56] Zwei Wochen nach seiner Ankunft teilte er Ottla, Brod und Klopstock mit, dass er in Berlin zu bleiben und sogar den Winter dort zu verbringen gedenke.[57] Über „D.“ schwieg er sich jedoch lange aus und schrieb Brod erst am 25. Oktober: „Diamant ist der Name“.[58]
Kafkas Prager Ruhegehalt wurde zwar in tschechischer Währung ausgezahlt, die nicht von der Inflation betroffen war, jedoch leiteten seine Eltern das Geld nur unregelmäßig weiter. Immerhin konnte er auf eine Zukunft als freier Schriftsteller hoffen. Diamant musste sich an seine schreibende Tätigkeit, sein damit verbundenes Schweigen und seine einsamen Spaziergänge erst gewöhnen. Sie schrieb sich für Kurse an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (Abb. 6) in der Artilleriestraße in Berlin-Mitte[59] ein und musste dafür lernen. Außerdem half sie im Waisenhaus und arbeitete weiterhin ehrenamtlich im Jüdischen Volksheim, wo sie auch an einem Kurs für rhythmischen Tanz teilnahm. In ihrer gemeinsamen Freizeit berichtete sie Kafka über das Leben ihrer Familie in der chassidischen Gemeinde in Polen und zusammen machten sie Pläne für eine Zukunft in Palästina, die jedoch aufgrund seines gesundheitlichen Zustands wenig wahrscheinlich schien. Nachdem die Miete bereits nach zwei Monaten umgerechnet in tschechische Kronen auf mehr als das Zehnfache erhöht worden war, zog das Paar Mitte November in zwei „schön eingerichtete Zimmer“ mit Zentralheizung und elektrischem Licht[60] im ersten Stock der zwei Straßen weiter gelegenen Villa einer Frau Dr. Rethberg in der Grunewaldstraße 13 (Abb. 7).[61] Im selben Monat brachte Brod aus Prag einen schweren Koffer mit Kafkas Wintersachen nach Berlin.[62]
Inzwischen hatten Diamant und Kafka an der jüdischen Hochschule mehrere Kurse belegt und fuhren in der Woche bis zu dreimal mit der Straßenbahn ins Scheunenviertel. Diamant studierte die jüdischen Gesetze, die Halacha, Kafka bei dem in Lemberg geborenen Bibelexegeten und Semitisten Harry Torczyner (Naftali Herz Tur-Sinai, 1886–1973) die jüdischen Erzählungen und Sagen, also die Aggada. Ottla brachte aus Prag Kafkas Pensionsbezüge, die nach Einführung der Rentenmark endlich wieder zum Vorkriegskurs gewechselt werden konnten. Kafkas Schwester wurde für Diamant eine „Vertraute und Verbündete“.[63]
Vor oder nach der Erzählung „Eine kleine Frau“, die nicht nur die vorherige Vermieterin, sondern allgemeiner menschliche Verhaltensweisen beschreibt und analysiert, schrieb Kafka im Winter 1923 die nur als Fragment überlieferte Erzählung „Der Bau“. Darin gerät der Protagonist, ein Dachs oder ein Mischwesen aus Tier und Mensch, das seine unterirdische, labyrinthähnliche Wohnstätte gerade fertiggestellt hat, durch immer lauter werdende Geräusche in einen paranoiden Zustand. Die näherkommende Bedrohung, möglicherweise ein anderes grabendes Tier, veranlasst ihn zu Reflexionen über das eigene Leben, an deren Ende er jedoch vor der nicht aufzulösenden Gefahr und der eigenen Existenz resigniert und schließlich „alles … unverändert“ bleibt, wie es war.[64] Bezogen auf die Entstehungszeit ist die Erzählung mit der „Enge und Schwere des Lebens in der eigenen, viel zu teuren Wohnung“, sind das Labyrinth mit der sich verschlimmernden Krankheit und die Ausweglosigkeit mit der drohenden Rückkehr in das alte Leben in Prag gedeutet worden.[65]
Diamant berichtete J. P. Hodin später, „Der Bau“ sei „in einer einzigen Nacht geschrieben worden. Es war Winter; er begann früh am Abend und war gegen Morgen fertig, dann arbeitete er wieder daran. Er erzählte mir davon, scherzhaft und im Ernst. Es war eine autobiographische Geschichte, und vielleicht war es eine Vorahnung der Rückkehr ins Elternhaus und des Endes der Freiheit, die in ihm dies panische Angstgefühl erregte. Er erklärte mir, dass ich der ‚Burgplatz‘ in diesem Bau sei.“[66] Diesen „Hauptplatz“, also vielleicht Dora, hatte der Protagonist, so Kafka in seiner Erzählung, „wohlerwogen für den Fall der äußersten Gefahr, nicht geradezu einer Verfolgung, aber einer Belagerung … Während alles andere vielleicht mehr eine Arbeit angestrengtesten Verstandes als des Körpers ist, ist dieser Burgplatz das Ergebnis allerschwerster Arbeit meines Körpers in allen seinen Teilen.“[67] „Er hatte das Leben als ein Labyrinth erfahren, aus dem er keinen Ausweg erblicken konnte“, schloss Diamant ihre Betrachtung.
Vermutlich um Weihnachten herum berichtete Ottla den Eltern erstmals von Dora. Diese unterstützten das Paar mit Lebensmittelsendungen. Von den Schwestern traf ein schweres Paket mit Haushaltsgegenständen ein. Vor Weihnachten wurde Kafka krank. In den ersten beiden Januarwochen kehrten allabendliches Fieber, Schüttelfrost, Darmleiden und ein bis zum Morgen anhaltender Husten zurück. Diamant rief einen Arzt vom Jüdischen Krankenhaus, dessen Rechnung, die sie um die Hälfte herunterhandelte, Kafka deutlich machte, dass eine stationäre Einweisung für ihn unbezahlbar werden würde. Laufende Preissteigerungen der Rentenmark veranlassten das Paar zur Kündigung der Wohnung zum 1. Februar 1924 und nährten Befürchtungen, Berlin ganz verlassen zu müssen. Zum besagten Termin zogen sie in eine Einzimmerwohnung in der Villa der Witwe des verstorbenen Lyrikers und Literaturkritikers Carl Hermann Busse (1872–1918) in der Heidestraße 25-26 in Zehlendorf.[68] Inzwischen nahm Diamant die Abendtermine von Kafka, der das Haus seit Monaten zur Nachtzeit nicht mehr verlassen hatte, wahr. Dazu gehörte auch ein Vortragsabend des mit Kafka bekannten Rezitators und Schauspielers Ludwig Hardt im Meistersaal am Potsdamer Platz. Erneut entdeckte auch Diamant ihre eigene Begabung für das Theater, worin Kafka und die Prager Schauspielerin Midia Pines (Midia Kraus, 1893–1965), eine Freundin Kafkas, sie bestärkten.
Es geschah offenbar in der Zehlendorfer Wohnung, dass Diamant einige von Kafkas Arbeiten verbrannte. Von dieser Vorstellung sei er wie besessen gewesen, berichtete sie Hodin, es habe darin gewissermaßen ein trotziges Aufbegehren gelegen: „He wanted to burn everything that he had written in order to free his soul from these ‚ghosts‘. I respected his wish, and when he lay ill, I burnt things of his before his eyes. What he really wanted to write was to come afterwards, only after he had gained his ‚liberty‘.“[69]
[56] Franz Kafka an Ottla Kafka, Berlin-Steglitz 2.10.1923, in: Franz Kafka: Briefe an Ottla und die Familie, Frankfurt am Main 2011, Seite 134 f., https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/ok23-106.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[57] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 59–74.
[58] Franz Kafka an Max Brod, Ankunftsstempel Praha-Hrad 25.10.1923, in: Max Brod, Franz Kafka – eine Freundschaft 1989 (siehe Anmerkung 1), Seite 434 f., https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/bk23-012.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[59] Heute Tucholskystraße 9, als Leo-Baeck-Haus Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland.
[60] Franz Kafka an die Eltern, Berlin-Steglitz, Anfang November 1923, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/el23-003.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[61] Vergleiche Karen Noetzel: Vor 90 Jahren genoss Franz Kafka das Vorstadtidyll, in: Berliner Woche vom 6.1.2014, https://www.berliner-woche.de/steglitz/c-sonstiges/vor-90-jahren-genoss-franz-kafka-das-vorstadtidyll_a43304 (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[62] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 75–92.
[63] Ebenda, Seite 93–105.
[64] Franz Kafka: Der Bau, in: Franz Kafka. Romane und Erzählungen, Frankfurt am Main 2010, Seite 940–968.
[65] Florian Kraiczi: Der Einfluss der Frauen auf Kafkas Werk. Eine Einführung (Schriften aus der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften, 1), Bamberg: University of Bamberg Press 2008, Seite 119–124, https://fis.uni-bamberg.de/bitstream/uniba/118/1/Dokument_1.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[66] Hodin 1948 (siehe Literatur), Seite 38; zitiert nach Dora Diamant: Mein Leben 1995 (siehe Literatur), Seite 179.
[67] Kafka: Der Bau (siehe Anmerkung 64), Seite 942.
[68] Heute Busseallee 9, neu bebaut; dort Gedenktafel für Franz Kafka. Die Witwe Paula Busse (*1876) wurde 1945 im Getto Theresienstadt befreit.
[69] Hodin 1948 (siehe Literatur), Seite 39.
„Wenn nur ein Medikament verfügbar gewesen wäre“ – Kafkas Krankheit und Tod
Kafkas gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich weiter, wovon sich auch dessen Onkel, der in Mähren tätige Landarzt Dr. Siegfried Löwy (1867–1942 Suizid vor der Deportation), überzeugte, der für einige Tage nach Berlin kam und zu einer Einweisung in ein Sanatorium riet. Anfang März alarmierte Diamant Dr. Nelken vom Jüdischen Krankenhaus, der den Patienten nicht im Bett, aber in einem elenden Zustand vorfand. „Wenn nur Streptomycin oder ein anderes Medikament gegen Tuberkulose verfügbar gewesen wäre“, so erinnerte sich Nelken später: „Alles was ich tun konnte, war, etwas zur Linderung des Hustens und anderer Symptome zu verschreiben“.[70] Diamant hatte ihr Studium an der jüdischen Hochschule abgebrochen und widmete sich ganz der Pflege ihres Lebensgefährten. Mit Näharbeiten verdiente sie etwas Geld. Löwy erreichte durch Beziehungen, dass ein Sanatorium in Österreich Kafka ohne Wartezeit aufnehmen würde. Klopstock reiste zur Unterstützung nach Berlin. Am 17. März fuhr Kafka in Begleitung von Brod nach Prag. Diamant blieb in Berlin zurück.[71]
Kafka verbrachte drei Wochen, bettlägerig und abgemagert auf 49 Kilogramm, in der elterlichen Wohnung, wo Klopstock ihn besuchte. Ein Übergreifen der Tuberkulose auf den Kehlkopf zeichnete sich bereits ab. Nachdem Löwy Anfang April die Einweisung ins Sanatorium Wienerwald veranlasst hatte, reiste Diamant nach Wien und besuchte Kafka am 8. April. „D. ist bei mir, das ist sehr gut, sie wohnt in einem Bauernhaus neben dem Sanatorium“, schrieb Kafka an die Eltern.[72] Bereits drei Tage später wurde er mit der Diagnose einer Kehlkopftuberkulose zu Professor Markus Hajek (1861–1941) an die Laryngologische Universitätsklinik im Allgemeinen Krankenhaus in Wien verlegt, wo der Patient in einem mit Sterbenden belegten Krankensaal untergebracht wurde. Als Felix Weltsch jedoch die private Lungenklinik von Dr. Hugo Hoffmann in Kierling (Abb. 8) 15 Kilometer nordwestlich von Wien ausfindig machte, die mit Einzelzimmern, privaten Balkonen und geringeren Kosten aufwarten konnte, bestanden Kafka und Diamant schon acht Tage später auf eine erneute Verlegung.[73]
Auch Diamant konnte dort wohnen. Sie übernahm die Korrespondenz an die Eltern und die Schwestern, die ihrerseits täglich im Sanatorium anriefen. Anfang Mai diagnostizierte der von Diamant zurate gezogene Wiener Lungenspezialist Dr. Oskar Beck einen nicht mehr therapierbaren Zustand von Lunge und Kehlkopf und riet, den Patienten zu seiner Familie nach Prag zu transportieren. Unterdessen zog Klopstock im Sanatorium ein um bei der Versorgung des Kranken zu helfen. Der Brief aus Polen von Doras Vater, den sie seit vier Jahren nicht gesehen hatte und in welchem sich dieser gegen eine Heirat von ihr und Kafka aussprach, traf am 12. Mai ein. Am selben Tag reiste Brod von Prag nach Wien um den kranken Freund für einen Tag zu besuchen. Brod, Diamant und Klopstock verständigten sich darauf, dass Kafka in Kierling bleiben sollte, weil er bei einer Rückkehr nach Prag alle Hoffnung verlieren würde.[74]
Über „Franz Kafkas Tod“ am 3. Juni 1924 berichtete der aus Prag stammende Publizist Willy Haas in der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel vom 25. November 1953, nachdem ihm eine Schwester Anna, die Kafka im Kierlinger Sanatorium bis zuletzt gepflegt hatte, einen Brief geschrieben hatte: „Für den Todesfall hatte Kafka verschiedene Vorkehrungen getroffen. Bekannt ist die mit Dr. Klopstock, dass jener, wenn nichts mehr zu hoffen sei, das rasche Ende mit einer Spritze beschleunigen werde. Es scheint, dass Kafka auch seiner Lebensgefährtin Dora in einer schwachen Stunde die Einwilligung gegeben hatte, mit ihm zu sterben. Nichts davon wurde eingehalten; wohl aber erfüllte der treue Klopstock eine dritte, geheime Abmachung, dass er Dora unter einem Vorwand in der letzten Stunde fortschicken werde, damit sie den Todeskampf nicht sehe. Das tat Klopstock auch und sandte Dora mit einem Brief zur Post. – Aber in den letzten Minuten vermisste Kafka Dora. ‚Ich schickte das Stubenmädchen hinterher‘, schreibt die Pflegerin, ‚denn die Post war in der Nähe.‘ Dora kam atemlos zurück, Blumen in der Hand, die sie wohl eben gekauft hatte. Kafka schien völlig bewusstlos. Dora hielt ihm die Blumen vor das Gesicht. ‚Franz, sieh mal die schönen Blumen, rieche mal!‘ flüsterte Dora. ‚Da richtete sich der Sterbende auf, und er roch an den Blumen. […] Er hatte so wunderbar strahlende Augen, und sein Lächeln war so vielsagend, und Hände und Augen waren beredt, als er nicht mehr sprechen konnte.‘“[75]
Auf Anweisung von Kafkas Vater kam Löwy nach Kierling, um sich um den Leichnam zu kümmern. Mit einiger „Schroffheit“, so wird berichtet, schob er Diamant und Klopstock beiseite und regelte mit „kühler, gleichgültiger Professionalität“ die Formalien. Ein Telegramm des Vaters verfügte jedoch am 4. Juni: „Dora entscheidet“ und zwar, was mit Kafkas Leichnam zu geschehen habe.[76] Dieser wurde mit der Eisenbahn nach Prag gebracht. Nachrufe erschienen in den deutschsprachigen Prager Zeitungen von Brod, Weltsch und dem Schriftsteller Oskar Baum (1883–1941) sowie von Milena Jesenská am 6. Juni in der tschechischen Tageszeitung Národní Listy. Am 11. Juni fand im Kreis der Familie und der engsten Freunde auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag-Žižkov die Beerdigung statt. Der Dichter und Essayist Johannes Urzidil (1896–1970), als Presseattaché an der deutschen Botschaft in Prag tätig, erinnerte sich in einem Essay an diesen Tag: „Ich ging in dem Trauerzug, der Kafkas Sarg von der Zeremonienhalle zum offenen Grab geleitete; hinter der Familie und der bleichen Gefährtin, die von Max Brod gestützt wurde.“[77] Mit qualvollem und durchdringendem Aufschrei sei sie am offenen Grab zusammengebrochen.[78]
Am folgenden Tag fand in Diamants Beisein eine Trauerfeier mit Reden und Lesungen aus Kafkas Werk und 500 Gästen in der deutschsprachigen Kleinen Bühne in Prag statt. Während der folgenden Tage und Wochen blieb Diamant in der Wohnung von Kafkas Eltern, während Brod begann, den schriftlichen Nachlass durchzusehen. Eine dabei gefundene und von Kafka an Brod gerichtete Anweisung, „alles Geschriebene und Gezeichnete“, was sich in seinem Nachlass finde, „restlos und ungelesen zu verbrennen“,[79] brachte Brod künftig nicht nur in Konflikt mit dem eigenen Gewissen, sondern auch mit Diamant, die ihm später schrieb: „Die ganze Welt hat nichts von Franz zu wissen. Er geht sie ja nichts an, weil – ja, weil sie ihn ja doch nicht versteht.“[80]
[70] Gottgetreu 1974 (siehe Anmerkung 37).
[71] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 107–122.
[72] Postkarte Franz Kafka an Hermann Kafka, Ortmann 9.4.1924, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1924/el24-021.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[73] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 123–135.
[74] Ebenda, Seite 137–157.
[75] Willy Haas: Franz Kafkas Tod, in: Der Tagesspiegel, Band 9, Nr. 2497 vom 15.11.1953, Beiblatt, Seite 1; erneut abgedruckt als Willy Haas: Die letzten Tage, in dem Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 193–195.
[76] Telegramm von Hermann Kafka, Archiv der Kafka-Forschungsstelle der Bergischen Universität/Gesamthochschule Wuppertal; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 161.
[77] Johannes Urzidil: 11. Juni 1924, in: derselbe, Da geht Kafka. Essays, Zürich/Stuttgart: Artemis 1965, Seite 78.
[78] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 159–166.
[79] Max Brod: Nachwort zur ersten Ausgabe, in: Franz Kafka. Die Romane. Amerika. Der Prozeß. Das Schloß, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1965, Seite 472.
[80] Dora Diamant an Max Brod, Berlin, 2.5.1930, in Max Brod: Der Prager Kreis, Stuttgart und andere: Kohlhammer 1966, Seite 113.
Die Bretter, die die Welt bedeuten
Zwei Monate später, im August 1924, packte Diamant (Abb. 9) plötzlich ihre Koffer und reiste ab. Urzidil hatte ihr eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland besorgt, mit der sie nach Berlin reisen konnte. Ein wenig Geld hatte Kafkas Familie ihr mitgegeben. Die deutsche Hauptstadt erschien ihr in den ersten Tagen, wie sie an Elli schrieb, „als Friedhof meines Lebens, auf dem ich die Gräber besuchen kam“. Wenige Tage später hatten Freunde ihr ein Zimmer im Studentenwohnheim besorgt. Hoffnung machte sie sich auf eine Schauspielausbildung.[81] Im Oktober berichtete sie Ottla in einem Brief, sie stehe kurz vor der Aufnahmeprüfung an der staatlichen Schauspielschule. Bei der Vorbereitung habe ihr eine mit dem Theaterregisseur und Intendanten Max Reinhardt (1873–1943) bekannte Schauspielerin geholfen. Im Januar 1925 hatte sich ihr Leben stabilisiert. Mit der Ausbildung hatte es zwar nicht geklappt, aber sie war in eine neue Wohnung gezogen, hatte eine Arbeit gefunden, nahm an Kursen teil und betrieb Gymnastik. Außerdem schloss sie Freundschaft mit dem polnisch-jiddischen Dichter Avrom Nokhem Stencl (Sztencl, Stenzel, Abraham Nahum Stencl, Avrom-Nokhem Shtentsl, 1897–1983), der aus Czeladź, der westlichen Nachbarstadt von Będzin, stammte.[82]
Stencl, der 1918 vor der Einberufung zur polnischen Armee geflohen war, war 1921 über die Niederlande nach Berlin gekommen, also im selben Jahr wie Diamant. Er blieb bis zu seiner Emigration nach Großbritannien im Jahre 1936 und publizierte während dieser Zeit zehn Bände mit jiddischer Poesie. Häufig obdachlos und die Taschen voller Gedichte, scharte er andere polnische Literaten aus seiner engeren Heimat um sich, suchte die Nähe zum nichtjüdischen literarischen Expressionismus, arbeitete seit 1922 mit der Dichterin Else Lasker-Schüler (1869–1945) zusammen und verkehrte im Romanischen Café am Kurfürstendamm, wo sich unter Kunstschaffenden, Schauspielenden, journalistisch Tätigen und Schach Spielenden auch die jüdischen Exilierten, Intellektuellen und aktivistisch Tätigen aus Polen, der Ukraine und Russland trafen. Er verliebte sich wohl in Diamant,[83] hatte aber eine feste Beziehung mit der Kunstlehrerin Elisabeth Wöhler, die an der Freien Weltlichen Schule in Reinickendorf arbeitete, an der er selbst auch unterrichtete. Diamant traf ihn 1942 in London-Whitechapel wieder, wo er sich als „Poet of Whitechapel“[84] etablierte und das er zu seinem britischen Shtetl erklärte.[85] (Abb. 10) Wie Diamant engagierte er sich für die Verbreitung des Jiddischen und gab die jiddische Zeitschrift Loshn un lebn [Sprache und Leben] heraus, für die Diamant von 1945 bis 1949 Artikel schrieb.
Im Frühjahr 1925 wurde Diamant (Abb. 11) ernsthaft krank. Als ihr das Geld ausging, reiste sie zu Verwandten nach Brzeziny, woher ihre Mutter stammte. Anfang 1926 kehrte sie nach Berlin zurück und bezog ein Zimmer im Waisenhaus in Charlottenburg. Im selben Jahr veröffentlichte Brod Kafkas Roman „Das Schloss“ im Kurt Wolff Verlag in München. Diamant, der er ein Freiexemplar schickte, sammelte seitdem alle erscheinenden Texte und Romane und was immer über Kafka geschrieben wurde. Sie fand eine neue Unterkunft in einem Künstleratelier im Hansaviertel unweit des Tiergartens, verdiente Geld mit Näharbeiten und nahm wieder Schauspielunterricht. Klopstock, der inzwischen in Kiel lebte, besuchte sie während der Pfingstferien in Berlin. Brod und Haas, der seit 1925 in Berlin die Zeitschrift Die literarische Welt herausgab, ließen ihr Tantiemen zukommen, die für Romane und Erzählungen von Kafka fällig geworden waren und von denen sie sich, immer noch nicht ganz gesund, einen zweimonatigen Aufenthalt an der Ostsee leisten konnte.[86]
Im November 1926 wurde sie, nachdem sie sich deutschlandweit auf Schauspielausbildungen und Theaterengagements beworben hatte, an der dem Schauspielhaus Düsseldorf (Abb. 12) angeschlossenen Hochschule für Bühnenkunst angenommen. Das Kursprogramm umfasste das Lesen von Theaterstücken, Sprechtechnik, Rollenstudium, Theatergeschichte, Fechten und Gymnastik. In den Abendstunden nahmen die Studierenden an Proben im Schauspielhaus teil und übernahmen kleinere Rollen bei Aufführungen. Bekanntester Schüler der Hochschule war der Schauspieler Gustav Gründgens (1899–1963), der dort 1919/20 studiert hatte. Die Leitung des Schauspielhauses hatten die Schauspielerin Louise Dumont (1862–1932) und ihr Ehemann Gustav Lindemann (1872–1960), die das Haus 1904 als Privattheater gegründet hatten. Sie legten ihren Schwerpunkt auf Ensemblekunst und machten das Theater als „Reformbühne“ bekannt. Eine Ausbildung an der ebenfalls von ihnen gegründeten Hochschule galt als Garantie für eine künftige Karriere. Von November 1926 bis Mai 1928 besuchte Diamant (Abb. 13) Kurse bei Dumont, die europaweit für ihre Darstellung der Hedda Gabler und anderer Charaktere von Henrik Ibsen bekannt war, sowie bei dem Schauspieler und Regisseur Hermann Greid (1893–1975) und dem Schauspieler und späteren Intendanten Franz Everth (1880–1965).[87]
Als Brod Anfang 1927 zur Premiere seines Theaterstücks „Die Opuntie – Komödie eines Prominenten“ (1926) am Kleinen Haus des konkurrierenden Düsseldorfer Stadttheaters kam und von Februar bis März im Theater eine Reihe von Vorträgen hielt, dürfte er Diamant getroffen haben. Im selben Jahr gab er Kafkas dritten Roman, „Amerika“, heraus und konnte wieder Tantiemen für Diamant aushandeln.
Es ist anzunehmen, dass Diamant 1927 in Düsseldorf auch erstmals die Dichterin, Theaterautorin und Journalistin Berta Lask (1878–1976), ihre künftige Schwiegermutter, traf. Lask, aus dem galizischen Wadowitz/Wadowice gebürtig, hatte sich unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, in dem sie beide Brüder verloren hatte, der russischen Oktoberrevolution, der Novemberrevolution 1918 in Deutschland und nicht zuletzt durch das Elend im Berlin der Nachkriegszeit radikalisiert. Nach frühen literarischen Versuchen veröffentlichte sie Gedichte, Erzählungen und Dramen, die dem Expressionismus und dem literarischen Aktivismus um Kurt Hiller (1885–1972) nahestanden. 1923 trat sie in die KPD ein. 1927 sollte sie am Düsseldorfer Schauspielhaus ihr Drama „Leuna 21“ über die Arbeiterrevolte während des Mitteldeutschen Aufstands im März 1921 inszenieren, dessen Uraufführung kurz zuvor in Berlin verboten worden war und dessen Erstaufführung in Düsseldorf ebenfalls von den Behörden unterbunden wurde. Lask beschuldigte man des Hochverrats, ihre Werke wurden aus den Buchhandlungen entfernt.
Außerdem hatte Diamant, wie sie später in Moskau zu Protokoll gab, mit einer „Sternberg-Gruppe“ Kontakt, also offenbar einer politischen Gruppierung, die sich an den Theorien des aus Breslau stammenden, jüdischen und von Martin Buber beeinflussten Ökonomen, Soziologen und marxistischen Theoretikers Fritz Sternberg (1895–1963) orientierte und die Diamant mit den „ersten Anfängen des Marxismus bekannt“ machte. Von dem ebenfalls am Schauspielhaus engagierten Schauspieler Wolfgang Langhoff (1901–1966), einem Kommunisten, KPD-Mitglied und später Mitglied der Assoziation revolutionärer bildender Künstler (ASSO), wurde sie über den Kommunismus „aufgeklärt“.[88]
Vom Oktober 1927 an spielte Diamant am Schauspielhaus in den Stücken „Der Prinz von Homburg“ und „Der zerbrochene Krug“ von Heinrich von Kleist, ab Januar 1928 in Henrik Ibsens Drama „Peer Gynt“ ein „maurisches Mädchen“. Diamants Lehrer, Greid und Everth, bescheinigten ihr eine „starke, eigenartige Begabung“.[89] Hatte sie sich bei ihrer Ankunft in Düsseldorf als „Dwora Dimant“ registrieren lassen, so änderte sie die Schreibweise im Januar 1928 in „Dymant“. Eine Kommilitonin, die schnell berühmt gewordene Schauspielerin Luise Rainer (1910-2014), kannte sie jedoch als „Doris“: „Sie war eine dunkle Person, immer in Schwarz gekleidet, als ob sie trauere. Ich hatte Kafka nie gelesen, aber sie unterhielt sich ständig mit mir über ihn. […] Es kam mir vor, als sei sie vollkommen von ihm erfüllt. […] Doris war eine Persönlichkeit. Sie war jemand.“[90] Ihre Ausbildung schloss Diamant im Mai 1928, wie sie Brod berichtete, mit einem Vortragsabend ab, an dem sie aus Kafkas Roman „Amerika“ las. Wieder bewarb sie sich an zahlreichen deutschen Bühnen, diesmal mit Empfehlungsschreiben der Hochschule, unter anderem in Berlin und bei der von Madeleine Lüders (1892–1966) geleiteten Hamburgischen Schauspielbühne.[91]
Ein Engagement für die kommende Herbstsaison erhielt sie dann in der Nachbarstadt Neuss an dem 1925 gegründeten Rheinischen Städtebundtheater, dem späteren Rheinischen Landestheater, das sich der Volksbildung verpflichtet fühlte und dem Bühnenvolksbund und den Volksbühnenvereinen nahestand. Als reisendes Schauspieltheater spielte es nicht nur im Stammhaus, sondern in der Saison 1928/29 in 42 angeschlossenen Städten und Gemeinden der Region, woran auch Diamant teilnahm. Sie übernahm gemeinsam mit einer Kollegin als Doppelbesetzung die Hauptrolle der Prinzessin Alma in Frank Wedekinds allegorischem Drama „König Nicolo oder So ist das Leben“, womit sie unter anderem auch im Stadttheater in Gladbeck auftrat. Ende Oktober stand sie als Kammerjungfer Sophie in Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“ in Neuss vor vollem Haus auf der Bühne. Im November wurde sie in zwei Einaktern am selben Abend besetzt: In Hugo von Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“ spielte sie eine tote Geliebte des Edelmanns Claudio, in dem aktuellen Drama „Ein Spiel von Tod und Liebe“ (1925) des Literaturnobelpreisträgers Romain Rolland die Rolle der Chloris Soucy. Die Düsseldorfer Nachrichten berichteten von „ergreifendem Spiel“, in das sich auch Dora Dymant „trefflich anfügte“.[92] In dem Lustspiel „Der Glückskandidat“ des Düsseldorfer Dramatikers Hans Müller-Schlösser übernahm sie vermutlich eine Nebenrolle, ebenso wie in anderen Inszenierungen der Spielzeit.[93]
[81] Dora Diamant an Elli Hermann (geb. Kafka) vom August/September 1924, Bodleian Libraries; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 175. – Das Archive of Franz Kafka der Bodleian Libraries der University of Oxford verwahrt die größte Sammlung von Notizbüchern und Briefen Franz Kafkas sowie Korrespondenz der Familie Kafka, digitales Findbuch auf https://archives.bodleian.ox.ac.uk/repositories/2/resources/12214 (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023), darunter auch Briefe von Dora Diamant.
[82] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 167–184.
[83] Ebenda, Seite 183, 233.
[84] Gennady Estraikh: Introduction. Yiddish on the Spree, in: Yiddish in Weimar Berlin. At the Crossroads of Diaspora Politics and Culture, herausgegeben von Gennady Estraikh und Mikhail Krutikov (Studies in Yiddish, 8), London/New York 2010, Seite 22.
[85] Heather Valencia: Czeladz, Berlin and Whitechapel. The World of Avrom Nokhem Stencl, in: European Judaism. A Journal for the New Europe, Band 30, Nr. 1, Frühjahr 1997, Seite 4–13; vergleiche auch Heather Valencia: A Yiddish Poet Engages with German Society. A. N. Stencl’s Weimar Period, in: Yiddish in Weimar Berlin 2010 (siehe Anmerkung 84), Seite 54–72.
[86] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 185–196.
[87] Schaller 2017 (siehe Literatur), Seite 269.
[88] Lebenslauf von Dora Diamant in der Komintern-Akte in den russischen Archiven; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 241.
[89] Briefe im Dumont-Lindemann-Archiv des Theatermuseums Düsseldorf.
[90] Interview Kathi Diamant mit Luise Rainer-Knittel, 2002; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 203.
[91] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 197–206.
[92] Düsseldorfer Nachrichten vom 4.11.1928; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 206.
[93] Schaller 2017 (siehe Literatur), Seite 270–279.
Zurück in Berlin – Mitglied in der KPD
Nach dem Ende ihres Engagements im April 1929 kehrte Diamant nach Berlin zurück, wo sie eine Unterkunft in der Lohmeyerstraße östlich vom Schloss Charlottenburg fand, gelegen im Dreieck zwischen den von der KPD dominierten Arbeitervierteln am Klausenerplatz und dem Kleinen Wedding hinter der Deutschen Oper sowie dem „Roten Wedding“, der traditionellen Wählerhochburg der Sozialdemokraten und der Kommunisten. Ihre Mitbewohnerin, „Eva Frietsche […] eine sehr aktive Kommunistin“, vermutlich Eva Fritzsche (1908–1986), Assistentin des Theaterintendanten Erwin Piscator (1893–1966) und ab 1930 Mitglied der KPD, nahm sie mit zu „Zellenabenden“ in einer kommunistischen „Zelle 218“,[94] also einer der KPD nahestehenden Gruppierung, die sich für die Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 218 engagierte. Aktuellen Zulauf hatte die KPD nicht zuletzt nach den Mai-Unruhen vom 1. bis 3. Mai 1929, dem sogenannten „Blutmai“, an dem der sozialdemokratische Berliner Polizeipräsident Karl Zörgiebel auf demonstrierende Arbeiter hatte schießen lassen.
Diamant bewarb sich weiter auf Engagements an Theatern und wurde in der KPD politisch aktiv, indem sie Flugblätter herstellte und verteilte und sich an der Organisation von Demonstrationen und Kundgebungen beteiligte. Im Januar 1930 wurde sie offiziell in der für sie zuständigen „Straßenzelle“ der KPD unter dem Decknamen „Maria Jelen“ aufgenommen, jedoch war man mit ihren geringen Aktivitäten nicht zufrieden. Später berichtete ein Sektionsleiter der Partei nach Moskau, „dass sie finanzielle Unterstützung aus dem Nachlass ihres ersten Mannes (Franz Kafka) durch den linksbürgerlichen zionistischen Schriftsteller Max Brod“ erhielt.[95] Brod, der in dieser Zeit in der Vossischen Zeitung dafür angegriffen wurde, Kafkas Nachlass ohne dessen Genehmigung veröffentlicht zu haben, erhielt von ihr Unterstützung durch Leserbriefe und persönliche Vorsprache bei der Zeitung. In der Folge wurde ihr Verhältnis zu Brod zwar schlechter; dennoch erhielt sie im Mai 1930 von ihm erneut Tantiemen aus Kafkas Werken.
Im Sommer 1930 wurde sie von der KPD in die Abteilung für Agitprop-Theatergruppen aufgenommen, welche sich seit 1925 nach sowjetischem Vorbild unter der Führung von Piscator gebildet hatten und die die Partei im Wahlkampf und bei Streikveranstaltungen mit Straßentheatern unterstützten. Diamant leitete die Ausbildung der Laiendarsteller und trat schließlich im Rahmen der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition in die RGO-Gruppe Film-Bühne-Musik ein. Die Aktivitäten der Agitprop-Gruppen, ohne die keine Veranstaltung der KPD mehr denkbar war, erreichten in den Monaten vor den Reichstagswahlen im September 1930 ihren Höhepunkt. Sie verzeichneten über 1.000 neue Mitglieder und erreichten ein Publikum von nahezu 200.000 Schaulustigen. Ab 1932 wurden sie nach und nach verboten.
Nach einer Übersiedlung nach Zehlendorf im Februar 1931 wurde Diamant in der für sie zuständigen Parteizelle als organisatorische und politische Leiterin tätig. Ihre Wohnung stellte sie einer „Zehntageschule“ für die Kurslehrer der „Marxistischen Abendschule“ zur Verfügung, an der sie selbst teilnahm. Dabei lernte sie den fünf Jahre jüngeren Diplom-Volkswirt Lutz (Ludwig) Lask (Abb. 14), Sohn der Autorin Berta Lask, kennen, der Kurse für marxistische Wirtschaftstheorie gab. Lask war nach seinem Studienabschluss am Kieler Institut für Weltwirtschaft nach Berlin zurückgekehrt und auf Anregung seiner Mutter und seines jüngeren Bruders Hermann in Lichterfelde-Ost in die KPD eingetreten. Die Familie Lask, bestehend aus Berta und ihrem Ehemann, dem aus Bromberg stammenden jüdischen Neurologen, Hirnforscher und Sozialdemokraten Dr. Louis Jacobsohn (1863–1940), und ihren fünf zwischen 1902 und 1906 geborenen Söhnen und Töchtern, lebte in Lichterfelde in einer großen Villa. Dorthin zog Diamant nach einiger Zeit um und heiratete Lutz Lask am 30. Juni 1932. Neben der großen Familie, zu der auch Schwieger- und Enkelkinder gehörten und in der über Wirtschaft, Kultur, Politik und Philosophie diskutiert wurde, waren Lutz und Dora in der Straßenzelle der KPD tätig, verteilten Flugblätter und Zeitungen und organisierten Demonstrationen und geheime Treffen.[96]
Seit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde ihre Mitgliedschaft in der KPD zur realen Bedrohung der persönlichen Lebensverhältnisse. Mit der nach dem Reichstagsbrand von Hindenburg erlassenen „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ am 28. Februar 1933, der sogenannten „Notverordnung“, wurden die persönliche Freiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung, die Pressefreiheit sowie das Vereins- und Versammlungsrecht eingeschränkt und Eingriffe in das Postgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und Beschlagnahmen außerhalb der geltenden Gesetze zugelassen. Die KPD übertrug Lutz Lask Anfang März die illegale Herausgabe ihres Zentralorgans Die Rote Fahne für das Gebiet Steglitz. Ebenso wie Flugblätter und Handzettel wurde die Zeitung in Hinterzimmern, auf Dachböden und in Kellern auf kleinen Druckerpressen produziert. Während die Gestapo den siebzigjährigen Jacobsohn verdächtigte, „Dokumente gegen den Staat“ verteilt zu haben, wurden vier Mitglieder der Familie Lask unter anderem wegen Teilnahme an geheimen Treffen der KPD verhaftet, die Villa durchsucht und dabei auch die Schriften von Kafka konfisziert. Lutz Lask wurde vier Tage lang gefoltert und verhört, anschließend aber freigelassen. Seine Brüder Ernst und Hermann beantragten nach ihrer Freilassung die Einreise in die Sowjetunion. Berta Lask wurde für einen Monat in „Schutzhaft“ genommen.[97]
Seit dem Boykott jüdischer Geschäfte, Arzt- und Rechtsanwaltspraxen am 1. April und dem am 7. April erlassenen „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das sich gegen die Weiterbeschäftigung nichtarischer Beamter richtete, war die Familie Lask nun auch aufgrund ihrer jüdischen Herkunft bedroht. Bis zum Sommer 1933 betrieb Lutz weiter die Herausgabe der Roten Fahne. Er und Dora wechselten auf der Flucht vor der Gestapo die Wohnungen in verschiedenen Berliner Stadtteilen, blieben auch dort „in Verbindung mit der Partei“ und „widmeten sich der „Herstellung und Verbreitung von Flugblättern, Zeitungen, Treffpunktdiensten, Demonstrationen“.[98] Berta Lask emigrierte im Juni nach Prag. Jacobsohn wurde von seiner Lehrtätigkeit an der Universität entbunden. Lutz verhaftete die Gestapo im August in Schöneberg, hielt ihn im Gestapo-Gefängnis Columbia-Haus fest, folterte ihn und verurteilte ihn zu acht Monaten „Schutzhaft“. Im Oktober ging seine Schwester Ruth mit ihrer Familie in die Niederlande ins Exil.
[94] Komintern-Akte Dora Diamant (siehe Anmerkung 88); vgl. Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 207, 209 f., 241.
[95] Komintern-Akte; ebenda, Seite 211.
[96] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 207–220.
[97] Gestapo-Report von 1937, Landesarchiv Berlin; Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 223–226.
[98] Komintern-Akte Dora Diamant (siehe Anmerkung 88); Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 229.
Flucht in die Sowjetunion und Emigration nach Großbritannien
Am 1. März 1934 brachte Dora ein Mädchen, Franziska Marianne, zur Welt. Bei der Gestapo erreichte sie die vorzeitige Entlassung ihres Mannes, der sich jedoch täglich auf dem Polizeirevier zu melden hatte. Ende Oktober floh er zu seiner Mutter nach Prag, die wenig später nach Moskau emigrierte. Lutz folgte ihr vier Monate später in die Sowjetunion. Während Berta als Bibliothekarin bei der Russischen Staatsbibliothek arbeitete, erhielt Lutz eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Marx-Engels-Lenin-Institut. Dora stellte im November 1934 einen Ausreiseantrag in die Sowjetunion. Während sie auf die Einreiseerlaubnis nach Russland wartete, erneuerte sie ihren Kontakt zu Stencl, dessen polnisch-jüdischer Literatengruppe sie beitrat. Die Verabschiedung der „Nürnberger Gesetze“ am 15. September 1935 zementierte die Ausgrenzung der Juden aus der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“. Gegen Ende des Jahres 1935 gelang es Berta, Jacobsohn eine Einladung in die Sowjetunion zu verschaffen, damit er seine Forschungen an der Universität in Sewastopol fortführen konnte. Dora und ihrer Tochter (Abb. 15) wurde erlaubt, den Schwiegervater auf der Reise zu begleiten.
Für den Abend vor der Abreise am 11. Februar 1936 organisierte Stencl eine heimliche Feier in einem jüdischen Restaurant zu Ehren des russisch-jüdischen Dichters Mendele Moicher Sforim (Scholem Jankew Abramowitsch, 1835/36–1917), die zugleich als fiktive Hochzeitsfeier zwischen Diamant und Stencl getarnt war. Stencl berichtete noch im selben Jahr in einer in Warschau erschienenen jiddischen Zeitschrift über diesen Abend: „Am Kopf des Tisches war Dora Dymant, eine professionelle Schauspielerin und Freundin von Franz Kafka, die ‚Braut‘, und ich war der ‚Bräutigam‘. Um uns herum waren ein paar Dutzend Mitglieder unserer nun nicht existierenden Gruppe, die noch in Berlin waren, und ein paar andere Liebhaber des Jiddischen.“ Dora habe ein Kapitel aus Mendeles Geschichte „Dos wintschfingerl“ [Der Wunschring] gelesen, Stencl habe einen Vortrag über Mendele gehalten. „Wir sangen alle jiddische Lieder, die dadurch, dass wir, eine Gruppe in Nazi-Deutschland verfolgter Juden, noch immer am Hundertjährigen unseres großen klassischen Autors teilhaben konnten, fröhlich und lustig machten.“[99] Diamant habe mit einer Geldspende dafür gesorgt, dass Stencls Vortrag in einer besonderen Ausgabe gedruckt werden konnte. Am folgenden Tag reisten Jacobsohn, Diamant und Marianne, von der Gestapo genau beobachtet, vom Berliner Bahnhof nach Moskau ab.[100] Bei einem kurzen Aufenthalt in Będzin stellte Dora ihre Tochter der Familie vor.
In Moskau staunte Diamant über die Existenz des 1924 gegründeten jiddisch-sprachigen Staatlichen Jüdischen Theaters, welches sie an einem der ersten Abende besuchte. Im Februar 1936 beantragte sie die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Ihre Aufnahmeformulare und der darin enthaltene Lebenslauf bildeten später die Quelle für die Rekonstruktion ihrer Biografie. Während Jacobsohn und Berta Lask in Sewastopol lebten, blieben Lutz und Dora in Moskau. Die stalinistischen Schauprozesse und wechselseitige Bespitzelungen unter den aus Deutschland eingewanderten ehemaligen KPD-Mitgliedern belasteten ihre Ehe. Schwere Erkrankungen von Marianne, darunter Scharlach und Kindertuberkulose, machten Aufenthalte im milderen Klima von Sewastopol notwendig. Im Frühjahr 1937 beantragte Diamant erstmals die Ausreise in die Schweiz für einen Klinikaufenthalt ihrer Tochter.
Im Juni 1937 wurde Diamants „Überführung“ von der deutschen KPD in die Kommunistische Partei der Sowjetunion wegen politischer Inaktivität und aufgrund von Verbindungen zu mittlerweile verhafteten Personen abgelehnt. Lutz Lask wurde wie alle übrigen ausländischen Mitarbeitenden des Marx-Engels-Lenin-Instituts entlassen und bald darauf wegen früherer Kontakte zu inzwischen inhaftierten ehemaligen KPD-Mitgliedern verwarnt. Im März 1938 wurde er vom Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD) verhaftet, als Spion angeklagt, wenig später ohne Verhandlung zu fünf Jahren Arbeits- und Erziehungslager verurteilt und in die Kolyma-Region im fernöstlichen Sibirien deportiert. Die Verbindung zu Dora, die weiterhin ihren deutschen Pass besaß, brach für immer ab. Ihr und Marianne (Abb. 16) gelang kurz darauf auf unbekannten Wegen die Flucht aus der Sowjetunion.[101]
An der Schweizer Grenze wurden sie abgewiesen. In Deutschland war ihr Name als „Lask, Dora, geborene Dymant“ auf Fahndungslisten vermerkt. Im Winter 1938 gelang die Einreise in die Niederlande, wo sie und Marianne bei der älteren Schwester von Lutz und deren Mann, Ruth und Ernest Friedländer, welche im Oktober 1933 von Berlin nach Den Haag emigriert waren, Unterschlupf fanden. Mehrere Versuche, mit der Fähre von Hoek van Holland nach Großbritannien einzureisen, scheiterten. In Friedländers Wohnung traf sie mit dem niederländischen Schriftsteller, Kafka-Forscher und Antifaschisten Menno ter Braak (1902–1940 Freitod anlässlich der deutschen Invasion) zusammen. Am 14. März 1939 gelang es Brod, der zwei Jahre zuvor seine erste Kafka-Biografie veröffentlicht und darin auch über Diamants Beziehung zu Kafka berichtet hatte, von Prag nach Palästina auszuwandern.
Diamant erhielt schließlich am 16. März eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für Großbritannien und holte Marianne Ende August 1939 nach. Ihre Heimatstadt Będzin wurde am 9. September 1939 und in den Tagen danach von deutschen Truppen zerstört. Ihr Vater war im Jahr zuvor gestorben. Andere Familienmitglieder wurden in deutsche Arbeits- und Konzentrationslager verschleppt. Von Diamants elf Geschwistern überlebten nur drei das Kriegsende in einem Sammellager in Dachau.[102] Ende Mai 1940 wurden Diamant und ihre Tochter zunächst in London und vier Tage später zusammen mit weiteren über 3.000 aus dem „feindlichen Ausland“ stammenden Frauen und Kindern auf der Isle of Man interniert. Freie Zeit verbrachte sie damit, Theatervorstellungen, Konzerte, Vorträge und jiddische Lesungen zu organisieren.[103]
[99] Avrom-Nokhem Shtentsl: A Mendele-ovnt in Berlin, in: Literarisze bleter. Ilustrirte vokhnshrift far literatur, teater un ḳunst, Warschau: Farlag B. Kletskin, 17.1.1936, Seite 33 f.; hier zitiert nach dem Manuskript im Archiv Bibliographia Judaica e.V., Goethe-Universität Frankfurt am Main; Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 234.
[100] Landesarchiv Berlin; ebenda, Seite 235.
[101] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 237–252.
[102] Ebenda, Seite 291.
[103] Ebenda, Seite 253–271.
Ein engagiertes Mitglied der jüdischen Gemeinde in London
Im August 1941 wurde ihr erlaubt, inzwischen als politisch unbelastet eingestuft, nach Manchester in das Haus der britischen Philosophin Dorothy Emmet (1904–2000) überzusiedeln, welche zu dieser Zeit eine junge Kafka-Forscherin beherbergte. Nachdem sie Marianne in einem von Quäkern geleiteten Internat nördlich von Lancaster untergebracht hatte, kehrte sie 1942 nach London zurück. Im Stadtviertel Whitechapel im jüdisch geprägten Londoner East End traf sie Stencl wieder, der dort schon vor Kriegsbeginn eine Gruppe zur Förderung der jiddischen Literatur und Kultur, die bis heute bestehende Friends of Yiddish Group, gegründet hatte und sich seit 1940 der Neuausgabe der Zeitschrift Loshn un lebn widmete. In Diamant fand er eine begeisterte Mitstreiterin für seine „Kampagne, das Jiddische als lebendige Sprache zu bewahren“[104]. Später berichtete er, Diamant habe sich sofort nach ihrer Ankunft seiner Gruppe und der gemeinsamen Arbeit angeschlossen: „Sie veranstaltete Lesungen an den Nachmittagen des Schabbat, las aus jiddischer Literatur vor, besonders aus den Klassikern. Dora Dymants Lesungen von Auszügen aus jiddischen Geschichten oder beispielsweise des Gedichts ‚Monish‘ machten den jiddischen literarischen Nachmittag immer zu einem ‚Yontif‘, einem heiligen Tag.“[105] Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen arbeitete sie als Schneiderin und eröffnete ein Restaurant.
Nach Kriegsende, während Marianne weiterhin schwer krank in einem Kinderkrankenhaus in London lag, versuchte sie sich als Schauspielerin am New Yiddish Theatre im East End, konnte ihre Kunst nach Stencls Einschätzung aber nicht mit den aktuell geltenden Standards in Einklang bringen. Stattdessen schrieb sie Theaterkritiken für Stencls Zeitschrift. Marianne konnte 1947 wieder die High School in South Hampstead besuchen, obwohl sie und inzwischen auch Dora schwer nierenkrank waren. Im selben Jahr empfing sie Josef Paul Hodin zu einem viele Stunden dauernden Interview über Kafka in ihrer Londoner Wohnung. 1948 traf sie in London Marianne Steiner[106] wieder, die Tochter von Kafkas Schwester Valli, welche 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet worden war.[107]
Während Doras überlebende Geschwister mit ihren Familien 1948 und im Folgejahr von Deutschland aus in den neu gegründeten Staat Israel auswanderten, musste Dora wegen eines erneuten zweijährigen Krankenhausaufenthalts ihrer Tochter in London bleiben. In der Zwischenzeit engagierte sie sich weiter bei jiddischen Vorträgen, Lesungen und Aufführungen, „bei denen sie sich verkleidete und mehrere Rollen gleichzeitig las – vortragend, mimend, singend und zum Singen ermunternd, alles vor diesem Publikum aufbietend, das man zu alten, fast vergessenen Gefühlen zurückbringen musste“,[108] während die jiddische Kultur und Lebenswirklichkeit nach und nach verschwanden und die jiddische Sprache von Israel ausgehend gegenüber dem Hebräischen aus der Mode kam.
Sie stand in engem Kontakt mit Marianne Steiner und erhielt durch sie Tantiemen aus Kafkas Nachlass. Mit Brod wechselte sie monatlich Briefe. Im Oktober 1949 reiste sie für vier Monate nach Israel. Brod organisierte einen Vortragsabend mit ihr im Habima Theater in Tel Aviv, dem späteren Nationaltheater, zu dem Publikum aus dem Kibbuz Mischmar haScharon, aus Będzin stammende Personen und Kafka-Begeisterte kamen. Sie wohnte natürlich bei ihren Geschwistern, traf Tile Rössler und im Kibbuz En Charod ihren Będziner Hebräischlehrer David Maletz wieder. Ihre Rückreise nach London im Februar 1950 trat sie mit dem Versprechen an, mit ihrer Tochter Marianne zurückzukommen.[109]
Ihre Reise führte sie über Paris, wo sie über mehrere Tage als Ratgeberin und Kritikerin für den Schauspieler und Regisseur Jean-Louis Barrault (1910–1994) fungierte, der am Théâtre Marigny eine Bühnenfassung von Kafkas Roman „Der Prozess“ inszenierte. Sie führte lange Gespräche mit Nicolas Baudy und begründete ihre Freundschaft mit Marthe Robert, die beide anschließend bzw. später ihre Artikel über Dora Dymants Erinnerungen an Kafka veröffentlichten. Zurück in London erwies sich Diamants Tochter Marianne weiterhin als zu krank für eine Reise nach Israel. Im Januar 1951 wurde bei Dora eine schnell fortschreitende chronische Nierenentzündung diagnostiziert. Im März begann sie mit ihren schriftlichen Aufzeichnungen über Kafka, die sie im Wesentlichen in deutscher Sprache verfasste. Über Wochen ans Bett gefesselt, begann sie einen ausführlichen Briefwechsel mit Marthe Robert. Während sie im Krankenhaus lag, kümmerte sich das Ehepaar Steiner um Marianne.
Diamant erlebte, wie seit Beginn der 1950er-Jahre in den USA und in Europa immer mehr Ausgaben und Analysen von Kafkas Werken erschienen. Im März 1952 besuchte der deutsche Schriftsteller Martin Walser (1927–2023) sie in ihrer Wohnung, der im Jahr zuvor über Kafka promoviert hatte[110] und in London an einem Gemeinschaftsprojekt der BBC und des Süddeutschen Rundfunks mitarbeitete. Er berichtete darüber anlässlich des Erscheinens von Kafkas zwischen 1922 und dessen Tod geschriebenen „Briefen an die Eltern“[111]:
„Es war der dunkelste Spätnachmittag meines Lebens. Im Treppenhaus des alten Mietshauses in Chelsea herrschte eine Art Nacht, gegen die die wirkliche Nacht Tag genannt werden muss. Ich tastete mich am Treppengeländer hinauf. Oben öffnete ein dreizehn- oder sechzehnjähriges Mädchen. Das führte mich zu Dora Diamant. – Ich wusste von ihr nur, dass sie bis zuletzt bei Kafka gewesen war. Wie es dabei zugegangen ist, kann man erst jetzt wissen, seit diese wunderbar genaue Brief-Edition vorliegt. Ich sage das, weil ich wenige Gelegenheiten so vollkommen verpatzt habe wie diesen Nachmittag auf dem Stuhl am Bett der Frau, die die letzten zwei Jahre mit Kafka zusammenlebte. Ich kannte ihren Namen nur aus Max Brods Kafka-Biographie. Dort heißt sie Dora Dymant, ist neunzehn oder zwanzig Jahre alt und wird in einer allerdings unvergesslichen Szene eingeführt. […] Am Bett dieser Frau saß ich jetzt, runde dreißig Jahre später. Es gab eine minimale Nachttischlampe, die dem vor Dunkelheit grenzenlos wirkenden Raum ein Lichtinselchen abrang. Dora Diamants Haare, offen. Vielleicht gerade gekämmt von der Tochter. Die mich zu dem Stuhl am Bett brachte und verschwand. Dora Diamant sah krank aus. Aber die eigentliche Katastrophe für mich wurde nicht ihr Zustand, sondern meine Unfähigkeit, diesem Zustand zu entsprechen. Kaum saß ich, griff sie unter eines der vielen Kissen, vor denen sie mehr saß, als dass sie auf ihnen gelegen hätte. Sie holte eine Art Schulheft hervor und fing an vorzulesen. Es waren ihre Aufzeichnungen über Franz Kafka. […] Durch die jetzt erschienenen Briefe an die Eltern und durch Dora Diamants Zusätze zu diesen Briefen kann man ahnen, dass sie zu den wenigen gehört, die in Kafka ein Lebensinteresse geweckt haben. Aber ihre Aufzeichnungen, die sie nach Kafkas Tod gemacht hat, handelten nicht von meinem Kafka, sondern von ihrem. Das war ein Religionsstifter, den ich nicht kannte und den ich, weil ich literarisch borniert war, nicht kennenlernen wollte. Ich war nicht imstande, die ganz und gar religiös bestimmte Erlebnisart einer aus der ostjüdischen Tradition stammenden Frau als Sprache für ein Kafka-Erlebnis gelten lassen zu können. Sie sprach von Kafka wie von einem Erlöser. Das Licht, in dem uns jemand erscheint, stammt immer aus uns selbst. […] Trotzdem hätte ich doch die wirkliche Herkunft des Religionstons der Dora Diamant hören müssen. Aber nein, ich fühlte mich eher abgestoßen von dem Ton, in dem sie ihren Kafka religiös verklärte. Ich hätte doch wenigstens neugierig bleiben müssen. Aber nein, ich war das Gegenteil: borniert. So habe ich eine einmalige Gelegenheit lächerlich verpatzt. Als ich in dieser Brief-Edition, die Dora Diamants Mitwirkung so genau bewahrt, die Sätze dieser Frau las, sah ich, wie nah sie Kafka war, was für eine Hilfe sie für Kafka hätte sein können. Dadurch ist mir das Ausmaß meines damaligen Versagens noch einmal ganz bewusst geworden. Ich ließ Dora Diamant vor ihren Kissen sitzen, fuhr von Chelsea zurück zum Picadilly Circus und ging ins Theater.“[112]
Am 15. August 1952 starb Dora Diamant im Beisein ihrer Tochter Marianne im Plaistow Hospital in West Ham, East London (Abb. 17). Sie wurde drei Tage später im Kreis ihrer engsten Freunde auf dem Friedhof der United Synagogue in der Marlow Road in East Ham bestattet (Abb. 18). Marianne Lask beantragte anlässlich ihrer Volljährigkeit die britische Staatsbürgerschaft. Ihr Vater Lutz hatte das sibirische Arbeitslager überlebt und war 1946 nach Nowosibirsk entlassen worden. Berta Lask, die in Ost-Berlin lebte und 1948 die Rückkehr ihres Sohnes Hermann und seiner Familie aus der Sowjetunion erreicht hatte, gelang es 1953, Lutz nach Berlin zu holen. In einer alten Zeitung fand er zufällig einen Nachruf auf Dora und erfuhr von der Existenz seiner Tochter Marianne in London. 1955 gelang der erste briefliche Kontakt. Im Jahr darauf reiste Marianne nach Ost-Berlin und lernte auch ihre Großmutter und andere Familienmitglieder kennen. Lutz Lask starb 1973 in Berlin. Marianne Lask starb 1982 im Alter von 48 Jahren vereinsamt und geistig umnachtet in London.[113]
Axel Feuß, Mai 2023
[104] Valencia 1997 (siehe Anmerkung 85), Seite 8.
[105] A. N. Stencl: Über den ersten Jahrestag des Todes der Schauspielerin Dora Dimant, in: Yoyvl-almanakh. Loshn un lebn, 1956. Unzer beyshteyer tsu der fayerung der tsurikker fun yidn for 300 yor in england, London 1956; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 280.
[106] Über Kafkas letzte Nachlassverwalterin Marianne Steiner vergleiche Hanns Zischler: Kafkas Nichte. Gedenkblatt für Marianne Steiner, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 264 vom 13.11.2000, Seite 55; erneut auf https://www.franzkafka.de/fundstuecke/kafkas-nicht-gedenkblatt-fuer-marianne-steiner (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[107] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 272–307.
[108] Robert 1952 (siehe Literatur), zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 312.
[109] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 309–322.
[110] Erstmals publiziert als Martin Walser: Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka (Reihe Literatur als Kunst), München: Hanser 1961.
[111] Franz Kafka: Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922–1924, herausgegeben von Josef Čermák und Martin Svatoš, Frankfurt am Main: S. Fischer 1990.
[112] Martin Walser: Kafkas Stil und Sterben. Letzte Briefe und Postkarten, in: Die Zeit, Nr. 31 vom 26.7.1991, https://www.zeit.de/1991/31/kafkas-stil-und-sterben/komplettansicht (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[113] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 323–363.
Eigene Schriften von Dora Diamant:
On a Production of Peretz’s. Three Gifts, in: Loshn un lebn [Sprache und Leben]. Hoydesh-zshurnal far literaṭur, teater, kunst un kultur, 63, London: A. N. Stencl, 1945.
To Moshe Oved on his Sixtieth Birthday, in: Loshn un lebn 69, 1945.
On the Actress Dina Helpern’s Appearance on the London Yiddish Stage, in: Loshn un lebn, September 1946.
Shakespeare on the London Yiddish Stage, in: Loshn un lebn 81, 1946.
Shlomo Mikhoels. The Jew, in: Loshn un lebn 97, 1948.
On a Concert of the PPYL at the People’s Palace, in: Loshn un lebn, Januar 1949.
Literatur:
J. P. (Josef Paul) Hodin: Memories of Franz Kafka. Notes for a definite biography, together with reflections on the problem of decadence, in: Horizon. A Review of Literature and Art, Band 17, Heft 97, London, Januar 1948, Seite 26–45; Online-Ressource: https://www.unz.com/print/Horizon-1948jan-00026/ (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
J. P. (Josef Paul) Hodin: Erinnerungen an Franz Kafka, in: Der Monat. Eine internationale Zeitschrift, 1. Jahrgang, Nummer 9, Berlin, Juni 1949, Seite 89–96.
Nicolas Baudy: Entretiens avec Dora Dymant. Compagne de Kafka, in: Évidences. Revue mensuelle de l'American Jewish Committee II (8), Paris (?) 1950, Seite 21–25.
Marthe Robert: Notes inédites de Dora Dymant sur Kafka, in: Évidences. Revue mensuelle de l'American Jewish Committee 28, Paris (?), November 1952.
Marthe Robert: Dora Dymants Erinnerungen an Franz Kafka, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jahrgang 7, Heft 67, München, September 1953, Seite 848–851, https://www.merkur-zeitschrift.de/artikel/dora-dymants-erinnerungen-an-kafka-a-mr-7-9-848/ (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
Martha Hofmann: Dinah und der Dichter. Franz Kafkas Briefwechsel mit einer Sechzehnjährigen, in: Die österreichische Furche, Band 10, 1954; 30. Beilage: Die Warte. Blätter für Forschung, Kunst und Wissenschaft vom 24.7.1954.
Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie [Prag: Heinr. Mercy Sohn, 1937; New York: Schocken, 1954], Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1962.
Klaus Wagenbach: Franz Kafka in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Rowohlts Monographien, herausgegeben von Kurt Kusenberg, rm 91 [1964]), Reinbek bei Hamburg, 10. Auflage, 1972.
„Als Kafka mir entgegenkam …“. Erinnerungen an Franz Kafka, herausgegeben von Hans-Gerd Koch, Berlin: Wagenbach, 1995.
Ernst Pawel: The Nightmare of Reason. A Life of Franz Kafka, New York: The Noonday Press: Farrar, Straus, Giroux, 1984.
Nicholas Murray: Kafka und die Frauen. Biographie [London, 2004], Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2007.
Hans-Gerd Koch: Kafka in Berlin. Eine historische Stadtreise, Berlin: Wagenbach, 2008.
Kathi Diamant: Dora Diamant. Kafkas letzte Liebe [New York, 2003], Düsseldorf: onomato, 2013.
Annekatrin Schaller: Dora Diamant, Kafkas letzte Liebe in Neuss. Ein Beitrag zur Geschichte des Rheinischen Landestheaters, in: Novaesium. Neusser Jahrbuch für Kunst, Kultur und Geschichte, Neuss 2017, Seite 263-286.
Online:
Ankündigung eines Film über das Treffen zwischen Dora Diamant und Franz Kafka in Graal-Müritz auf Youtube anlässlich des 100jährigen Jubiläums, https://youtu.be/s3XPCgffWO0 (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).