Von polnischen Kumpels, „Polenzechen“ und „Ostarbeitern“ – Ein Blick auf 100 Jahre polnische Arbeitsgeschichte in Bochum (1871-1973)

Aufschrift „Bank Robotników e.G.m.b.H. “ (Polnische Arbeiterbank) in der Straße Am Kortländer
Aufschrift „Bank Robotników e.G.m.b.H. “ (Polnische Arbeiterbank) in der Straße Am Kortländer

Einleitung
 

„Vor Arbeit ganz grau“ ist die Stadt „tief im Westen“, wie es in dem Kultsong Bochum des Sängers Herbert Grönemeyer heißt, heute schon lange nicht mehr. Dennoch bleibt der Bergbau und der damit einhergehende wirtschaftliche sowie demografische Wandel ein tief prägendes Kapitel der Bochumer Geschichte. Mit der sich rasch entwickelnden Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im damals noch unter dem Namen „Rheinisch-Westfälisches Industriegebiet“ bekannten heutigen Ruhrgebiet begann aber auch ein wichtiger Abschnitt der polnischen Ost-West-Binnenmigration innerhalb des Deutschen Reiches. Die unter dem Begriff „Ruhrpolen“ zusammengefasste Bevölkerungsgruppe preußischer Staatsangehöriger polnischer Sprache migrierte in großer Zahl aus den damaligen preußischen Ostgebieten in das heutige Ruhrgebiet, um vorwiegend im Bergbau tätig zu werden.

Dass Bochum einst Zentrum des kulturellen Lebens dieser polnischen Arbeitskräfte gewesen ist, lässt sich noch an einigen wenigen Orten in der Stadt erkennen: In der Straße Am Kortländer weist eine verwitterte Aufschrift einer Wandfassade auf die ehemalige Existenz einer polnischen Arbeiterbank hin (siehe Bild 1 & 2), im Bochumer Stadtteil Dahlhausen erinnert eine Informationstafel an die polnischen Erwerbsmigrantinnen und Erwerbsmigranten und deren facettenreiches Vereinswesen in der Zeit des Kaiserreichs (siehe Bild 3) und in der St. Joseph Kirche betreibt die polnische katholische Mission in Bochum bis heute Seelsorge für die polnischsprachige katholische Gemeinde in der Gegend, inklusive regelmäßiger Messen (siehe Bild 4 & 5). Doch die polnischen Arbeitskräfte waren nicht nur während der Industrialisierung in Bochum und im Ruhrgebiet präsent: Sie blieben viele weitere Jahrzehnte im Deutschen Reich, erlebten die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte unter anderem als Zwangsarbeitende während der beiden Weltkriege und waren auch in der Nachkriegszeit in verschiedenen Bereichen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland tätig. Bis heute sind sie ein fester Bestandteil der deutschen Diversitätsgesellschaft.

Wie gestaltete sich die polnische Arbeitsgeschichte in Bochum und welchen Wandel durchlebte sie im Laufe der Jahrzehnte? Diese Frage ist Gegenstand des folgenden Beitrags, der, anlässlich des 700-jährigen Stadtjubiläums, auf einen Zeitraum von etwa 100 Jahren – ab dem Beginn der ruhrpolnischen Migration seit der Kaiserreichsgründung 1871 bis zur Schließung der letzten Bochumer Zeche 1973 – zurückblickt.

Industrialisierung zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert
 

Im Zuge der Industrialisierung erfuhr das Ruhrgebiet mit seinen reichen Steinkohlevorkommen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt einen großen ökonomischen Aufschwung. Bochum konnte sich seit der Kaiserreichsgründung mit den Zechen Vereinigte Präsident, Constantin der Große, Hannover, Hannibal, Harpener Verein und Heinrich Gustav zum Zentrum des Bergbaus im Ruhrgebiet etablieren.[1] Die montanindustrielle Konjunktur forderte sowohl in Bochum als auch im gesamten Bereich des Rheinisch-Westfälischen Kohlengebiets zunehmend Arbeitskräfte für die Bergbauindustrie. Deshalb beauftragten Zecheninhaber private Agenten, die für die Bergbauindustrie geeignete Arbeitskräfte anheuern sollten. Diese fanden sich aufgrund einer günstigen sozioökonomischen Ausgangslage zum großen Teil in der polnischsprachigen Bevölkerung der damaligen preußischen Ostprovinzen wieder. Durch gezielte Anwerbung und Mundpropaganda entstanden im Laufe der Zeit Kettenmigrationen, die sich im Deutschen Kaiserreich zu einer Binnenwanderung eines bis dato unbekannten Ausmaßes entwickelten. Zwischen der Kaiserreichsgründung 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 migrierten insgesamt über eine halbe Million Menschen aus den Ostgebieten Preußens in die Region des Rheinisch-Westfälischen Industriegebiets. Diese Gruppe von Erwerbsmigrantinnen und -migranten ist aufgrund ihres Migrationsziels des heutigen Ruhrgebiets und ihrer polnischen Herkunft gemeinhin unter dem Begriff der „Ruhrpolen“ bekannt.[2]

Mit den zunehmenden Arbeitskräften wuchs die Bochumer Bevölkerung kontinuierlich: Während 1871 noch 21.192 Stadteinwohner verzeichnet werden konnten, stieg die Zahl 1890 auf 57.601 sowie im Jahr 1900 auf 65.551 an. Dabei machten Menschen polnischer Herkunft laut der preußischen Statistik im Jahre 1890 etwa 2,4 % der Bochumer Stadtbevölkerung mit einer steigenden Tendenz aus, deren Höhepunkt im Jahr 1910 mit 4,6 % Polen innerhalb der Stadtbevölkerung Bochums erreicht wurde.[3] Aufgrund des Familiennachzugs und der Anwerbung weiterer Personen aus den Herkunftsorten der polnischen Arbeitskräfte durch Mundpropaganda entstand im Laufe der Zeit eine gewisse Eigendynamik der Binnenmigration: Die Ruhrpolen siedelten sich typischerweise nach ihren Herkunftsregionen an den Zielorten im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet an. Für den Bochumer Raum lässt sich feststellen, dass eine überwiegende Mehrheit der Polen aus Ostpreußen sowie aus der Provinz Posen kam.[4] Die Alters- und Geschlechtsstruktur der Ruhrpolen zeigt, dass vorwiegend Männer in das Ruhrgebiet migrierten und die meisten von ihnen zwischen 20 und 30 Jahre alt waren. Dagegen machten Frauen einen wesentlich kleineren Teil der Erwerbsmigration aus, wobei auch unter ihnen ein junges, arbeitsfähiges Alter zwischen 20 und 30 Jahren am stärksten vertreten war.[5]

Männer wurden vor allem für physisch besonders anspruchsvolle Arbeiten eingesetzt und waren hauptsächlich im Bergbau und in der Schwerindustrie tätig. Dagegen kümmerten sich Frauen größtenteils um den Haushalt, nahmen aber auch des Öfteren Tätigkeiten im Textil- und Reinigungsgewerbe auf. In der Landwirtschaft waren sowohl Männer als auch Frauen in unterschiedlichen Bereichen beschäftigt. Außerdem übernahmen Frauen meistens die Organisation von Untermietern, den sogenannten Kostgängern. Die polnischen Arbeitskräfte wohnten vorwiegend in eigens für deren Unterkunft erbauten Zechensiedlungen in der Nähe der Bergwerke und die Untervermietung von Zimmern und Betten entwickelte sich mit der Zeit zu einem soliden Nebengeschäft.[6]

 

[1] Vgl. Pätzold, Stefan: Bochum. Kleine Stadtgeschichte, S. 85.

[2] Die als Ruhrpolen zusammengefasste polnische Bevölkerungsgruppe stammt aus den preußischen Provinzen Posen, Ostpreußen (darunter fielen auch die polnischsprachigen Protestanten Masuren), Westpreußen, Schlesien sowie dem südlichen Ermland;
In der wissenschaftlichen Forschung zu den Ruhrpolen liegt der Fokus vorwiegend auf männlichen Arbeitskräften, da diese gezielt für die Arbeit in der Bergbauindustrie angeworben wurden und quantitativ überwogen. Dennoch werden bereits an dieser Stelle ebenfalls die Migrantinnen erwähnt, da auch Frauen, die mit ihrer Familie in das Ruhrgebiet nachgezogen sind, Erwerbstätigkeiten aufgenommen haben.
Vgl. Skrabania, David: Die Ruhrpolen, in: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/die-ruhrpolen?page=1#body-top.

[3] Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, S. 267;
Pätzold, Stefan: Bochum. Kleine Stadtgeschichte, S. 87.

[4] Vgl. Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, S. 47 f.

[5] Im Jahre 1890 entfielen bei den polnischen Migranten auf 100 Männer 39,7 Frauen. Dieser Wert nahm mit zunehmender Migration sowie dem Nachzug von Familien stetig zu, sodass 1910 schon 76,8 Frauen auf 100 Männer kamen;
Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, S. 268;
Vgl. Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, S. 39.

[6] Vgl. Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, S. 51 f.

Für den Bochumer Raum fokussierte sich der Einsatz polnischer Arbeitskräfte insbesondere auf die Bergbau- und Schwerindustrie. Einzelne Bergwerke sind sogar als sogenannte Polenzechen bekannt gewesen: So wurde die Zeche Dannenbaum im Bergrevier Bochum-Süd aufgrund des großen Anteils an polnischen Arbeitskräften als ebensolche bezeichnet und auch in der Kokerei der Zeche Constantin der Große konnten viele Polen verzeichnet werden – im Jahre 1905 waren ganze 88,2 % der Arbeiter in der Kokerei polnischer Herkunft.[7] Beim großen montanindustriellen Konzern Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation (siehe Bild 6) wurden ebenfalls viele Polen eingestellt: 1872/73 lassen sich bereits die ersten slawischen Namen in der Belegschaft nachweisen und im Jahr 1889 waren 11,7 % der Arbeiter beim Bochumer Verein polnischer Herkunft.[8]

Neben der Arbeit gewann Bochum für die polnischen Erwerbsmigranten jedoch vor allem deshalb zunehmend an Bedeutung, da es sich mit den Jahren und Jahrzehnten als Mittelpunkt des kulturellen Lebens der Polen etablierte. „Dass Bochum seit den 1880er-Jahren nach und nach zum Zentrum der organisierten Ruhrpolenbewegung im Deutschen Reich avancierte, war Zufall“[9], denn im Jahre 1884 wurde der Geistliche Józef Szotowski durch das Bistum Paderborn zum Kaplan der Pfarrei St. Peter in Bochum einberufen. Fortan kümmerte er sich um die Seelsorge der polnischen Zuwanderinnen und Zuwanderer. Ab 1890 übernahm Franciszek Liss das Amt, der wie sein Vorgänger im Redemptoristenkloster in Bochum an der Klosterstraße wohnte und sich von dort aus der wachsenden polnischen Gemeinde im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet annahm. Liss war es auch, der Ende 1890 die erste polnischsprachige Zeitschrift des Ruhrgebiets, den Wiarus Polski, gründete. Der Verlags- und Druckort befanden sich in der Malteser Str. in unmittelbarer Nähe des Redemptoristenklosters in der Klosterstraße. Darüber hinaus siedelten sich hier (heute teilweise noch Klosterstraße und Am Kortländer) weitere polnische Organisationen wie beispielsweise die polnische Arbeiterbank (Bank Robotników) oder der 1922 gegründete und bis heute bestehende Bund der Polen in Deutschland (Związek Polaków w Niemczech) an, was den Straßenzug unter dem Begriff der „Bochumer Schmiede“ bekannt werden ließ.[10] Auch die 1902 in Bochum entstandene Polnische Berufsvereinigung (Zjednoczenie Zawodowe Polskie) fand dort ihren Platz. Die Vereinigung enthielt unter anderem eine Bergmannsabteilung, was aus einem aus dem Jahre 1913 erhaltenen Quittungsbuch hervorgeht.

Diese an einem Ort fokussierte Organisation des Ruhrpolentums war der Grund dafür, dass 1909 beim Polizeipräsidium Bochum eine Zentralstelle für Überwachung der Polenbewegung im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet gegründet wurde. Die sogenannte „Polenüberwachungsstelle“ sollte den Handlungen eines vermeintlich staatsfeindlichen Nationalpolentums entgegenwirken und war damit Ausdruck von zu jener Zeit weit verbreiteten sozialen Diskriminierungen sowie staatlichen Repressionsmaßnahmen gegenüber den polnischen Zuwanderinnen und Zuwanderern.[11] Die Ruhrpolen wurden innerhalb der Arbeiterschaft nicht selten als Lohndrücker angesehen und waren immer wieder mit verschiedenen Ressentiments seitens der einheimischen Bevölkerung konfrontiert, die sich insbesondere durch Ausgrenzung und Anfeindung äußerten. Bei den staatlichen Unterdrückungsmethoden sei beispielsweise auf eine systematische Überwachung von polnischen Versammlungen oder auf das zwischenzeitig beschlossene Verbot von Trauung in polnischer Sprache verwiesen.[12] Nicht zuletzt unter dem Druck der restriktiven Maßnahmen durch preußische Behörden zeigten die Ruhrpolen im Laufe der Zeit eine zunehmende Integrationsbereitschaft in die einheimische deutsche Bevölkerung, aus der mit den Jahrzehnten auch Assimilationstendenzen erkennbar wurden.[13]

 

[7] Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, S. 51.

[8] Vgl. Rudzinski, Marco: Ein Unternehmen und „seine“ Stadt. Der Bochumer Verein und Bochum vor dem Ersten Weltkrieg, S. 103.

[9] Bleidick, Dietmar: Bochum, das institutionelle Zentrum der Polen in Deutschland, S. 4.

[10] Vgl. Bleidick, Dietmar: Bochum, das institutionelle Zentrum der Polen in Deutschland, S. 6.

[11] Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, S. 93;
Vgl. Stefanski, Valentina Maria: „… und bin sehr dankbar für die Gelegenheit an der Bekämpfung des Polenthums mitarbeiten zu können“. Polnische Arbeitsmigranten und die preußische Obrigkeit, S. 42 f.

[12] Vgl. Stefanski, Valentina Maria: „… und bin sehr dankbar für die Gelegenheit an der Bekämpfung des Polenthums mitarbeiten zu können“. Polnische Arbeitsmigranten und die preußische Obrigkeit, S. 38; S. 42 ff.

Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit
 

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich der Ruhrkohlenbergbau bis zum Kriegsausbruch weiterentwickelt, sodass der Arbeitskräftebedarf im Bergbau und im Hüttenwesen des Ruhrgebiets kontinuierlich anstieg – auch Bochum verzeichnete, genau wie alle weiteren Bergreviere des Oberbergamtes Dortmund, steigende Zahlen bei den Zechenbelegschaften.[14] Seit Beginn des 20. Jahrhunderts konnten bei der ruhpolnischen Bevölkerung jedoch auch vermehrt Berufe im Handwerk und im Gewerbe, beispielsweise Schneider, Schuster, Hebammen, Anstreicher oder auch Friseure, festgestellt werden.[15] Dennoch blieb der Großteil der ruhrpolnischen Bevölkerung weiterhin im Bergbau sowie in der Eisen- und Schwerindustrie beschäftigt.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges änderte sich der zunehmende wirtschaftliche Aufschwung jedoch grundlegend, denn die allgemeine Mobilmachung hatte zur Folge, dass die Mehrzahl der wehrpflichtigen Belegschaftsjahrgänge für den Krieg eingezogen wurde und insbesondere die Bergbauzechen und Fabriken der Schwerindustrie bereits im Herbst 1914 einen immensen Arbeitskräfte- aber vor allem auch Facharbeitermangel zu beklagen hatten.[16] Der Bochumer Kommunalpolitiker und Beamte in der Stadtverwaltung Paul Küppers lieferte in seiner umfassenden Monografie über die Kriegsarbeit der Stadt trotz der widrigen Umstände eine geradezu euphorische Beschreibung der städtischen Arbeitssituation während des Ersten Weltkrieges:

„Dröhnender Hammerschlag vermischt sich mit dem Surren der Maschinen zum Grundklang in der großen Sinfonie der Arbeit. (…) In reinen Akkorden verkünden Bochumer Gußstahlglocken das Lob des heimischen Gewerbefleißes (…) Und während draußen die Schlacht entbrannte, schlossen sich bei uns die Reihen der Daheimgebliebenen zusammen, um in westfälischer Art, zäh und fest, den Aufgaben gerecht zu werden, in welchen der Kampf hinter der Front sieghaft zu führen ist. Da wurde mit doppeltem Eifer die kraft- und lichtspendende Kohle gefördert; da reckte der Märker das Eisen, da wurde der Stahl geglüht und geformt zu den vernichtenden Waffen (…).“[17]

Diese beinahe schon poetische Darstellung der Arbeitsmoral von Bochumer Beschäftigten in der Montanindustrie weist einerseits auf die bei einem Teil der deutschen Bevölkerung vorhandene Kriegsbegeisterung hin, andererseits werden bei dieser Beschreibung die ausländischen Arbeiter, die einen wesentlichen Teil der Arbeitskraft ausgemacht haben, vollständig weggelassen. Doch gerade die polnischen Arbeitskräfte trugen maßgeblich dazu bei, die Fortführung des Bergbaus sowie der Rüstungsindustrie während des Ersten Weltkrieges aufrechtzuerhalten.[18]

Im Verlauf des Krieges kamen deshalb zusätzlich über eine halbe Million Polen als Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Zwangsarbeitende in das Deutsche Reich hinzu, um in den kriegswirtschaftlich wichtigen Rüstungs- und Industriezweigen eingesetzt zu werden.[19] Die quantitative Bestimmung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen stellt sich aufgrund fehlender statistischer Angaben allerdings als schwierig dar.[20]

Die Zeit des Ersten Weltkrieges war von einer (zwangsweisen) Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, darunter einem großen Teil an Polen, geprägt. Nach Kriegsende verließen viele dieser polnischen Arbeitskräfte jedoch die deutschen Reichsgrenzen wieder. Mit dem wiedergegründeten polnischen Staat im Jahre 1918 kehrten nicht nur die im Kriegsverlauf angeworbenen Arbeitenden in ihre Heimat zurück, sondern auch die bereits seit Jahrzehnten im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet angesiedelten Ruhrpolen wanderten vermehrt aus dem Ruhrgebiet aus. Während ein Teil dieser ruhrpolnischen Bevölkerung mit Hoffnung auf bessere Arbeitsmöglichkeiten in französische und belgische Kohlereviere weiterzog, kehrten etwa 150.000 Ruhrpolen in ihre nach 1918 wieder zum polnischen Staat zugehörigen Herkunftsgebiete zurück.[21]

 

[14] Vgl. Rawe, Kai: „…wir werden sie schon zur Arbeit bringen!“. Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, S. 47;
Vgl. Küppers, Paul: Die Kriegsarbeit der Stadt Bochum 1914-1918, S. 47.

[15] Vgl. Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, S. 59 f.

[16] Vgl. Rawe, Kai: „…wir werden sie schon zur Arbeit bringen!“. Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, S. 47;
Vgl. Küppers, Paul: Die Kriegsarbeit der Stadt Bochum 1914-1918, S. 263.

[17] Küppers, Paul: Die Kriegsarbeit der Stadt Bochum 1914-1918, S. 301 f.

[18] Vgl. Molenda, Jan: Polnische Arbeiter im Ruhrgebiet während des Ersten Weltkrieges, S. 198.

[19] Vgl. Rawe, Kai: „…wir werden sie schon zur Arbeit bringen!“. Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, S. 155 f.

[20] Nach aktuellem Forschungsstand lässt sich von zwischen 14.000 und 16.000 polnischen Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeitern ausgehen, die im Verlauf des Ersten Weltkriegs allein im Ruhrbergbau eingesetzt wurden. Bei den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitenden lassen sich die quantitativen Dimensionen und Einsatzorte nicht verlässlich bestimmen, da nicht alle Betriebe gleichermaßen deren Einsatz dokumentiert haben. Deren Zahl kann jedoch deutlich höher als die der Zivilarbeitenden gewesen sein;
Vgl. Molenda, Jan: Polnische Arbeiter im Ruhrgebiet während des Ersten Weltkrieges, S. 185.

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
 

Während des Zweiten Weltkrieges schöpfte die Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten, ähnlich wie in der Zeit zwischen 1914 und 1918, einen großen Teil ihrer Beschäftigten aus dem ausländischen Arbeitskräftepotenzial. Nach heutigem Forschungsstand leisteten im Verlauf des Zweiten Weltkrieges auf dem Gebiet des sogenannten Großdeutschen Reiches insgesamt etwa 13,5 Millionen Menschen Zwangsarbeit für NS-Deutschland, davon rund 2,8 Millionen Polen.[22] Die Arbeitskräfte wurden in allen Bereichen des Wirtschaftslebens, z.B. in der Land- und Forstwirtschaft, im Bergbau, der (Rüstungs-)Industrie aber auch in Handwerksbetrieben oder Privathaushalten, zur Zwangsarbeit eingesetzt. Das Ruhrgebiet galt dabei mit seinem reichen Vorkommen an Steinkohle als „(…) zentrales Segment der NS-Kriegswirtschaft“[23] (siehe Bild 7).

In Bochum wird für den Verlauf des Zweiten Weltkrieges von einer Zahl von insgesamt über 30.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern verschiedener Nationalitäten, darunter auch vielen Polen, ausgegangen.[24] Die Zwangsarbeitenden waren in etwa 100 verschiedenen, kleineren und größeren Zwangsarbeiterlagern und -baracken untergebracht, die auf dem gesamten Stadtgebiet verteilt waren. In vielen dieser Lager waren unter anderem auch polnische Zwangsarbeitende untergebracht. Das Lager Bergen beispielsweise, welches in den Jahren 1941 und 1942 für die zivilen Arbeitskräfte der Zeche Constantin eingerichtet wurde, soll im Kriegsverlauf etwa 600 Personen beherbergt haben, von denen die meisten zwangsverpflichtete Polen und Galizier waren (siehe Bild 8 & 9).[25] Bis 1943 wurden in Bochum und der Region vorwiegend Holzbaracken für die Unterbringung der Zwangsarbeitenden genutzt, die sich nach Bombenangriffen jedoch „(…) aufgrund ihrer leichten Brennbarkeit nicht bewährt haben“[26], woraufhin auf Anordnung des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition diese aus massiven Baustoffen errichtet werden sollten. Der zahlenmäßig größte Einsatz der Bochumer Zwangsarbeitenden erfolgte im Montanunternehmen des Bochumer Vereins, das seit 1937 als „NS-Musterbetrieb“[27] bekannt war und eine kriegswirtschaftliche Stütze darstellte, indem es wichtiges Kriegsmaterial für die Wehrmacht, Luftwaffe und die Marine produzierte.[28]

Wie im Ersten Weltkrieg musste der Bochumer Verein mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 einen Teil der männlichen Arbeitskräfte für den Kriegsdienst bereitstellen, wodurch viele Arbeitsplätze in der Montanindustrie unbesetzt blieben und seit 1940 zunehmend durch ausländische Arbeitskräfte ersetzt wurden.[29] Im Juni 1944 wurde beim Bochumer Verein sogar ein Außenlager des KZ-Buchenwald für etwa 2.000 KZ-Häftlinge eingerichtet, welches der SS unterstand (siehe Bild 10).[30] Es befand sich im Westen Bochums an der Brüllstraße auf dem Werksgelände des Bochumer Vereins zwischen der Kohlen- und Alleestraße und war damit in nächster Nähe zu Rüstungs- und Munitionsbetrieben gelegen. Das Lager bestand aus 17 Baracken, war mit Wachtürmen sowie einer elektrischen Hochspannungsleitung umzäunt. Die KZ-Häftlinge wurden überwiegend zu Bau- oder Erdarbeiten im Lager oder in der nahegelegenen Geschossfabrik zur Zwangsarbeit in zwei 12-stündigen Schichten eingesetzt. In der Fabrik wurde vorwiegend Munition produziert und im dazugehörigen Pressbau wurden die KZ-Häftlinge an sogenannten Monsterpressen eingesetzt, an denen glühende Eisenblocks verarbeitet wurden. Die Häftlinge bekamen für die schweren Arbeiten keinerlei Schutzkleidung, was oftmals schwere Verbrennungen zur Folge hatte.[31]

 

[22] Die während des Zweiten Weltkrieges in NS-Deutschland eingesetzten ausländischen Arbeitskräfte lassen sich in folgende drei Gruppen einordnen: Erstens Zivilarbeiterinnen und -arbeiter. Zweitens Kriegsgefangene, drittens Häftlinge aus Arbeitserziehungs- und Konzentrationslagern.
Vgl. Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz: ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, S. 9 ff., S. 90 ff.

[23] Seidel, Hans-Christoph: Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen – Bergarbeiter – Zwangsarbeiter, S. 21.

[24] Vgl. Grieger, Manfred: Zwangsarbeit in Bochum – Die Geschichte der ausländischen Arbeiter und KZ-Häftlinge 1939-1945, S. 4.

[26] Fernbrief der Bezirksgruppe Steinkohlebergbau Ruhr Essen an die Gruppe Bochum vom 29. Mai 1943: Betrifft: Baracken, in: Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv (BBA) 40/487.

[27] Der Bochumer Verein erhielt am 1. Mai 1937 als eines von insgesamt 30 Betrieben und als einziges Unternehmen aus der Montanindustrie den Titel „NS-Musterbetrieb“, welcher durch das der Deutschen Arbeitsfront unterstehende (sogenannte) Amt „Schönheit der Arbeit“ vergeben wurde;
Vgl. Seebold, Gustav-Hermann: Ein Stahlkonzern im Dritten Reich. Der Bochumer Verein 1927-1945, S.255 f.

[28] Insgesamt mussten etwa über 10.000 Menschen Zwangsarbeit beim Bochumer Verein leisten, die sich auf 15 dem Betrieb zugehörige Lager verteilten. Die Zwangsarbeitenden wirkten an der Produktion verschiedener Kriegsgüter wie z.B. Geschosse, Granaten, Artilleriegeschütze oder verschiedener Panzerteile mit;
Vgl. Gleising, Günter: Bochums Stellung in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung des Bochumer Vereins und dessen Zwangsarbeitereinsatz, S.
32 f., S. 35 f.

[29] Vgl. Seebold, Gustav-Hermann: Ein Stahlkonzern im Dritten Reich. Der Bochumer Verein 1927-1945, S. 159.

[30] Das Lager bestand vom Juni 1944 bis zu dessen Auflösung im März 1945, als sich die alliierten Truppen Bochum näherten. Die SS-Leitung des Außenkommandos in Bochum hatte Obersturmführer der Waffen-SS Hermann Großmann inne, der nach Kriegsende im Rahmen eines Prozesses gegen Täter des KZ-Buchenwald vom US-Militärgericht zum Tode verurteilt und im Jahre 1948 in Landsberg am Lech hingerichtet wurde;
Vgl. Wölk, Ingrid: Das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald beim ‚Bochumer Verein‘, S. 50 f.

[31] Vgl. Wölk, Ingrid: Das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald beim ‚Bochumer Verein‘, S. 47.

Polnische Zwangsarbeitende finden in den Quellen und Zeitzeugenberichten zur Bochumer NS-Zwangsarbeit wiederholt Erwähnung. So lassen sich beim ersten Häftlingstransport, welcher aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz über Buchenwald geführt wurde und am 21. Juni 1944 mit 446 Menschen in Bochum eintraf, auch polnische Häftlinge nachweisen.[32] Sowohl bei der Produktion von Granaten und Bomben durch weibliche Zwangsarbeiterinnen als auch beim Einsatz von ausländischen Arbeitskräften in der Geschosspresserei in Stahlhausen wurde durch Zeitzeugen auch auf polnische Zwangsarbeitende hingewiesen.[33] Welche drakonischen Strafen NS-Zwangsarbeitende auch in Bochum erfahren mussten, lässt sich beispielhaft an dem Schicksal eines polnischen Landarbeiters in Wattenscheid zeigen: Dieser wurde gehängt, da er einer deutschen Reichsbürgerin Avancen gemacht haben soll.[34] Laut einem Bericht des Landesgerichtspräsidenten in Bochum vom 20. Juni 1941 soll die Exekution zudem öffentlichkeitswirksam unter der Anwesenheit aller polnischen Zwangsarbeitenden aus der Umgebung stattgefunden haben.[35]

Die in Bochum eingesetzten Zwangsarbeitenden hatten insgesamt schwere, teils sogar sklavenähnliche Arbeitsbedingungen sowie in den meisten Lagern auch menschenunwürdige Lebensumstände zu ertragen. Aus vertraulichen Dokumenten des Arbeitsamtes Bochum geht hervor, dass bei Untersuchungen der Unterkünfte und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeitenden wiederholt Misshandlungen, hygienische Missstände, unzureichende Ernährung und vermehrte Krankheitsverbreitung festgestellt werden konnten.[36] Die schweren Arbeits- und Lebensbedingungen führten bei den Zwangsarbeitenden zu Mangelernährung, Krankheiten sowie psychischer und körperlicher Entkräftung, was sowohl kurz- als auch langfristig etliche Todesfälle bedingte. Zusätzlich kamen viele Zwangsarbeitende aufgrund drakonischer Strafen, darunter auch das Todesurteil, ums Leben. Die tatsächliche Anzahl der Todesopfer durch NS-Zwangsarbeit lässt sich aufgrund der Dunkelziffer nicht genau nummerieren. Unter den 1.720 Opfern der Zwangsarbeit, die auf dem Bochumer Hauptfriedhof Freigrafendamm begraben wurden, sind 78 Bürgerinnen und Bürger polnischer Herkunft.[37]

 

[32] In diesem ersten Transport befanden sich Häftlinge ungarischer, tschechischer, russischer und polnischer Nationalität, viele von ihnen waren Juden;
Vgl. Wölk, Ingrid: Das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald beim ‚Bochumer Verein‘, S. 44.

[33] Vgl. Gleising, Günter: Bochums Stellung in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung des Bochumer Vereins und dessen Zwangsarbeitereinsatz, S. 37 f.

[34] Im Sinne der NS-Ideologie standen Polen auch in Bezug auf den Zwangsarbeitereinsatz weit unten in der nationalsozialistischen „Rassenhierarchie“. Am 8. März 1940 traten die sogenannten Polen-Erlasse in Kraft, welche eine Reihe von diskriminierenden Vorschriften für polnische Zwangsarbeitende, darunter auch die Kennzeichnungspflicht der Arbeitskräfte mit einem „P“ sowie das Verbot des Kontakts von Polen mit der deutschen Bevölkerung, festlegten;
Vgl. Loew, Peter Oliver: Das Zeichen „P“, in: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/das-zeichen-p?page=1#body-top.

[35] Vgl. Grieger, Manfred: Zwangsarbeit in Bochum – Die Geschichte der ausländischen Arbeiter und KZ-Häftlinge 1939-1945, S. 4.

[36] Vgl. Arbeitsamt Bochum vom 14.07.1943: An alle Betriebsführer, die ausländische Arbeitskräfte beschäftigen. Betrifft: Misshandlungen ausländischer Arbeitskräfte, in: montan.dok/BBA 40/492;
Vgl. Arbeitsamt Bochum vom 31.05.1944: An alle Betriebe, die ausländische Arbeitskräfte beschäftigen. Betrifft: Unterbringung ausländischer Arbeitskräfte, in: montan.dok/BBA 40/487.

[37] Vgl. Stadtarchiv – Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte (Hrsg.): "Wir gedenken der Opfer der Zwangsarbeit in Bochum, 1941 bis 1945, Letzte Ruhestätte: Hauptfriedhof Freigrafendamm". Bearbeitung und Zusammenstellung durch Ursula Jennemann-Henke, unter Mitwirkung von Angelika Karg und Angelika Schäfer – Stadtarchiv, Bochum 2002.

Nachkriegszeit und Ausblick

„Nazidiktatur, Bombennächte und Todesangst waren vorüber, Not und Leid der Menschen jedoch nicht“[38]: Als Bochum am 12. April 1945 unter die britische Besatzung gestellt wurde, war dessen Stadtkern zu 90 % zerstört. Entnazifizierung, Trümmerbeseitigung und der Mangel an lebensnotwendigen Gütern waren nur einige der vielen Herausforderungen, welche die Bochumer Stadtbevölkerung nach Kriegsende bewältigen musste. Doch die Wirtschaft konnte zügig wieder in Schwung gebracht werden – 1957 ging als Rekordjahr des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit in die Geschichte ein. In den 60er Jahren wendete sich jedoch das Blatt – mit der zunehmenden Verdrängung der Kohle durch die Energieträger Erdgas und -öl setzte die allmähliche Stilllegung der Zechen ein. Die Bochumer Zechen, welche die Stadtgeschichte in den letzten 100 Jahren so nachhaltig geprägt haben, wurden nacheinander geschlossen bis im Jahre 1973 schließlich auch die im Stadtteil Hordel gelegene Zeche Hannover als Letzte stillgelegt wurde. [39] 

Und die (Ruhr-)Polen? Sie haben sich in dem hier dargestellten 100-jährigen Zeitraum zum festen Bestandteil der Bochumer Arbeits- und Stadtgeschichte etabliert. Zunächst migrierten sie als preußische Staatsbürger polnischer Sprache und Nationalität in das Ruhrgebiet und waren maßgeblich an dem wirtschaftlichen Aufschwung der Region beteiligt. Noch heute sind Spuren der ruhrpolnischen Arbeitsmigration in Bochum sichtbar: Einige der alten Zechensiedlungen, in denen auch polnische Zuwanderer Unterkunft fanden, existieren bis heute – so beispielsweise die Kolonie Dahlhauser Heide in Hordel (siehe Bild 11 & 12), wo sich in einem der denkmalgeschützten Arbeiterhäuser die Räumlichkeiten von Porta Polonica befinden (siehe Bild 13). Die ehemalige Zeche Hannover fungiert mittlerweile als einer der Standorte für das LWL-Industriemuseum (siehe Bild 14), dessen Museumsarbeit hier schwerpunktmäßig auf die Arbeitsmigration des 19. Jahrhundert ausgerichtet ist und unter anderem die ruhrpolnische Binnenwanderung beleuchtet. In den beiden Weltkriegen wurden viele Polen zwangsweise zur Arbeit in der Kriegs- und Rüstungswirtschaft unter größtenteils verheerenden und menschenunwürdigen Bedingungen eingesetzt.

Obwohl eine Vielzahl der polnischen Arbeitskräfte die deutschen Grenzen verließ, ist doch ein beträchtlicher Teil von ihnen in Deutschland und auch in Bochum geblieben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befanden sich nicht nur die Ruhrpolen und deren Nachfolgegenerationen in der Stadt, sondern auch die im Krieg eingesetzten polnischen Arbeitskräfte. Unmittelbar nach Kriegsende erhielten diese den Status der sogenannten „Displaced Persons“ (kurz DPs) – während ein Teil von ihnen in die Heimat zurückkehrte, ist ein weiterer Teil der DPs dauerhaft in Deutschland geblieben.

Die polnische Gemeinschaft in Bochum nahm in der Nachkriegszeit insbesondere durch Migrationsbewegungen der (Spät-)Aussiedler auch weiterhin zu. Wirft man einen Blick in das Telefonbuch, so findet man unter der Bochumer Bevölkerung, genau wie im restlichen Ruhrgebiet auch, eine Vielzahl von Familiennamen, die mit den Endungen -ski, -cki, -rek oder -czyk auf eine polnische Genealogie hinweisen. Neben polnischen Geschäften wie der SMAK-Supermarkt in Laer oder Nasza Biedronka in Wattenscheid gibt es bis heute ein aktives polnisches religiöses Leben in der Stadt, wie es durch die polnische katholische Mission in Bochum in der St. Joseph Kirche organisiert wird. Auch ein aufstrebendes kulturelles Leben der Polen am Beispiel der 2008 in Bochum gegründeten Künstlergruppe Kosmopolen wird sichtbar. Mit der Gründung der Dokumentationsstelle zur Kultur und Geschichte der Polen in Deutschland Porta Polonica, die als Bundesprojekt unter der Trägerschaft des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) im Jahr 2013 ihre Tätigkeit aufnahm, zog in Bochum außerdem eine zentrale Institution zur erinnerungskulturellen Dokumentation und Erforschung des polnischen Lebens in Deutschland ein.

Die polnische Arbeitsmigration hat im Laufe des 100-jährigen Zeitraums, der hier skizziert wurde, an unterschiedlichen Entwicklungen – allen voran wirtschaftlicher Art – in der Geschichte Bochums mitgewirkt. Heute sind die Polen und die Nachfahren der polnischen Arbeitsmigranten fester Bestandteil der Bochumer Bevölkerung und werden auch in Zukunft das kulturelle und ökonomische Leben der Stadt weiterhin mitgestalten und bereichern.

 

Zum Abschluss gilt ein besonderer Dank Frau Maria Schäpers und dem Montanhistorischen Dokumentationszentrum/Bergbau-Archiv in Bochum für die Bereitstellung von Dokumenten.


 

Natalia Kubiak, Januar 2021

 

[38] Pätzold, Stefan: Bochum. Kleine Stadtgeschichte, S. 134.

[39] Vgl. Pätzold, Stefan: Bochum. Kleine Stadtgeschichte, S. 141.

Quellen- und Literaturverzeichnis:

Bleidick, Dietmar: Bochum, das institutionelle Zentrum der Polen in Deutschland, in: Kortum-Gesellschaft Bochum e.V. (Hrsg.), Bochumer Zeitpunkte. Beiträge zur Stadtgeschichte, Heimatkunde und Denkmalpflege (33), Bochum 2015, S. 3-9.

Gleising, Günter: Bochums Stellung in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung des Bochumer Vereins und dessen Zwangsarbeitereinsatz, in: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Kreisvereinigung Bochum, RuhrEcho Verlag, Bochum 2019, S. 23-40.

Grieger, Manfred: Zwangsarbeit in Bochum – Die Geschichte der ausländischen Arbeiter und KZ-Häftlinge 1939-1945, Bochum 1986.

Gusowski, Adam / Krämer, Sabine: Bochumer Schmiede, in: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/bochumer-schmiede, zuletzt abgerufen am 18.10.2020.

Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1978.

Küppers, Paul: Die Kriegsarbeit der Stadt Bochum 1914-1918, Buchdruckerei Wilhelm Stumpf K.-G., Bochum 1926.

Molenda, Jan: Polnische Arbeiter im Ruhrgebiet während des Ersten Weltkrieges, in: Dahlmann, Dittmar / Kotowski, Albert S. / Karpus, Zbigniew (Hrsg.), Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Klartext Verlag, Essen 2005, S. 183-199.

Montanhistorisches Dokumentationszentrum/Bergbau-Archiv: 40/487, 40/492.

Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, Dortmund 1979.

Pätzold, Stefan: Bochum. Kleine Stadtgeschichte, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2017.

Peters-Schildgen, Susanne: Das polnische Vereinswesen in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik. Ein Vergleich, in: Dahlmann, Dittmar / Kotowski, Albert S. / Karpus, Zbigniew (Hrsg.), Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Klartext Verlag, Essen 2005, S. 51-72.

Rawe, Kai: „… wir werden sie schon zur Arbeit bringen!“. Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, Klartext Verlag, Essen 2005.

Rudzinski, Marco: Ein Unternehmen und ‚seine‘ Stadt. Der Bochumer Verein und Bochum vor dem Ersten Weltkrieg, Klartext Verlag, Essen 2012.

Seebold, Gustav-Hermann: Ein Stahlkonzern im Dritten Reich. Der Bochumer Verein 1927-1945, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1981.

Seidel, Hans-Christoph: Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen – Bergarbeiter – Zwangsarbeiter, Klartext Verlag, Essen 2010.

Skrabania, David: Die Ruhrpolen, in: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/die-ruhrpolen, zuletzt abgerufen am 23.10.2020.

Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz: ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart / München 2001.

Stadtarchiv – Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte (Hrsg.): "Wir gedenken der Opfer der Zwangsarbeit in Bochum, 1941 bis 1945, Letzte Ruhestätte: Hauptfriedhof Freigrafendamm". Bearbeitung und Zusammenstellung durch Ursula Jennemann-Henke, unter Mitwirkung von Angelika Karg und Angelika Schäfer – Stadtarchiv, Bochum 2002.

Stefanski, Valentina Maria: „… und bin sehr dankbar für die Gelegenheit an der Bekämpfung des Polenthums mitarbeiten zu können“. Polnische Arbeitsmigranten und die preußische Obrigkeit, in: Dahlmann, Dittmar / Kotowski, Albert S. / Karpus, Zbigniew (Hrsg.), Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Klartext Verlag, Essen 2005, S. 37-49.

Wölk, Ingrid: Das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald beim ‚Bochumer Verein‘, in: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Kreisvereinigung Bochum, RuhrEcho Verlag, Bochum 2019, S. 41-54.

 

Weiterführende Literatur zur polnischen Arbeits- und Migrationsgeschichte in Bochum, im Ruhrgebiet und in Deutschland:

Dahlmann, Dittmar / Kotowski, Albert S. / Karpus, Zbigniew (Hrsg.), Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Klartext Verlag, Essen 2005.

Loew, Peter Oliver: Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland, Verlag C.H. Beck, München 2014.

Schade, Wulf: Kuźnia Bochumska – die Bochumer (Kader-)Schmiede, in: Bochumer Zeitpunkte. Beiträge zur Stadtgeschichte, Heimatkunde und Denkmalpflege 2005, Nr. 17, S. 3-21.

Skrabania, David: Keine Polen? Bewusstseinsprozesse und Partizipationsstrategien unter Ruhrpolen zwischen der Reichsgründung und den Anfängen der Weimarer Republik, Bochum 2018.

Smechowski, Emilia: Wir Strebermigranten, Carl Hanser Verlag, München 2017.

 

 

Weiterführende Internetlinks zur lokalen Aufarbeitung der NS-Zwangsarbeit in Bochum

https://www.kohlengraeberland.de

http://zwangsarbeiterprojekt.de

https://www.bochum.de/Stadtarchiv/Bochum-in-der-NS-Zeit

http://vvn-bda-bochum.de

 

Alle im Quellen- und Literaturverzeichnis aufgeführten Internetlinks wurden zuletzt am 09.01.2021 aufgerufen.

Mediathek
  • Bild 1: „Bank Robotników“

    Aufschrift „Bank Robotników e.G.m.b.H.“ (Polnische Arbeiterbank) in der Straße Am Kortländer
  • Bild 2: Nahaufnahme der Aufschrift „Bank Robotników“

    Nahaufnahme der Aufschrift „Bank Robotników e.G.m.b.H.“ (Polnische Arbeiterbank) in der Straße Am Kortländer
  • Bild 3: Informationstafel zur Erwerbsmigration im Kaiserreich

    Informationstafel der Stadt Bochum zur Erwerbsmigration im Kaiserreich mit einem Bild des polnischen Vereins Heiliger Josef im Stadtteil Dahlhausen
  • Bild 4: St. Joseph Kirche an der Stühmeyerstraße

    St. Joseph Kirche an der Stühmeyerstraße
  • Bild 5: Kruzifix mit polnischer Inschrift

    Kruzifix mit polnischer Inschrift vor der St. Joseph Kirche an der Stühmeyerstraße
  • Bild 6: Gußstahlglocke des Bochumer Vereins für die Weltausstellung in Paris 1867

    Gußstahlglocke des Bochumer Vereins für die Weltausstellung in Paris 1867 am Willy-Brandt-Platz vor dem Bochumer Rathaus
  • Bild 7: Fotografie einer Kundgebung auf der Zeche Hannibal, 1943

    Fotografie einer Kundgebung auf der Zeche Hannibal in Bochum aus dem Jahre 1943
  • Bild 8: Barackensiedlung ehemaliger Zwangsarbeitender

    Barackensiedlung ehemaliger Zwangsarbeitender während des Zweiten Weltkrieges im Stadtteil Bergen an der Bergener Straße
  • Bild 9: Barackensiedlung ehemaliger Zwangsarbeitender

    Barackensiedlung ehemaliger Zwangsarbeitender während des Zweiten Weltkrieges im Stadtteil Bergen an der Bergener Straße
  • Bild 10: Stolperschwelle

    Stolperschwelle zur Erinnerung an das KZ-Außenlager an der Kreuzung Kohlenstraße Höhe Obere Stahlindustrie
  • Bild 11: Kolonie Dahlhauser Heide

    Kolonie Dahlhauser Heide im Bochumer Stadtteil Hordel
  • Bild 12: Gestiftete Seilscheibe in der Kolonie Dahlhauser Heide

    Eine von der IGBE-Ortsgruppe Oberhordel und dem Förderverein Hannover zur Erinnerung an den Bergbau in Hordel gestiftete Seilscheibe in der Kolonie Dahlhauser Heide
  • Bild 13: Arbeiterhäuser

    Am Rübenkamp 4 – Sitz der Dokumentationsstelle zur Kultur und Geschichte der Polen in Deutschland Porta Polonica
  • Bild 14: LWL-Industriemuseum Zeche Hannover

    Malakowturm mit angrenzender Maschinenhalle der Zeche Hannover / LWL-Industriemuseum im Bochumer Stadtteil Hordel
  • Bild 15: Ehemaliges KZ-Außenlager an der Brüllstraße

    Ehemaliges KZ-Außenlager an der Brüllstraße in Bochum, Aufnahme vom 19. Juni 1950.
  • Bild 16: Ehemaliges KZ-Außenlager an der Brüllstraße

    Ehemaliges KZ-Außenlager an der Brüllstraße in Bochum, 1954.
  • Bild 17: Ehemaliges KZ-Außenlager an der Brüllstraße

    Ehemaliges KZ-Außenlager an der Brüllstraße in Bochum. Aufnahme vom 05. Februar 1954.
  • Schriftzug Bank „Robotników eGmbH”, Dom Polski in Bochum

    Der verblichene Schriftzug Bank „Robotników eGmbH” erinnert an die Vergangenheit des Viertels als Zentrum polnischer Institutionen im Ruhrgebiet.
  • Schriftzug Bank „Robotników eGmbH”

    Der verblichene Schriftzug Bank „Robotników eGmbH” erinnert an die Vergangenheit des Viertels als Zentrum polnischer Institutionen im Ruhrgebiet.