Tadeusz Kantor in Nürnberg

Auf dem Bild Tadeusz Kantor bei der Premiere von “Die Künstler sollen krepieren” in Nürnberg am 2.Juni 1985.
Tadeusz Kantor war bei seinen Theateraufführungen stets mit den Schauspielern auf der Bühne. Manchmal gab er noch Hinweise, rückte noch schnell einen Gegenstand im Bühnenbild zurecht oder saß einfach nur auf einem Stuhl an der Seite und schaute zu.

Im Herbst 1955 gründete er zusammen mit Maria Jerema und Kazimierz Mikulski das Theater “Teatr Cricot 2“ (angelehnt an die in Krakau von 1933 bis 1939 agierende Theatergruppe “Teatr Artystów Cricot”), das im Prinzip die Arbeit von Kantors “Teatr Niezależny“ fortsetzte. Mit Cricot 2 inszenierte Kantor: “Mątwa“ (Tintenfisch, 1956), “W małym dworku“ (Im kleinen Landhaus, 1961), “Wariat i zakonninca“ (Der Narr und die Nonne, 1963) “Kurka Wodna” (Das Wasserhuhn, 1967), “Szewcy” (Die Schuster, 1972) “Nadobnisie i koczkodany” (Grazien und Vogelscheuchen, 1973), “Umarła klasa” (Die tote Klasse, 1975), “Wielopole, Wielopole” (1980), “Niech sczezną artyści” (Die Künstler sollen krepieren, 1985), “Nigdy tu już nie powrócę” (Ich kehre hier niemals zurück, 1988), “Dziś są moje urodziny” (Heute ist mein Geburtstag, 1991). Spätestens seit “Umarła klasa“ war Cricot 2 aus der Geschichte des Theaters nicht mehr wegzudenken. Es folgten internationale Tourneen, Preise und Auszeichnungen. Tadeusz Kantor wurde mit seinem Ensemble zum Erneuerer des europäischen Theaters der Nachkriegszeit. Er arbeitete bis zum Schluss auf der Bühne. Am 8. Dezember 1990 stirbt Tadeusz Kantor in Krakau.

Dass Tadeusz Kantor zu einem der bedeutendsten Künstler seiner Zeit werden würde, ahnt der Bankier und Kunstmäzen Karl Gerhard Schmidt bereits 1977 und er weiß es mit Sicherheit spätestens 1985, als er Tadeusz Kantor mit dem Stück “Die Künstler sollen krepieren“ nach Nürnberg holt. Ende April 1985 reist die Gruppe nach Nürnberg, um die in Krakau angefangenen Proben zusammen mit italienischen Schauspielern fortzusetzen. Die Proben gestalten sich nicht einfach, Kantor ist launisch, mal unhöflich, mal zuvorkommend. Barbara Ziegler, die für den organisatorischen Teil des Aufenthalts von Kantor und Teatr Cricot 2 zuständig war, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Doch Schmidt springt ein und meistert die Situation mit Bravour und einem Trick. Zu den Proben kommt er mit seiner Ehefrau, wohlwissend, dass sich der Gentleman der alten Schule, Tadeusz Kantor, bei ihrer Anwesenheit ruhiger verhalten wird. Die Premiere findet wie geplant am 2. Juni 1985 statt. Im Mittelpunkt des Stückes stehen die Vergänglichkeit, das Sterben, der Tod und die Rituale nach dem Tod. Wie bei den anderen Werken von Tadeusz Kantor gibt es auch hier keine richtige Handlung. Es sind alte Bilder, vergilbte Fotografien, verschwommene Erinnerungsfetzen, große historische Ereignisse und das kleine Leben in Hinterhöfen, die das Gerüst und die Grundlage für das Universelle bilden.

Im Zentrum der Kantorschen Idee steht auch hier das “Zimmer“, diesmal auf einem Friedhof, auf dem die fast vergessenen Toten wie in einem spirituellen Akt auferstehen. Es gibt einen kränklichen sechsjährigen Jungen, eine groteske Armee von Offizieren, die wie Zinnsoldaten anmuten, einen General auf einem Pferdeskelett, für Kantor typische Figuren “niedriger Art” wie den “Kartenspieler”, die “Prostituierte”, den “Erhängten”, den “Gefängniswärter”, die “Tellerwäscherin”, die “Prüde” und den “Schmutzfink”, die immer wieder in der Kantorschen Kunst auftauchen. Dazwischen agiert Veit Stoß, einer der berühmtesten Künstler des Mittelalters (geb. um 1447 in Horb am Neckar, gest. 1533 in Nürnberg), eine der wichtigen künstlerischen Bezugspersonen für Kantor. Es ist ein Kantorsches Spektakel, in dem das Leben des großen Künstlers, der Tod und die Vergänglichkeit sich in einer scheinbar nie endenden Revue offenbaren.

Die speziell für das Teatr Cricot 2 umfunktionierte Industriehalle der Alten Gießerei Kabelmetal in Nürnberg ist an dem Abend der Premiere am 2. Juni 1985 und an den folgenden fünf Vorstellungen ausverkauft. Es ist ein voller Erfolg für Tadeusz Kantor und für die Nürnberger Theaterwelt (der Applaus dauerte 15 Minuten lang). Das Institut für Zeitgenössische Kunst und der dazugehörige Verlag geben daraufhin reichlich bebilderte Bücher zum Aufenthalt Tadeusz Kantors in Nürnberg und zu seiner Kunst heraus. Darunter auch der bis dahin umfangreichste Sammelband Kantors theoretischer Texte “Ein Reisender. Seine Texte und Manifeste“. Karl Gerhard Schmidt kann sich bis heute als Besitzer zahlreicher Kunstwerke von Tadeusz Kantor glücklich schätzen. Seine private Sammlung befindet sich in Nürnberg.

 

Adam Gusowski, April 2015

 

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  • “Die Künstler sollen krepieren”

    Tadeusz Kantor bei den Arbeiten an dem Stück “Die Künstler sollen krepieren”, Mai 1985.
  • Premiere

    Eine Szene aus dem Stück “Die Künstler sollen krepieren” von Tadeusz Kantor. Die Premiere war am 2. Juni in Nürnberg.
  • “Die Künstler sollen krepieren”

    Eine Szene aus dem Stück “Die Künstler sollen krepieren” von Tadeusz Kantor. Das Foto entstand bei der Premiere am 2. Juni 1985 in Nürnberg.
  • “Die Künstler sollen krepieren”

    Eine Szene aus dem Theaterstück “Die Künstler sollen krepieren” von Tadeusz Kantor. Das Foto entstand bei der Premiere am 2. Juni 1985 in Nürnberg.
  • Tadeusz Kantor

    Tadeusz Kantor mit seinem Cricot 2 bei den Arbeiten an dem Stück “Die Künstler sollen krepieren” in Nürnberg. Mai 1985.
  • “Die Künstler sollen krepieren”

    Eine Szene aus dem Stück “Die Künstler sollen krepieren” von Tadeusz Kantor. Das Foto entstand bei der Premiere am 2. Juni 1985 in Nürnberg.
  • Tadeusz Kantor als Taktgeber

    Tadeusz Kantor als Taktgeber. Der Künstler und Regisseur war ein Perfektionist und verlangte stets die perfekte Umsetzung seiner Ideen. Manchmal musste er auch etwas vormachen.
  • Tadeusz Kantor in Nürnberg - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku"

    In Zusammenarbeit mit "COSMO Radio po polsku" präsentieren wir Hörspiele zu ausgewählten Themen unseres Portals.