Remigration oder Rückkehr? Als Ruhrpole zurück in die alte Heimat

Die Familien Tomczak, Galewsky, Jankowiak und Kobuczyński vor dem Haus der Familie Tomasz/Galewsky in der Ziegelstraße, Osterfeld 1929
Die Familien Tomczak, Galewsky, Jankowiak und Kobuczyński vor dem Haus der Familie Tomasz/Galewsky in der Ziegelstraße, Osterfeld 1929

Remigration oder Rückkehr? Als Ruhrpole zurück in die alte Heimat


Mein Name ist Patrick Barteit, geboren 1972 in Oberhausen. Ich bin ein Ruhrpole. Polnisch spreche ich nicht. Noch nicht. Die Geschichte der Auswanderung meiner Familie ins Ruhrgebiet beginnt 1918 in dem kleinen Dorf Orkowo, Kreis Śrem, Provinz Posen und führt 2018, nach einem 100-jährigen Aufenthalt in Oberhausen, über Warschau nach Olsztyn und somit nach Polen zurück. Dies ist die Geschichte der Familie Tomczak. Dies ist meine Geschichte.

Der Aufbruch

Im Jahre 1900 erblickte mein Urgroßvater Józef Tomczak als ältester Sohn von Józef und Stanisława Tomczak in dem kleinen Dorf Orkowo an der Warthe das Licht der Welt. Er war Pole, so wie seine Eltern, Urgroßeltern und Ur-Urgroßeltern Generationen zuvor. Das stand für alle in der Familie immer außer Frage. Daheim sprach die Familie Polnisch, so wie jeder in dem kleinen Dorf. Durch die Teilung Polens existierte seit 1795 allerdings kein eigenständiger polnischer Staat. Die Provinz Posen war von Preußen okkupiert, die deutsche Sprache war in der Schule und bei Behördengängen Pflicht. Von Amtswegen wurde die polnische Bevölkerung als „Preußische Staatsbürger polnischer Nationalität“ betitelt und stellte als nationale Minderheit in Preußen den weitaus größten Bevölkerungsanteil. Die Zeiten waren hart, das Geld knapp und die Armut groß. Dagegen entwickelte sich in Deutschland im Zuge der Industrialisierung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert ein großer Bedarf an Arbeitskräften. Allen voran lockte das Ruhrgebiet Arbeitskräfte aus In- und Ausland. Kohle und Stahl versprachen eine bessere Zukunft. Mit fast 18 Jahren entschloss sich auch Józef Tomczak sein Elternhaus und heimatliches Dorf zu verlassen und machte sich auf den Weg ins Ruhrgebiet – wie schon Hunderttausende seiner polnischen Landsleute vor ihm.

Die Ankunft

Im Januar 1918 im Ruhrgebiet angekommen, fand Józef eine Anstellung als Bergmann auf der Zeche Osterfeld, die zum Verbund der Guten-Hoffnungs-Hütte (GHH) gehörte. Zu dieser Zeit war Osterfeld eine eigenständige Gemeinde in Westfalen, bis sie am 1. August 1929 im Rahmen der großen Gebietsreform des rheinisch-westfälischen Industriegebiets mit Sterkrade und (Alt-)Oberhausen zum neuen Stadtkreis Oberhausen im Rheinland vereinigt wurde.
Durch die Vielzahl der Polen im Ruhrgebiet gab es eine ausgeprägte und gut vernetzte polnische Community mit einer sehr gut organisierten Infrastruktur. So könnte auch Józef Tomczak innerhalb der polnischen Gemeinschaft Unterstützung und hilfreiche Kontakte finden und war nach seiner Ankunft nicht auf sich alleine gestellt: Anfänglich wohnten die jungen Zechenarbeiter aus der Fremde in Ledigenwohnheimen, die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wurden, oder zur Untermiete als sog. Kostgänger, indem sie bei Privatleuten für wenig Geld ein Zimmer mieteten und von diesen verpflegt wurden.
Wie fast alle Arbeiter aus dem Osten wollte auch Józef möglichst schnell viel Geld verdienen, um einen Teil des Lohnes in die alte Heimat zu schicken und seine Familie finanziell zu unterstützen. Was übrig blieb wurde gespart. Der Kontakt zum Elternhaus und den Geschwistern war trotz der großen Entfernung stets gegeben. Speziell zu seiner Schwester Zofia Stanisława und zum Bruder Stanisław bestand regelmäßiger Briefverkehr. Stanisław besuchte seinen älteren Bruder sogar in Osterfeld.

Nach drei Jahren Arbeit auf der Zeche lernte Józef im Jahre 1921 meine Urgroßmutter Anna Maria Galewska kennen. Annas Familie stammte ebenfalls aus der Provinz Posen aus dem Ort Koryta im Kreis Krotoszyn. Ihre Eltern wanderten bereits im Jahre 1895 ins Ruhrgebiet ein. Anna Marias Vater Tomasz, mein Ur-Urgroßvater, war auch Bergmann auf der Zeche Osterfeld. Tomasz Galewsky und seine Frau Maria, waren der deutschen Sprache nicht mächtig, erst durch ihre fünf Töchter, die hier zur Schule gingen, lernten sie einige deutsche Wörter. Seit 1903 bewohnte die Familie Galewsky ein Zechenhaus der Werkssiedlung Stemmersberg in der Gemeinde Osterfeld.

Die Hochzeit von Anna und Józef folgte schnell. Eine Heirat mit einem Deutschen wäre für sie, wie für viele andere polnische Einwanderer, aus vielen Gründen unvorstellbar gewesen: Von den Deutschen als „Pollaken“ beschimpft, galten die Polen in Deutschland als Menschen zweiter Klasse. Diskriminierungen der „nicht-deutschen“ Ruhrpolen waren an der Tagesordnung. Die meisten Polen flüchteten daher nach der Arbeit in die polnische Parallelgesellschaft und blieben unter sich. Das „fremd sein“ in Deutschland, die gemeinsame Sprache und Kultur, der familiäre Druck sowie die wohnräumliche Nähe in den Werkssiedlungen verhinderten für lange Zeit eine interkulturelle Ehe. So hatten auch Anna Marias vier Schwestern polnische Ehemänner – sogar aus der Provinz Posen. Die älteste Schwester Pelagia war bereits 1919 mit ihrem Ehemann zurück nach Polen gekehrt.

1922 wurde Annas und Józefs erstes Kind geboren – meine Großmutter Henriette. Zunächst wohnte die junge Familie auf engstem Raum im Hause der Schwiegereltern Galewsky, bis sie 1924 eine eigene Wohnung am Rande von Osterfeld bezogen. Henriette wuchs gemeinsam mit ihren zwei jüngeren Brüdern Jan Józef und Edmund auf. Wie viele andere polnische Kinder im Ruhrgebiet verbrachten sie die Sommerferien in den 1930er Jahren regelmäßig bei ihren Verwandten in Posen. Vom Oberhausener Hauptbahnhof fuhr ein Sammelzug für die Kinder der Ruhrpolen, mit dem auch Henriette jeden Sommer zu ihren Großeltern Tomczak nach Posen reiste. Der Familienzusammenhalt war sehr groß, auch in Osterfeld. An jedem Wochenende kam die ganze Familie zusammen: Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Es wurde gemeinsam gegessen und getrunken und vor allem getanzt. Geselligkeit war ein zentraler Punkt der Familie.
Nach Beendigung der Volksschule absolvierte meine Großmutter Henriette eine Lehre als Verkäuferin.

Anfang der 1940er Jahre lernte Henriette ihren späteren Ehemann, meinen Großvater, auf einer Tanzveranstaltung kennen. Er war Musiker in einem Orchester. Neben Schlagzeug und Trompete spielte er Geige. Heinz Johannes Mlinski war sein Name. Auch er war Ruhrpole, geboren 1921 in Bottrop. Seine Familie stammte ursprünglich aus Smolno im Kreis Puck, Pommern. Sein Vater, Daniel Paweł Mlinski, war ebenfalls Bergmann und arbeitete auf der Zeche Prosper in Bottrop. 1945 heirateten meiner Großeltern Henriette und Heinz Johannes. Sie bekamen zwei Töchter: Die älteste Tochter Jutta wurde 1946 geboren, 1950 kam meine Mutter Marlies zur Welt.

 

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs bestand noch regelmäßiger Kontakt zu den polnischen Verwandten Tomczak in Posen, Besuche der Familie fanden bis 1943 statt. Aber mit dem Ende des Krieges und der nachfolgend von den Sowjets kontrollierten kommunistischen Regierung in der Volksrepublik Polen, erlosch der persönliche Kontakt der beiden Familien in Polen und Deutschland vorerst.
Und auch die polnische Sprache der in Deutschland lebenden Familie war 1945 verloren gegangen: Seit der dritten Teilung Polens im Jahr 1795 und dem Prozess der „Verpreußung“ und „Germanisierung“ des Landes waren die Ruhrpolen bis ins 20. Jahrhundert dem Germanisierungsdruck auch in ihrer neuen Heimat ausgesetzt. Obwohl die aus den neuen preußischen Ostprovinzen stammenden „preußischen Polen“ im Ruhrgebiet die deutsche bzw. die preußische Staatsbürgerschaft besaßen und gut im Berufsleben integrierten waren, waren sie doch ethnischer und sozialer Diskriminierung ausgesetzt. Um ihre Sprache, Kultur und Lebensgewohnheiten beizubehalten, blieben sie daher meist unter sich, so auch bei der Wahl der Ehepartner. Lange Zeit hielt die polnische Sprache, Kultur und Tradition dem Druck der Germanisierung stand. In der Zeit des Nationalsozialismus sah es jedoch anders aus: „Mit dem Machtantritt Hitlers verschärft sich die Situation der polnischen Minderheit dramatisch. Die Vereine und Organisationen werden „gleichgeschaltet“ und müssen sich gegen Einmischungen zur Wehr setzen. Zunehmende Hetze gegen Polen sowie Misshandlungen und Übergriffe von faschistischen Schlägertrupps zerschlagen die Selbstorganisationen weitgehend. […]. In Oberhausen werden 1939 […] „führende Köpfe“ der polnischen Minderheit verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt“[1] Aus Angst vor Übergriffen wurde der Gebrauch der polnischen Sprache unter den Ruhrpolen weiterstgehend vermieden, die Kriegs- sowie Nachkriegsgeneration lernte die Sprache kaum noch. So auch in der Familie Tomczak/Mlinski.

Meine Mutter Marlies und ihre Schwester Jutta wuchsen in einem Zechenhaus in Oberhausen-Osterfeld auf. Zu siebt in einer kleinen Wohnung: Mit meinem Urgroßvater Józef Tomczak und Urgroßmutter Anna, meinem Großonkel Jan Józef sowie meinen Großeltern Henriette und Heinz Johannes Mlinski. Privatsphäre gab es faktisch nicht. Die Sommermonate verbrachte die Familie gerne in dem zu der Wohnung gehörigen Garten. Dort wurden Hühner gehalten, Gemüse angepflanzt und es gab Apfel- und Pflaumenbäume.

Ende der 1960er Jahre lernte meine Mutter meinen Vater kennen. 1971 folgte die Hochzeit und der Umzug aus der Zechensiedlung. 1972 kam ich als einziges Kind meiner Eltern zur Welt. Mit der Heirat meiner Mutter und meines Vaters, Detlef Barteit, wurde zum ersten Mal in unserer polnischen Familiengeschichte eine „Tradition“ gebrochen. Die Familie Barteit war nicht polnisch, sondern stammte ursprünglich aus Litauen und ist über das ehemalige Ostpreußen 1918 ins Ruhrgebiet eingewandert.

Im Jahre 1953 verstarb meine Urgroßmutter Anna Maria, 1976 verstarb mein Urgroßvater Józef. Ende 1979 zog meine Großmutter Henriette mit ihrem Bruder Jan Józef in eine moderne Stadtwohnung. Die Zeit der Zechensiedlung war vorbei, das Heizen mit Kohle gehörte ab jetzt der Vergangenheit an. Hier gab es eine Gasheizung und ein integriertes Badezimmer mit Dusche und Warmwasserversorgung.

 

[1] Netzwerk Interkulturelles Lernen, Geschichtswerkstatt Oberhausen e.V., „Polen im Pütt“. In: Geschichte(n) von Migration in Oberhausen – Hintergründe, Erinnerungen, Dokumente, Jg. November/2007, S.12.

Der Entschluss

Ich bin nun Ruhrpole in dritter Generation, meine Kindheit und Jugend habe ich in Osterfeld-Oberhausen verbracht und wohne hier bis heute. Aufgewachsen bin ich in dem Bewusstsein, polnischer Abstammung zu sein, denn es wurde von Generation zu Generation kommuniziert. Bereits mit 15 Jahren habe ich mich für meine Wurzeln interessiert und mit der Ahnenforschung begonnen, alle Informationen gesammelt und die Geschichte Polens und Litauens studiert. Während meiner Studienzeit Mitte der 1990er Jahre führten mich bereits mehrere Reisen nach Polen. So lernte ich Land und Leute kennen und lieben. Je älter ich wurde, desto größer wurde mein Interesse und meine Bindung zu dem Land meiner Vorfahren. Aus diesem historischen Interesse heraus, lernte ich vor einigen Jahren meine heutige Ehefrau Joanna kennen. Joanna ist in Olsztyn geboren und hat die meiste Zeit ihres Lebens in Polen verbracht. Erst aufgrund unserer Ehe hat sie ihre Heimat Polen verlassen. Mit der Heirat einer gebürtigen Polin, habe ich als Ruhrpole den Kreis wieder geschlossen und die Familientradition neu aufleben lassen. Wir haben mittlerweile zwei Töchter im Alter von drei Jahren und sieben Monaten.
Meine Frau und ich haben schon vor unserer Heirat beschlossen, dass wir nach Polen zurückkehren werden. Für meine Frau war es eine Selbstverständlichkeit, ist sie doch hier in Deutschland nie wirklich angekommen. Für mich bedeutet der Entschluss einen echten Wendepunkt in meinem Leben. Nach über 100 Jahren Ruhrgebiet soll es nun zurück in das Land meiner Vorfahren gehen. In meine neue und alte polnische Heimat. Freunde, Bekannte und Verwandte fragen mich: Warum? Hierfür gibt es mehrere Gründe.

Ich möchte meinem Leben einen neuen Charakter verleihen, ich will mein Leben „entschleunigen“. Wenn wir in Polen sind, merke ich wie ich zur Ruhe komme, wie mein Körper und mein Geist neue Kraft tankt und regeneriert. In mir kommt ein ganz neues Gefühl von Heimat auf. Das bedeutet für mich Lebensqualität. Das Heimatgefühl im Ruhrgebiet, hier in Oberhausen, habe ich schon seit vielen Jahren gänzlich verloren. Es existiert nur noch als Erinnerungsemotion meiner Kindheit und Jugend.

Mit dem Strukturwandel der Montanindustrie und dem damit verbundenen Lebensgefühl im Ruhrgebiet, hin zu einer angedachten Dienstleistungsregion, ist das heimische Empfinden Stück für Stück verloren gegangen. Als Kind und junger Mensch habe ich die letzten Jahre der Kohle- und Stahlindustrie noch erlebt. Genau das hat dieser Region seine Besonderheit verliehen. Der Strukturwandel hat nicht funktioniert. War das Ruhrgebiet einst das industrielle Herz Deutschlands, ist es heute das Armenhaus der Nation. Innenstädte und Stadtteilzentren stehen kurz vor dem Exitus, die Straßen sind marode, ebenso Kindergärten, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen. Mit dieser Veränderung hat auch ein enormer soziokultureller Wandel stattgefunden. Nein, meine Heimat existiert hier nicht mehr.

Der wichtigste Grund sind jedoch unsere Kinder. Als Eltern haben wir ausführlich überlegt, wo unsere Töchter die besten Chancen für eine gute Zukunft haben. Wir kamen sehr schnell überein, dass das nur in Polen sein kann. Polen ist ein wunderbares Land, mit so viel Potenzial und einer Vielzahl von Möglichkeiten. Ein Land im Aufbruch. In Polen finden unsere Kinder ein gut funktionierendes Schulsystem vor, eine homogene Gesellschaft mit Wertevorstellungen, die wir teilen und eine Sicherheit für die Bevölkerung, wie in keinem anderen europäischen Land.

Unser Fahrplan steht. Spätestens in zwei Jahren, möchten wir unseren Lebensmittelpunkt nach Olsztyn verlegt haben. Olsztyn bietet uns mit seiner guten Infrastruktur alles, was wir erwarten. Durch den Kauf eines Baugrundstücks haben wir 2016 bereits den ersten Schritt vollzogen. Unsere Kinder wachsen zweisprachig auf, sodass Polnisch für sie keine Fremdsprache ist, und auch ich lerne fleißig Polnisch. Leider fällt es mir als Erwachsenem schwerer als den Kindern. Über einen sog. Headhunter, habe ich bereits Stellenangebote erhalten. Jedoch haben wir auch einige Geschäftsideen im Gepäck.

Der Rückweg über Warschau

Die größte Hürde habe ich mir jedoch selbst auferlegt. Ich möchte als Pole in meine Heimat zurückkehren. D.h. mit der polnischen Staatsangehörigkeit und nicht mit der deutschen. Das ist mein tiefster und innerster Wunsch, denn als Ruhrpole bin ich auch Pole. Meine Frau hat die polnische Staatsangehörigkeit und unsere Töchter auch. Es ist mein Erstreben, dass wir eine komplett polnische Familie sind. Mein Urgroßvater verließ Orkowo als Pole, seine Eltern und Geschwister blieben dort. In Deutschland lebte er mit deutschen Papieren, seine Geschwister in Polen ab 1918 mit polnischen. War er deshalb weniger Pole? Heute habe ich Kontakt zu den Urenkeln der Geschwister meines Urgroßvaters. Alle leben in Polen, mit polnischen Papieren. Trotzdem haben wir die gleiche ethnische Herkunft.

Nach einer Rechtsberatung durch eine polnische Juristin, gibt es für mich im Prinzip nur den Weg über einen Abstammungsnachweis. Seit vielen Jahren betreibe ich genealogische Forschungen, daher fällt es mir leicht, meine Abstammung vorzulegen. Die Antragsstellung läuft über das polnische Konsulat in Köln, welches die Unterlagen zum Woiwodschaftsamt nach Warschau weiterleitet. Im Februar 2017 hatte ich einen Termin beim Konsul, um meinen Antrag zu stellen. Mit meinem Wunsch, Pole per Staatsangehörigkeit zu werden, löste ich ein großes Erstaunen aus, denn es sei eher üblich, dass polnische Staatsbürger die deutsche Staatsangehörigkeit anstreben. Ich übergab dem Konsul den Antrag und als Anlage eine Vielzahl von Geburts- und Heiratsurkunden, übersetzt durch eine vereidigte Übersetzerin.

Wochen und Monate vergingen. Im November 2017 erhielt ich dann einen Bescheid aus Warschau, mit der Aufforderung, weitere Nachweise zu erbringen. Da mir nicht ganz klar war, was fehlte, nahm meine Frau direkten telefonischen Kontakt mit dem Woiwodschaftsamt auf. Die zuständige Sachbearbeiterin war sehr freundlich, bemüht und hilfsbereit. Nachgefordert wurden originale amtliche Urkunden der Geburten und Eheschließungen meiner mütterlichen Linie oder beglaubigte Kopien. Des Weiteren ein Nachweis, dass mein Urgroßvater Józef Tomczak aus Orkowo, Kreis Śrem, Provinz Posen, ein Pole war.

Das ist eine lösbare Aufgabe. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Standesämter in Oberhausen, Bottrop und Śrem waren sehr zuvorkommend bei meinem Anliegen und haben mir in wenigen Tagen alle notwendigen Papiere zugestellt. Ältere Dokumente befinden sich im Archiv in Posen, Kalisz und Danzig. Diese liegen mir nun auch vor. Auch hier möchte ich die große Hilfsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwähnen. Eine lückenlose mütterliche Abstammung polnischer Ethnie bis 1800 kann ich nachweisen. Alle vorliegenden Geburtsnamen und Ehepartner sind polnischer Herkunft, alle Geburtsorte vor 1900 befinden sich in Polen. Damit sollte die polnische Nationalität meines Urgroßvaters Józef Tomczak nachgewiesen sein.

Die Abgabefrist der weiteren Dokumente endet im Juni 2018. Mit bestem Wissen und Gewissen habe ich alles zusammengestellt. Die formelle Endscheidung, ob meine Familie polnisch war und ist, liegt jetzt in den Händen Warschauer Ämter.

 

Patrick Barteit, Februar 2018

Das große Wiedersehen 

Im Juni 2018 war es soweit. Wir machten uns mit unserem Wohnwagen auf die Reise nach Orkowo, in den Geburtsort meines Urgroßvaters. Genauer gesagt, am 16. Juni 2018. Mehr als 100 Jahre nachdem Józef Tomczak sein Elternhaus verlassen hatte, kehrte ich mit meiner Familie dorthin zurück, um meine Verwandten zu besuchen.

Um es vorwegzunehmen, es war eines der emotionalsten Tage meines Lebens. Der Himmel war wolkenlos und es herrschten schon in der Früh Temperaturen um die 30 Grad Celsius. Unseren Wohnwagen hatten wir direkt auf einem Stellplatz an der Warthe parken können, mit Blick auf Orkowo und die Felder meiner Familie.

Um 10 Uhr wurden wir von meinem Cousin Krzysztof Budzyń abgeholt. Er wohnt in Śrem und ist von Beruf Historiker. Zuerst ging die Fahrt nach Binkowo, dem Geburtsort meiner Ur-Urgroßmutter Stanisława Tomczak, geborene Bratkowska. Dort besuchten wir den ehemaligen Bauernhof der Familie Bratkowski. Heute ist dieser nicht mehr in Familienbesitzt.

Dann endlich, wir fuhren nach Orkowo zum Hof meiner Familie. Es ist ein kleiner Familienbetrieb der Rinder- und Schweinezucht. Der Hof wurde am 9. Juni 1870 von meinem Ur-Ur-Urgroßvater Michał Tomczak und seiner Ehefrau Marianna Skorupska gegründet. Weitergeführt von meinem Ur-Urgroßvater Józef und seiner Frau Stanisława. In den 1950er Jahren, nach dem Tod von Józef, übernahm die Schwester meines Urgroßvaters, Zofia, zusammen mit ihrem Mann Bronisław Pawlisiak den Betrieb. Heute leben dort Onkel Edward Pawlisiak mit seiner Frau Bożena sowie der Sohn Sławomir mit seiner Frau Renata und den Kindern Dominika und Jakub.

Die erste Begegnung ist nicht wirklich in Worte zu fassen. Die Eindrücke prasselten regelrecht auf mich ein. Die Menschen, der Hof, die Freude, viele Fragen, das heiße Wetter, die Reise … ich kam mir vor wie in Trance und hatte zeitweise das Gefühl, den Boden unter meinen Füßen zu verlieren.

Wir hatten aus Oberhausen alte Familienfotos mitgebracht und auch Tante Bożena holte ein altes Familienalbum aus dem Schrank. Zu unserer aller Verwunderung stellten wir fest, dass wir im Besitz vieler identische Fotografien sind. Mein Urgroßvater sendete wohl damals in den 1920er Jahren viele Fotos seiner Kinder und der Familie aus Oberhausen zu seinen Eltern nach Orkowo und umgekehrt. Auch konnte sich Onkel Edward aus Erzählungen noch erinnern, dass meine Großmutter Henriette als Kind und junges Mädchen regelmäßig in den Ferien zu Besuch war.

Die gemeinsamen Stunden vergingen wie im Zeitraffer. Am späten Abend kehrten wir zu unserem Wohnwagen zurück. Meine Frau ging mit den Kindern zu Bett. Ich blieb noch lange allein am Ufer der Warte sitzen, genoss die Stille und die Natur, sortierte meine Gefühle, Eindrücke und Gedanken. Ich war glücklich und traurig zugleich. Traurig, weil meine Großmutter Henriette und mein Urgroßvater Józef, nicht mehr mitbekommen konnten, dass ich mich auf ihre Spuren begeben habe. Glücklich, weil ich mich dort so geerdet und angekommen fühle. Als ein Teil des Ganzen, als ein Teil Polens.

Seit diesem ersten Treffen besuchen wir die Familie und Orkowo regelmäßig. Die Jüngsten auf dem Hof, Dominika und Jakub sind im gleichen Alter wie unsere Kinder und verstehen sich sehr gut. In 2021 ist geplant, dass meine Mutter uns auf diese Reise begleiten wird. Auch sie möchte die Familie in Polen kennenlernen und das Geburtshaus ihres Großvaters sehen.

Wie schon erwähnt, ist mein Cousin Krysztof Budzyn Historiker in Śrem. Wir sind über die Linie meiner Ur-Ur-Großmutter Bratkowska miteinander verwandt. Er ist von der Idee, meine polnische Nationalität auch von formeller Seite bestätigen zu lassen ebenfalls sehr angetan. In seiner regelmäßig erscheinenden Fachzeitschrift „Śremski Notatnik Historyczny“ (Nummer 22) ist meine Familiengeschichte auch erschienen und vielfach auf positive Resonanz gestoßen. Im Prinzip steht für jeden, den ich bisher in Polen gesprochen habe und der die Zusammenhänge meiner Historie kennt, außer Frage, dass ich Pole bin.

 

Post aus Warschau

Am 11. Januar 2019 bekam ich ein Einschreiben aus Warschau vom Woiwodschaftsamt. Mir zitterten die Hände beim Öffnen des Briefes. Die Enttäuschung war riesig. Mein Gesuch, auf Erlangung der polnischen Staatsangehörigkeit wurde abgelehnt und in einem ausführlichen Schreiben begründet.

Alle von mir eingereichten Urkunden und der Familienstammbaum reichten zur Beweislage nicht aus. Wir telefonierten nochmals mit dem Woiwodschaftsamt, um bis ins Detail zu erfahren, was der Grund der Absage war. Die Antwort ist ganz einfach: Nach polnischem Recht müssen die Beurkundungen der Abstammung (Geburt, Heirat) von einem polnischen Amt ausgestellt worden sein. Mein Ur-Großvater ist im Jahre 1900 geboren. Zu diesem Zeitpunkt gab es den polnischen Staat nicht. Somit sind alle Personen, die bis 1918 geboren wurden und sich nach 1918 keine polnischen Papiere haben ausstellen lassen, per Definition keine Polen. Auch wenn ihre Nachnamen und der ihrer Vorfahren durchweg polnischen Ursprungs waren und die Geburtsorte im heutigen Großpolen lagen.

 

Die höchste Instanz

Nach der ersten Schockstarre dauerte es etwas, bis ich die Enttäuschung verarbeitet hatte. Doch „noch ist Polen nicht verloren“. Der Lieblingssatz meiner Grußmutter in schwierigen Situationen erweckte auch meinen „Kampfgeist“ wieder. Für meine Frau und mich stand und steht weiterhin fest, dass wir unseren Lebensmittelpunkt zurück nach Polen verlegen möchten. Unsere Kinder sind sehr gut vorbereitet, sie wachsen zweisprachig auf, sodass es für sie keine sprachlichen Probleme bei einem Umzug geben wird.

Wir überlegten gemeinsam, welche Möglichkeiten es noch geben könnte. Bei Recherchen bin ich auf das Polnische Institut Düsseldorf aufmerksam geworden. Dies ist eine Einrichtung des Außenministeriums der Republik Polen und dient u. a. dem kulturellen Austausch zwischen Polen und Deutschland. Auch werden historische Themen aufgegriffen. In einem Schreiben an das Institut schilderte ich kurz meine Situation und den Sachverhalt. Wenig später folgten meine Frau und ich einer Einladung nach Düsseldorf. In einem ausführlichen Gespräch mit einem Mitarbeiter des Institutes, bekamen wir den Hinweis, dass der Präsident der Republik Polen, Andrzej Duda, die polnische Staatsbürgerschaft verleihen kann. Am 23. Mai 2019 hatte ich einen Termin im polnischen Konsulat Köln. Dort trug ich mein Anliegen vor und reichte einen Antrag auf Verleihung der polnischen Staatsbürgerschaft durch den Präsidenten ein. Dem Antrag beigefügt war eine ausführliche Begründung meines Wunsches.

Eine Antwort gab es bisher nicht, das Konsulat teilte mir auf Anfrage in der vergangen Woche mit, dass es in solch einem Fall keine Fristen gibt und niemand sagen kann, wann eine Antwort zu erwarten ist. Mein Schicksal liegt abermals in den Händen Warschaus …

 

Patrick Barteit, Dezember 2020

Mediathek
  • Geburtsurkunde von Józef Tomczak

    Geburtsurkunde von Józef Tomczak
  • Im Haus der Familie Tomczak/Galewsky, 1920er Jahre

    Die Familien Galewsky, Kobuczyński, Jankowiak, Vinc und Tomczak im Haus der Familie Tomczak/Galewsky in der Ziegelstr. 63b, Osterfeld 1920er Jahre
  • Maria Galewska, 1920er Jahre

    Maria Galewska, 1920er Jahre
  • Stanisław Tomczak (Bruder von Józef Tomczak), 1925

    Stanisław Tomczak (Bruder von Józef Tomczak), 1925
  • Jan Józef Tomczak (Sohn von Józef Tomczak), 1926

    Jan Józef Tomczak (Sohn von Józef Tomczak), 1926
  • Vor dem Haus der Familie Tomasz/Galewsky, Osterfeld 1929

    Hochzeit von Helena Galewski: Die Familien Tomczak, Galewsky, Jankowiak und Kobuczyński vor dem Haus der Familie Tomasz/Galewsky, Ziegelstr. 63b, Osterfeld 1929
  • Hochzeitsgesellschaft im Hof der Familie Tomczak/Galewsky, Osterfeld 1929

    Hochzeit von Helena Galewsky: Die Familien Tomczak, Galewsky, Jankowiak und Kobuczyński vor dem Haus der Familie Tomasz/Galewsky, Ziegelstr. 63b, Osterfeld 1929
  • Familienfoto, Osterfeld 1930

    Die Familien Galewsky, Vince, Tomczak, Jankowiak, Kobuczyński und Biały im Haus der Familie Tomczak/Galewsky in der Ziegelstr. 63b, Osterfeld 1930
  • Henriette Tomczak (Tochter von Józef Tomczak), 1930er Jahre

    Henriette Tomczak (Tochter von Józef Tomczak), Osterfeld 1930er Jahre
  • Henriette Tomczak, 1930er Jahre

    Henriette Tomczak, 1930er Jahre
  • Henriette Tomczak auf dem Motorrad von Antoni Jankowiak

    Henriette Tomczak auf dem Motorrad von Antoni Jankowiak in der Mellinghofer Str. Oberhausen, 1940er Jahre
  • Józef Tomczak in seinem Wohnzimmer, 1940er Jahre

    Józef Tomczak in seinem Wohnzimmer, 1940er Jahre
  • Hochzeit von Henriette Tomczak und Heinz Mlinski, 1945

    Hochzeitsfoto von Henriette Tomczak und Heinz Mlinski im Haus der Familie Mlinski in der Kapitän-Lehmann-Str. 13, Bottrop 31.12.1945.
  • Józef Tomczak mit Urenkel Patrick Barteit, Osterfeld 1975

    Józef Tomczak mit Urenkel Patrick Barteit in seinem Garten in der Osterfelder Str. 147, Osterfeld 1975
  • Hinterhof Siedlung Stemmersberg in der Ziegelstraße, Osterfeld 2018

    Hinterhof Siedlung Stemmersberg in der Ziegelstraße, Osterfeld 2018
  • Patrick Barteit vor dem Stammhaus Tomczak/Galewsky, Osterfeld 2018

    Patrick Barteit vor dem Stammhaus der Familie Tomczak/Galewsky in der Ziegelstr. 63b, Osterfeld 2018
  • Patrick Barteit vor dem Stammhaus Tomczak/Galewsky, Osterfeld 2018

    Patrick Barteit vor dem Stammhaus der Familie Tomczak/Galewsky in der Ziegelstr. 63b, Osterfeld 2018
  • Patrick Barteit vor der ehemaligen Zeche Osterfeld, Osterfeld 2018

    Patrick Barteit vor dem Eingangstor der ehemaligen Zeche Osterfeld, Osterfeld 2018
  • Auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Osterfeld, Osterfeld 2018

    Patrick Barteit auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Osterfeld, Osterfeld 2018
  • Geburtshaus von Józef Tomczak

    Geburtshaus von Józef Tomczak in Orkowo (2019)
  • Geburtshaus/Hof der Ur-Ur-Großmutter von Patrick Barteit Stanisława Tomczak

    Geburtshaus/Hof der Ur-Ur-Großmutter von Patrick Barteit Stanisława Tomczak (z.d. Bratkowska) in Binkowo (Śrem); v.r. Patrick Barteit und sein Cousin Krzysztof Budzyn, 2018
  • Alte Scheune der Familie Tomczak/Pawlisiak in Orkowo, Bj. 1907.

    V.l. Patrick Barteit mit Tochter Lili-Marleen, Onkel Edward Pawlisiak, Cousin Krzysztof Budzyn mit Dominika. 
  • Patrick Barteit am Ortseingang Orkowo

    Patrick Barteit am Ortseingang Orkowo, 2019