Polenbilder in den deutschen Lebenswelten

Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch,1919
Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch,1919

Würde man wahllos Deutsche danach fragen, was ihnen beim Wort „Polen“ so in den Sinn kommt, so käme in etwa folgende „wilde Sammlung“ von Stereotypen und Assoziationen heraus: Polen klauen, können nicht parken, sind faul und chaotisch, sehr emotional, individualistisch, ultrakatholisch, antisemitisch, verlogen, haben Minderwertigkeitskomplexe und Überlegenheitsgefühle, arbeiten schwarz und billig in Deutschland, haben gefährlich verführerisch-schöne Frauen. Außerdem verlieren sie immer im Fußball. „Der Pole“ ist in erster Linie Handwerker oder Bauarbeiter – und früher war er der adlige Prasser –, „die Polin“ ist Putzfrau oder Pflegerin, insgesamt sind es deutsche Arbeitsplätze gefährdende Armutsmigranten, sie sind ungemein fleißig und haben ein „goldenes Händchen“. Man spricht von „polnischer Wirtschaft“ und meinte das früher als Synonym für heruntergekommene Zustände, heute aber positiv als Lob anspruchsloser Strebsamkeit. Polnisches Essen ist fett, schwer und langweilig, aber auch deftig und lecker, Polen schauen gerne tief ins Wodkaglas und brauen immer besser Bier, buckeln bei Deutschen und treten die Ukrainer, sie sind nationalistisch, unterscheiden ständig zwischen „wir“ (die Guten) und „die anderen“ (die Bösen), sind unglaublich gastfreundlich und herzlich, flexibel, spontan und wenig mäklig, humorvoll. Allerdings ist ihre Sprache schwierig, ihre Namen sind für Deutsche unaussprechbar, aber sie haben Solidarność, Lech Wałęsa, „Kuba“ Błaszczykowski, Robert Lewandowski, Papst Johannes Paul II. und einen Klavierkomponisten mit dem wunderschön einfach über die Lippen gehenden Namen Chopin ...

Offensichtlich hängen viele dieser Spuren und Bilder in den Köpfen mit sozialem und materiellem Gefälle zusammen. Dieses Gefälle führt zu Migration, denn warum wandern, wenn es daheim besser ist als anderswo? Die wenigsten Polinnen und Polen siedelten schließlich aus kulturellem Interesse in deutsche Länder über, sondern aus materieller Not, um für geringen Lohn Arbeiten zu verrichten, für die man wenig Landes- und Sprachkenntnisse, wohl aber zwei Hände und oft auch zwei Beine benötigt. Die Arbeitsmigranten in die Industriezentren der Kaiserzeit, vor allem ins Ruhrgebiet (Ruhrpolen), die Saisonarbeiter in der ostelbischen Landwirtschaft, die ausgebeuteten Zwangsarbeiter im Ersten und besonders im Zweiten Weltkrieg, später dann Schwarzarbeiter auf dem Bau, Heerscharen polnischer Putzfrauen und Erntehelfer auf Spargel- und Erdbeerfeldern, bis hin zu den hunderttausenden polnischen Pflegekräften in den Haushalten deutscher Rentner – sie alle brachten Fremdheit in vielfach noch geschlosse deutsche Milieus, wirkten verstörend, lösten ganz selbstverständliche Abwehr- oder Distinktionsbestrebungen aus („die Polacken“), mit der Zeit aber trugen sie auch zum Wandel der Spuren in den Köpfen bei: Galten sie lange als ungeliebte Konkurrenten am Arbeitsmarkt, als Vertreter einer geburtenstarken Nation im Osten, die ihren demographischen Überschuss im Westen ablud, gar als „Sozialschmarotzer“, so sind Polinnen und Polen in Deutschland – nicht zuletzt durch den EU-Beitritt Polens und die damit einhergehende rechtliche Gleichstellung – hunderttausendfach zu unersetzlichen Helfern in Haushalt und Garten, auf Feldern und in den Betrieben geworden: Aus „Faulheit“ wurde „Fleiß“, aus „Schmutz“ wurde „Eleganz“, aus „Fremdheit“ – „Vertrautheit“, vor allem auch deshalb, weil Polen von allen Zuwanderern nach Deutschland sicherlich zu denjenigen gehören, die sich am wenigsten von der Mehrheitsgesellschaft abheben. Insofern hat die enorme gesellschaftliche Verflechtung von Deutschen und Polen massiv zur Veränderung jener „Kopfspuren“ geführt: Die alte Dame im Odenwald (oder auch Schwarzwald, Sachsenwald usw.), die nie viel von Polen hielt, deren Wissen über Polen aus wenigen unreflektierten Versatzstücken der NS-Propaganda ihrer Elterngeneration bestand sowie aus den Ressentiments ihrer aus Schlesien vertriebenen Nachbarn, diese alte Dame – deren einziger Sohn in London lebt – ist nun vollends auf die bei ihr wohnende polnische Pflegekraft angewiesen. Und siehe da, weil diese mittlerweile sehr passabel Deutsch spricht, kann sie sich mit ihr über Gartenarbeit und die jüngsten Ereignisse in Europas fürstlichen Familien austauschen und nimmt auch eng an allen Familiengeschehnissen im fernen Polen Anteil. Soviel Abbau von Stereotypen leistet kein Geschichtsbuch.