Vom Sokół-Verein zu Dariusz Wosz – Polnischer Sport in Bochum

Im Bochumer Ruhrstadion springt der Berliner Niko Kovac während der Fußball-Zweitliga-Begegnung VFL Bochum gegen Hertha BSC Berlin über den Bochumer Andrzej Rudy, rechts der Bochumer Kapitän Dariusz Wosz, 1996.
Für den VfL Bochum auf dem Platz: Andrzej Rudy und Kapitän Dariusz Wosz, 1996

Bochum war das organisatorische Zentrum jener polnischsprachigen[1] Migration ins Ruhrgebiet, die das lange 19. Jahrhundert im Industriegebiet charakterisierte und das Revier als großen Migrationsraum und polnischen „ethnoscape“, einen Erfahrungsraum im Migrationsprozess, konstruiert hat. Die Stadt wurde zum Kern der Selbstorganisation einer „Polenbewegung“[2], die versuchte den Prozess der Zuwanderung und der Etablierung neuer sozialer Strukturen und Identitäten zu begleiten, zu moderieren und politisch zu artikulieren. Hunderttausende polnischsprachige Menschen und Masuren[3] aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches wanderten vor dem Ersten Weltkrieg ins Revier ein und bildeten vor 1914 eine Wohnbevölkerung von geschätzt 500.000 Menschen, einschließlich Masuren[4]. Die polnischen Eingewanderten lebten bald in ethnischen Wohnkolonien, die das Gesicht der Städte veränderten. Sie entwickelten ein differenziertes Vereinswesen mit 875 Vereinen, in denen über 80.000 Migrantinnen und Migranten organisiert waren, und gründeten eine polnische Gewerkschaft mit Sitz in Bochum sowie ein eigenes, polnischsprachiges Pressewesen. In Bochum waren Redaktion und Druckerei der größten polnischen Tageszeitung „Wiarus Polski“ (deutsch „Polnischer Kumpel“) ansässig, die mit einer Auflage zwischen 10.000 und 12.000 Exemplaren von Jan Brejski herausgegeben wurde, dem Reichstagsabgeordneten und wirkungsmächtigen Politiker im Ruhrgebiet. Brejski verkörperte als Politiker, Gewerkschaftler und Mitglied in zahlreichen polnischen Vereinen in Personalunion die „Polenbewegung“. In der Klosterstraße (heute Am Kortländer) in Bochum befand sich auch die Zentrale des Bundes der Polen in Deutschland e. V.[5]

Zur Selbstorganisation der polnischen Zugewanderten gehörten bald auch Turnvereine, die als Symbol des Mutes und der Kühnheit den Falken (poln. „sokół“) im Wappen trugen, die so genannten Sokół-Vereine. Sie waren mit ihren Umzügen, Turnfesten und ihrem Vereinsleben ein maßgeblicher Teil des Alltags der polnischen Community, machten sie nach außen sichtbar und stellten mit ihren Verbindungen zur Posener polnischen Zentrale des Sokół-Verbandes (Związek Sokołów Polskich w Państwie Niemieckim/Polnischer Sokół-Verband im Deutschen Reich) und der nationalpolnischen Orientierung eine Provokation für die Germanisierungsbemühungen der preußisch-deutschen Politik dar[6]. Die Vereine wurden deshalb mit Argusaugen von der ebenfalls in Bochum etablierten Polenüberwachungsstelle observiert.

Obwohl die Sokół-Vereine nach den religiösen Organisationen quantitativ mit 117 Verbindungen vor dem Ersten Weltkrieg die zweitgrößte Vereinigung im polnischen Vereinsgefüge des Ruhrgebiets[7] darstellten, sind sie von der Geschichtsschreibung stiefmütterlich behandelt worden. Der bildungsbürgerliche Blick der Historikerzunft in der Bundesrepublik hat den sportlichen Freizeitaktivitäten lange wenig Bedeutung beigemessen, in der Geschichtswissenschaft der Volksrepublik Polen war die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verband eben wegen der bürgerlichen Dominanz in der Posener Zentrale und der nationalistischen Orientierung verpönt bzw. untersagt.[8] 

 

[1] Zwischen 1772 und 1795 wurde der polnische Staat von den Großmächten Preußen, Österreich und Russland annektiert und in drei Teile (Teilgebiete) aufgeteilt. Polen verschwand bis 1918 von der Landkarte. Die Begriffe „polnisch“ bzw. „Polen“ müssen in diesem Kontext begriffen werden.

[2] Vgl. Schade, Wulf, Kużnia Bochumska – die Bochumer (Kader-)schmiede. Bochum als Zentrum der Polenbewegung (1871-1914), in: Bochumer Zeitpunkte, 17 (2004), S. 3-21 (https://www.kortumgesellschaft.de/tl_files/kortumgesellschaft/content/download-ocr/zeitpunkte/Zeitpunkte-17-2005OCR.pdf, Zugriff am 27.12.2020). 

[3] Die häufig mit den Polen verwechselten Masuren stellen ein Sonderproblem dar, das hier nicht weiter verfolgt werden kann. Die ethnische Gruppe, die hauptsächlich aus den ostpreußischen Kreisen Ortelsburg, Neidenburg und Allenstein stammte, war ein Amalgam aus einer Mehrheitsethnie von Polen, assimilierten Deutschen, Hugenotten, Schotten und Salzburgern. Sie sprachen einen altpolnischen, bäuerlichen Dialekt, waren evangelisch und traditionell preußenfreundlich eingestellt. Zur Geschichte Masurens und der Masuren vgl. Kossert, Andreas, Masuren: Ostpreußens vergessener Süden, Berlin 2001.

[4] Für die Unschärfe der Zahlen und ihre Diskussion vgl. Bleidick, Dietmar, Bochum, das institutionelle Zentrum der Polen in Deutschland, in: Bochumer Zeitpunkte 33(2015), S. 3-9, hier S. 3. https://www.kortumgesellschaft.de/tl_files/kortumgesellschaft/content/download-ocr/zeitpunkte/Zeitpunkte-33-2015OCR.pdf, Zugriff am 27.12.2020).

[5] Über die Bedeutung Bochums für die polnischsprachigen Zugewanderter vgl. weiter Bleidick 2015.

[6] Eine ausführliche Darstellung der Geschichte dieser Organisation, ihrer sozialen und politischen Funktion für die Migranten im Industrierevier im Kontext der sozialhistorischen Entwicklung bei Blecking, Diethelm, Sport, Fußball und Migration im Kohlerevier. Polnische Migranten im Ruhrgebiet und in Nordfrankreich, in: Hüser, Dietmar/Baumann, Ansbert (Hg.), Migration/Integration/Exklusion. Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren, Tübingen 2020, S. 83-111.

[7] Zum Vereinsgefüge Blecking, Diethelm, Polen/Türken/Sozialisten. Sport und soziale Bewegungen in Deutschland, Münster 2001, S. 54.

[8] Zu dieser administrativen Konstruktion von Geschichte in Volkspolen vgl. Blecking, Diethelm, Die Geschichte der nationalpolnischen Turnorganisation „Sokół“ im Deutschen Reich 1884-1939, Münster (2. Auflage) 1990, S. 23.

In Bochum firmierten nationalpolnische Aktivisten wie der genannte Jan Brejski und der Redakteur des „Wiarus“ Stanisław Kunca als Mitglieder des Sokół-Vereins. Seit 1899 sind die Turnvereinigungen im Ruhrgebiet aktiv. Eine zunehmende „Konfliktdisposition“ zwischen den polnischen Bergleuten und der Administration, die in diesem Jahr zu den blutigen „Herner Krawallen“ geführt hatte, motivierte die polnische Community zur Schließung einer Lücke in ihrem Organisationsgefüge.[9] Sie wurden Teil des Verbandes, der in Westpreußen und Schlesien, in Berlin und im Ruhrgebiet, bis hin nach Norddeutschland Vereine organisierte und im nationalpolnischen Sinne mobilisierte. Fünf Gaue waren in Rheinland-Westfalen angesiedelt. Die Klubs in Bochum gehörten zum rheinisch-westfälischen Gau, die Wattenscheider Vereine zum rheinischen Gau, der seinen Sitz in Wattenscheid hatte, Langendreer und Gerthe zum westfälischen Gau. In den heutigen Bochumer Stadtgrenzen befanden sich um 1910 damit 12 polnische Sokół-Vereine: Bochum, Altbochum, Wiemelhausen, Riemke, Bochum-Grumme, Bochum IV, Bochum VII[10], Wattenscheid, Linden-Dahlhausen, Weitmar, Langendreer, Gerthe. Neben einem Turnbetrieb, der an den Prinzipien des deutschen Turnens orientiert war, intendierten die polnischen Turner, Aktivitäten im Sinne polnisch-nationalkultureller Bildung zu fördern. Ungefähr 450 Mitglieder waren in den 12 Klubs gemeldet, wobei die Zahl der Aktiven zwischen 50 % und 70 % niedriger war. Das Bekenntnis zur Organisation war wie bei den deutschen Turnern des Vormärz und der 48er-Revolution häufig ein Ausweis nationalpolitischer Gesinnung, nicht immer unbedingt des Willens zur körperlichen Ertüchtigung. Weibliche Mitglieder waren in keinem der Vereine organisiert und nur der Wattenscheider Sokół-Verein turnte in einer Turnhalle.[11] Ähnlich wie die sozialistischen Arbeitersportler hatten die polnischsprachigen Einwanderer im Wilhelminischen Klassenstaat wenig Zugang zu städtischen Ressourcen. Die Zugewanderten waren in der großen Mehrheit männlich. Das preußische Vereinsgesetz von 1850, das erst 1908 vom Reichsvereinsgesetz abgelöst wurde, verbot Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und als solche galten die Sokół-Organisationen. Nach 1908 war die Mitgliedschaft von Frauen prinzipiell erlaubt, aber die nationalkatholische, konservative Struktur der polnischen Community behinderte weiter ihre Aktivitäten. Hier beförderten sich preußische Repression, demographische Struktur der Wanderung und konservativer Katholizismus beim Konstruieren frauenfreier Räume.[12] Da die Organisationen als „politisch“ auch im Sinne des Reichsvereinsgesetzes von 1908 galten, war ihnen die Organisierung des Jugendturnens verboten. Ein Hindernis, das die Mobilisierungs- und Rekrutierungsmöglichkeiten der Sokół-Vereine stark einschränkte.

Der sportliche Betrieb der Sokół-Organisationen war auf das genannte deutsche Turnen, selten Leichtathletik und Gruppengymnastik beschränkt. Die Gruppenübungen wurden von der Zentrale vorgegeben und häufig mit patriotischer Musik unterlegt, was wichtig für die Organisierung von Festen und Umzügen war. Spielerische Aktivitäten, wie z. B. Fußball fanden praktisch nicht statt. Wettbewerbe mit deutschen Vereinen waren ausgeschlossen. Die Sokół-Vereine waren sozialpsychologisch Rückzugsraum und gleichzeitig Mobilisierungsmittel für die von Akkulturationsproblemen und Desintegrationstendenzen betroffene Community der Migranten.

Die Furcht vor antideutschen, nationalpolitischen Aktivitäten der Sokół-Turner, die die Behörden umtrieben, führten immer wieder zu Verboten von öffentlichen Aktivitäten, sodass die Gaue zeitweilig ihre Gau-Treffen, den sogenannten „zlot“, der den Zusammenflug der Falken semantisch markierte, im holländischen Winterswijk abhielten. Trotz einiger verbalradikaler Statements von Sokół-Funktionären in amerikanischen Zeitungen, erwiesen sich jedoch diese Befürchtungen der Illoyalität als haltlos. Der Ernstfall trat mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges ein. Im Februar 1917, drei Jahre nach Kriegsausbruch fasste der rheinisch-westfälische Gau, zu dem die Mehrzahl der Bochumer Vereine gehörte, in einer Eingabe an den Bochumer Polizeipräsidenten die Lage wie folgt zusammen: „Der X. Gau der poln. Turnvereine hierselbst zählten zu Anfang des Krieges etwa 1.800 Mitglieder. Sofort zu Anfang des Krieges wurden nach den uns vorliegenden statistischen Zusammenstellungen 1.152 Mitglieder zu den Fahnen gerufen.“ Und weiter über den Preis für diese Loyalität gegenüber Preußen und dem Deutschen Reich: „Bis dahin (also bis 1917, D.B.) starben 142 den Heldentod und 91 polnische Turner unseres Gaues besitzen das Eiserne Kreuz. Alle haben ihre militärischen Pflichten mit Hingabe und treu erfüllt, wovon auch die vielen Beförderungen zu Unteroffizieren zeugen. Die turnerische Vorbereitung in unseren Vereinen kam ihnen bei der Ertragung der Kriegsstrapazen sehr zu statten.“[13]

 

[9] Blecking, 2001, S. 43-44.

[10] Die merkwürdige Zählung ist wohl der Tatsache geschuldet, dass sich gerade in der ersten Phase der Etablierung des Sokół im Revier Vereine schnell wieder auflösten.

[11] Statistische Daten zu den Sokół-Vereinen in Bochum bei Blecking, 1990, S. 231-233.

[12] Hier muss daran erinnert werden, dass auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) bis 1970 ein frauenfreier Raum war.

[13] Zitiert nach Blecking, 1990, S. 176-177.

Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg führte im Revier für die polnische Gemeinschaft zu einer völlig veränderten Situation. Die Gründung eines polnischen Nationalstaates im November 1918 veränderte nach dem Ende des Krieges den Spielraum der polnischen Minderheit: Durch Abwanderungen nach Polen, nach Nordfrankreich und Belgien, kam es zu einer Halbierung ihrer Zahl bis 1929. Gleichzeitig war die nationalpolnische Orientierung keine angemessene politische Option mehr. Der Sport, eben auch der Fußballsport, hielt jetzt Einzug in die Turnorganisation. In der Saison 1920/21 wurde bereits in 52 Vereinen Fußball gespielt. Am 18. Dezember 1921 wurde in Recklinghausen das erste Endspiel um die Fußballmeisterschaft der Sokółn ausgetragen, Castrop gewann gegen den Bochumer Sokół-Verein Linden 3:2.[14] Im Januar 1927 zogen die polnischen Sportler eine Konsequenz aus dieser politischen Situation und strichen die Wörter „polnisch“ und „Sokół“ aus dem Verbandsnamen. Die Organisation firmierte jetzt unter dem Etikett „Verband der Turn- und Sportvereine aus Westfalen und dem Rheinlande“ und trug Spiele mit deutschen Klubs aus.[15]

Die Integration in die deutsche Gesellschaft bis hin zur Assimilation erschien vielen Menschen in der Community nun als rationale und vernünftige Wahl. Die Mitgliedschaft im Fußballverein war gerade im Revier eine praktische Handlungsmöglichkeit. In der Meisterschaftsrunde 1937/38 standen in den Gauligen Westfalen und Niederrhein 68 Spieler mit polnischen Namenswurzeln in den Teams.[16] Der Zivilisationsbruch durch die Herrschaft des Nationalsozialismus bedeutete jedoch bald das Ende des organisierten polnischen Sports und der polnischen Organisationen in ganz Deutschland. Im Sommer 1939 wurden ihre Räume in der Klosterstaße in Bochum besetzt und das Vermögen beschlagnahmt[17], die endgültige Liquidierung wurde bezeichnenderweise durch eine Verordnung des „Ministerrates für die Reichsverteidigung“ am 27.2.1940 geregelt[18]. Funktionäre, auch aus Bochum, wurden während des Krieges ermordet oder kamen im KZ um.[19]

Die deutschen Nationalspieler aus dem Ruhrgebiet mit polnisch klingenden Namen waren dann nach dem Zweiten Weltkrieg ohne jede wirkliche Erinnerung an historische Vorgänge Teil der sportjournalistischen Fußball-Folklore und anekdotischer Geschichten. Die Geschichte von Segregation und Integration, für die auch die historische Realität des polnischen Sports in Bochum steht, wurde fragmentiert und unsystematisch zum Kapitel eines beschönigenden Narrativs, das von einem konfliktfreien Zusammenleben von Migranten und ansässiger Bevölkerung beim gemeinsamen Fußballspiel ausging. In dieser harmonisierten Form geriet die Geschichte der polnischen Minderheit auch in den politischen Diskurs.[20]

Eine neue Phase in der Beteiligung polnischer Spieler am Bochumer Fußball und am Ruhrgebietsfußball läutete dann die verspätete Einführung des professionellen Fußballs und die Gründung der Bundesliga in der Saison 1963/64 ein. Teil dieser dringend notwendigen Modernisierung des deutschen Fußballs war auch die Aufhebung des Verbots für den Frauenfußball im Jahre 1970. Bereits seit den 1950er Jahren hatten Frauen im Revier im Sinne des DFB nicht „legale“ Vereine, Spiele, ja sogar eine „Nationalmannschaft“ organisiert. Darunter Frauen aus masurischen und polnischen Zuwandererfamilien wie Brunhilde Zawatzky aus Dortmund und Lore Karlowski aus Essen.[21] Jetzt konnte tatsächlich jede und jeder, der Talent besaß, mitmachen. Anfang der 1970er Jahre war deshalb der Arbeiteranteil unter den deutschen Elitefußballern zum ersten Mal so hoch wie ihr Anteil in der Gesellschaft[22], der Mythos vom „Arbeitersport“ Fußball wurde zumindest partiell eingelöst. Der bezahlte Fußball machte es möglich. Gleichzeitig wurde der deutsche Markt attraktiv für ausländische Profis, damit auch für polnische Spieler. Seit Ende der 1980er Jahre erteilte der polnische Staat Freigaben für eine Karriere im Westen, einige Athleten setzten sich auch ohne diese Freigabe bei Auslandsaufenthalten in den Westen ab.

 

[14] Blecking, 1990, S. 195.

[15] Blecking, 1990, S. 197.

[16] Vgl. für diese Phase Blecking, Diethelm, Aus dem Pütt in die Profiliga. Polen und Masuren im Ruhrgebietsfußball (https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/aus-dem-puett-die-profiliga-polen-und-masuren-im-ruhrgebietsfussball, Zugriff am 26.12.2020)

[17] Schade, Wulf, Verkrüppelte Identität. Polnische und masurische Zuwanderung in der Bochumer Geschichtsschreibung, in: Bochumer Zeitpunkte 23 (2009), S. 25-51, hier S. 34 (https://www.kortumgesellschaft.de/tl_files/kortumgesellschaft/content/download-ocr/zeitpunkte/Zeitpunkte-23-2009OCR.pdf, Zugriff am 27.12.2020).

[18] Blecking, 1990, S. 207, Anm. 3.

[19] Schade, 2009, S. 33-34.

[20] Positive Bestimmungen des Sports als Vehikel der Integration mit Rekurs auf das „Vorbild“ der „Ruhrpolen“ finden sich bei Helmut Schmidt als Kanzler, Wolfgang Schäuble als Innenminister und Johannes Rau als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Siehe Diethelm Blecking, „Sport and Immigration in Germany“, in: The International Journal of the History of Sport, Vol. 25(2008), S. 955-973, hier S. 956 und S. 967, Anm. 10.

[21] Vgl. mit weiterer Literatur Blecking, Diethelm, Die Nummer 10 mit Migrationshintergrund. Fußball und Zuwanderung im Ruhrgebiet, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-3(2019), S. 24-29, hier S. 28-29 (https://www.bpb.de/apuz/283266/fussball-und-zuwanderung-im-ruhrgebiet?p=all, Zugriff am 29.12.2020).

[22] Eisenberg, Christiane, „Deutschland“, in: Eisenberg, Christiane (Hg.), Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München 1997, S. 115-116.

Für den VfL Bochum traten in den Bundesligajahren seit 1963 neun polnische Athleten an. Wohl nicht von ungefähr kamen mit Andrzej Iwan (1987-1989), Tomasz Waldoch (1994-1999) und Henryk Bałuszyński (1994-1998) drei der ersten vier polnischen Spieler aus Zabrze (Hindenburg), dem Zentrum des Oberschlesischen Bergbaugebietes nach Bochum. Ihr Klub Górnik Zabrze trägt stolz den „Górnik“ (deutsch „Bergmann“) im Namen.[23] Für die Fans waren dies Spieler für den „Pott“ mit Malocherimage und „Kohle in der DNA“, denn der Aufstieg von „Górnik“ hing in Schlesien eng mit der Kohleindustrie zusammen.[24] Waldoch, später mit Schalke 04 zweifacher DFB-Pokalsieger, und Bałuszyński spielten in der Zeit des größten Erfolges, als die Bochumer 1997 in der Abschlusstabelle der Bundesliga auf dem 5. Platz landeten und einen Platz im UEFA-Pokal erreichten. Gegen Trabzonspor schoss der früh verstorbene Bałuszyński das erste Bochumer UEFA-Cup Tor überhaupt. Zu den ersten Polen im Bochumer Dress zählte auch Maciej Śliwowski (1990/91). Danach kamen Andrzej Rudy (1995/96), der sich noch „illegal“ 1988 in den Westen abgesetzt hatte und den Udo Lattek „den polnischen Beckenbauer“ nannte[25], dann Jacek Ratajczak (1998-2000), Thomas Zdebel (2003-2009), Marcin Mięcel (2007-2009), Piotr Ćwielong (2013-2016) und Paweł Dawidowicz (2016/2017).[26]

Die Bochumer Ikone Dariusz Wosz, der von 1992-1998 und von 2001-2007 für den VfL spielte und 41 Tore erzielte, ist trotz seines sarmatischen Namens kein „authentischer“ Pole, sondern Spross der deutschen Minderheit aus Schlesien, der als Übersiedler nach Halle und in die DDR-Nationalmannschaft, im Kontext der Vereinigung schließlich nach Bochum und noch zu 17 Einsätzen in der bundesdeutschen Nationalmannschaft kam.[27] Wosz ist beim Bochumer Verein derzeit weiter in verschiedenen Funktionen tätig.[28]

Beim zweiten Bundesliga-Verein im Bochumer Stadtgebiet, der SG Wattenscheid 09, wurde Marek Leśniak als Goalgetter der Jahre 1992-1995 mit 25 Toren eine ähnliche Legende. Leśniak war 1988 der jüngste Spieler, der von der polnischen Administration für einen Profiauftritt im Westen freigegeben wurde. Der Staat brauchte dringend Devisen.[29] Im Jahr 2010 kehrte er als Trainer für wenige Monate zurück. Andere Verpflichtungen aus Polen waren Mirosław Giruc (1994/95), Michał Probierz (1995-1997) und Krzysztof Kasak (2013/2014).[30]

Die Geschichte des polnischen Sports in Bochum und Wattenscheid spiegelt so, wie im ganzen Ruhrgebiet, die Geschichte der polnischen und der masurischen Migration, damit die Identitätsprobleme der Migrantinnen und Migranten, die sich häufig erst in Rheinland-Westfalen durch Fremd- und dann durch Selbstzuschreibung als Polen definierten. Sie machten sich über drei Generationen, schwer getroffen von säkularen Katastrophen, wie den zwei Weltkriegen und der zutiefst polenfeindlichen Nazidiktatur, auf einen konfliktreichen Weg zu einem Leben in Deutschland. Im Prozess der Aussiedlerpolitik und der Globalisierung des Elitefußballs kamen dann in Polen gebürtige Athleten aus der deutschen Minderheit wie z. B. Dariusz Wosz, aber nach der politischen Wende in der Mehrheit polnische Spieler, als Professionals nach Deutschland. Wie die Bochumer Profis Tomasz Waldoch und Henryk Bałuszyński, beförderten sie die Mythen des Ruhrgebietsfußballs[31], der von der Beziehung zwischen regionalen Identitätsentwürfen und dem Rasensport mit seinen leibhaftigen Protagonisten lebt.[32] Heute sind in der Bundesrepublik nach Schätzungen ca. 2 Millionen Menschen mit polnischer Familienbiographie ansässig, das sind etwa 2,5 % der Bevölkerung.[33] Die Geschichte der Zuwanderung, aber auch die Sportgeschichte der Zugewanderten[34] ist ein elementarer, prägender Teil der deutschen Geschichte und der Bochumer Stadtgeschichte geworden[35].

 

Diethelm Blecking, Januar 2021

 

[23] Der erste polnische Spieler in der Bundesliga, Piotr Słomiany, der von 1967-1970 für Schalke spielte, wechselte auch von „Górnik“ ins Revier. (https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/aus-dem-puett-die-profiliga-polen-und-masuren-im-ruhrgebietsfussball, Zugriff am 26.12.2020). 

[24] Über Fußball in Schlesien und Górnik Zabrze siehe Radoslaw Zak, Der Fluch des schwarzen Goldes, in: Ballesterer Fußballmagazin 149 (2020), S. 17-21.

[25] Urban, Thomas, Schwarze Adler/Weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik, Göttingen 2011, S. 154, weitere Informationen über seine auch für den Boulevard interessante Karriere im Westen S. 153-157.

[26] https://www.weltfussball.de/teams/vfl-bochum/10/.

[27] Über Wosz siehe Urban, 2011, S. 161-163.

[28] https://www.vfl-bochum.de/news/uebersicht/verein/alles-gute-dariusz-wosz/ (Zugriff am 27.12.2020).

[29] Vgl. Urban, 2011, S. 152.

[30] https://www.weltfussball.de/teams/sg-wattenscheid-09/10/.

[31] Zum Mythos Ruhrgebiet und der Rolle des Fußballs siehe das Interview mit Diethelm Blecking, in: Ballesterer Fußballmagazin 149 (2020), S. 29-31 und Blecking 2019, S. 29.

[32] Vgl. Stefan Goch, Zwischen Mythos und Selbstinszenierung: Fußball im Ruhrgebiet und das Image der Region, in: Westfälische Forschungen 2013, S. 103-118.

[33] Vgl. zu dieser kaum wahrgenommenen Evidenz und zu einer Gesamtgeschichte dieser großen Bevölkerungsgruppe Loew, Peter Oliver, Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland, München 2014.

[34] Nützlich zur Einführung in die Zusammenhänge von Migration und Fußball ist der Begleitkatalog zu einer Ausstellung des LWL-Industriemuseums im Jahre 2015: LWL-Industriemuseum (Hg.), Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet, Essen 2015.

[35] Schade, 2009, weist allerdings, was die Bochumer Stadtgeschichte angeht, auf die Defizite in der Geschichtsschreibung und Geschichtsvermittlung hin. Er erkennt in diesem Kontext weiter bestehende Stereotypen und sieht „die Darstellung der masurischen und polnischen Einwanderung bis auf sehr wenige Ausnahmen durch Weglassen oder Oberflächlichkeit, häufig auch durch negative Stereotype geprägt.“ (S. 51).

Mediathek
  • Der polnische Turnverein „Sokół”, 1920-1939

    Mitglieder des polnischen Turnvereins „Sokół”, 1920-1939.
  • Mannschaftsfoto des VfL Bochum, 1988

    In der Saison 1988/1989 im VfL-Kader u. a. Michael Rzehaczek und Andrzej Iwan.
  • Dariusz Wosz beim Derby VfL Bochum gegen SG Wattenscheid 09, 1993

    Die Bochumer Ikone Dariusz Wosz beim Derby VfL Bochum gegen SG Wattenscheid 09.
  • Marek Leśniak, 1993

    Marek Leśniak, ehemaliger Spieler und Goalgetter der Jahre 1992-1995 bei der SG Wattenscheid 09.
  • Marek Leśniak, 1993

    Marek Leśniak, ehemaliger Spieler und Goalgetter der Jahre 1992-1995 bei der SG Wattenscheid 09.
  • Der legendäre Torschütze Marek Leśniak am Ball für die SG Wattenscheid 09

    Eine Legende am Ball: Marek Leśniak, ehemaliger Spieler und Goalgetter der Jahre 1992-1995 bei der SG Wattenscheid 09.
  • Mirosław Giruc, 1994

    Mirosław Giruc, ehemaliger Spieler der SG Wattenscheid 09.
  • Henryk Baluszynski und Dariusz Wosz, 1996

    Der ehemalige Spieler des VfL Bochum Henryk Baluszynski lässt sich von Spielmacher Wosz feiern.
  • Andrzej Rudy und Dariusz Wosz, 1996

    Im Bochumer Ruhrstadion springt der Berliner Niko Kovac über den VfL Bochumer Andrzej Rudy, rechts der Bochumer Kapitän Dariusz Wosz, 1996.
  • Michał Probierz, 1996

    Michał Probierz, ehemaliger Spieler der SG Wattenscheid 09.
  • Krzysztof Kasak, 2013

    Krzysztof Kasak, ehemaliger Spieler der SG Wattenscheid 09.
  • Michał Probierz, 2016

    Michał Probierz, ehemaliger Spieler der SG Wattenscheid 09, machte sich nach seiner aktiven Fußballlaufbahn auch als Trainer in Polen einen Namen.
  • Thomas Eisfeld, Nils Quaschner, Piotr Ćwielong und Johannes Wurtz, 2017

    Torjubel auf Seiten des VfL Bochum bei der Begegnung gegen Greuther Fürth.
  • Marek Leśniak, Bayer Leverkusen

    Torjubel nach dem erzielten Siegtreffer am 21.10.1989 (FC Bayern - Bayer Leverkusen 0:1), Autogrammkarte
  • Marek Leśniak, Bayer Leverkusen

    Marek Leśniak, Bayer Leverkusen, Torjubel nach dem erzielten Siegtreffer am 21.10.1989 (FC Bayern - Bayer Leverkusen 0:1), Autogrammkarte - Rückseitte
  • Dariusz Wosz, VfL Bochum

    Dariusz Wosz, VfL Bochum, Autogrammkarte 1992
  • Tomasz Waldoch, VfL Bochum 1998/99

    Tomasz Waldoch, VfL Bochum 1998/99, Autogrammkarte
  • Tomasz Waldoch, VfL Bochum 1998/99

    Tomasz Waldoch, VfL Bochum 1998/99, Autogrammkarte - Rückseite
  • Henryk Baluszynski VfL Bochum

    Henryk Baluszynski VfL Bochum
  • Jacek Ratajczak VfL Bochum 1999/2000

    Jacek Ratajczak VfL Bochum 1999/2000, Autogrammkarte 
  • Jacek Ratajczak VfL Bochum 1999/2000 Rückseite

    Jacek Ratajczak VfL Bochum 1999/2000 Rückseite, Autogrammkarte
  • Miroslaw Giruc SG Wattenscheid 09

    Miroslaw Giruc SG Wattenscheid 09, Autogrammkarte 14.4.1998
  • Miroslaw Giruc SG Wattenscheid 09 Rückseite

    Miroslaw Giruc SG Wattenscheid 09 Rückseite, Autogrammkarte 14.4.1998