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Die Kinder vom Bullenhuser Damm

Die ehemalige Schule Bullenhuser Damm in Hamburg, Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme, nach der Räumung im Mai 1945. Zu sehen sind auch die Auswirkungen eines Bombenangriffs vom 27./28. Juli 1943 und des anschließenden Brandes.

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  • Abb. 1: Sergio De Simone - Sergio De Simone aus Neapel, um 1943. Yad Vashem Photo Collections, Nr. 14142831
  • Abb. 2: Alexander Hornemann - Alexander Hornemann aus Eindhoven, um 1942. Yad Vashem Photo Collections, Nr. 14262100
  • Abb. 3: Eduard Hornemann - Eduard Hornemann aus Eindhoven, um 1942. Yad Vashem Photo Collections, Nr. 14262099
  • Abb. 4: Marek und Adam James - Marek James aus Radom mit seinem Vater Adam, um 1943. Yad Vashem Photo Collections, Nr. 14265681
  • Abb. 5: Walter Jungleib - Walter Jungleib aus Hlohovec, um 1942
  • Abb. 6: Georges André Kohn - Georges André Kohn aus Paris, um 1944
  • Abb. 7: Jacqueline Morgenstern - Jacqueline Morgenstern aus Paris bei ihrer Erstkommunion, 1944
  • Abb. 8: Die Angeklagten - Die Angeklagten im Neuengamme-Hauptprozess im Hamburger Curiohaus, 1946
  • Abb. 9: Eingang zum Rosengarten - Eingang zum Rosengarten, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 10: Denkmal für die ermordeten sowjetischen Häftlinge - Anatoli Mossitschuk: Denkmal für die ermordeten sowjetischen Häftlinge, 1985. Am Eingang zum Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 11: Rosengarten - Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg. Blick auf den Zaun mit den Gedenktafeln für die ermordeten Kinder, die Ärzte und die Pfleger.
  • Abb. 12: Gedenktafel - Gedenktafel und Zaun mit den Granittafeln für die ermordeten Kinder. Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 13: Gedenktafel für Surcis Goldinger - Gedenktafel für Surcis Goldinger aus Ostrowiec Świętokrzyski, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 14: Gedenktafel für Lea Klygerman - Gedenktafel für Lea Klygerman aus Ostrowiec Świętokrzyski, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 15: Gedenktafel für H. Wasserman - Gedenktafel für das Mädchen H. Wasserman aus Polen, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 16: Gedenktafel für Marek James - Gedenktafel für Marek James aus Radom, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 17: Gedenktafel für Roman und Eleonora Witoński - Gedenktafel für Eleonora und Roman Witoński aus Radom, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 18: Gedenktafel für R. Zeller - Gedenktafel für den Jungen R. Zeller aus Polen, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 19: Gedenktafel für Eduard und Alexander Hornemann - Gedenktafel für Eduard und Alexander Hornemann aus Eindhoven, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 20: Gedenktafel für Riwka Herszberg - Gedenktafel für Riwka Herszberg aus Zduńska Wola, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 21: Gedenktafel für Georges André Kohn - Gedenktafel für Georges André Kohn aus Paris, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 22: Gedenktafel für Jacqueline Morgenstern - Gedenktafel für Jacqueline Morgenstern aus Paris, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 23: Gedenktafel für Ruchla Zylberberg - Gedenktafel für Ruchla Zylberberg aus Zawichost, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 24: Gedenktafel für Eduard Reichenbaum - Gedenktafel für Eduard Reichenbaum aus Kattowitz, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 25: Gedenktafel für Mania Altman - Gedenktafel für Mania Altman aus Radom, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 26: Gedenktafel für Sergio De Simone - Gedenktafel für Sergio De Simone aus Neapel, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 27: Gedenktafel für Lelka Birnbaum - Gedenktafel für Lelka Birnbaum aus Polen, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 28: Gedenktafel für Walter Jungleib - Gedenktafel für Walter Jungleib aus Hlohovec, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 29: Gedenktafel für Bluma Mekler - Gedenktafel für Bluma Mekler aus Sandomierz, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 30: Gedenktafel für Marek Steinbaum - Gedenktafel für Marek Steinbaum aus Radom, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 31: Gedenktafel für den Arzt Gabriel Florence - Gedenktafel für den Arzt Professor Gabriel Florence aus Lyon, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 32: Gedenktafel für den Arzt René Quenouille - Gedenktafel für den Arzt René Quenouille aus Villeneuve-Saint-Georges, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 33: Gedenktafel für den Pfleger Dirk Deutekom - Gedenktafel für den Pfleger Dirk Deutekom aus Amsterdam, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 34: Gedenktafel für den Pfleger Anton Hölzel - Gedenktafel für den Pfleger Anton Hölzel aus Deventer, Rosengarten bei der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 35: Gemälde von Jürgen Waller, 1987 - Jürgen Waller: 21. April 1945, 5 Uhr morgens, 1987. Öl auf Leinwand, Montagen, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 36: Gedenkstele von Leon Mogilevski, 2000 - Gedenkstele für die Kinder vom Bullenhuser Damm. Roman-Zeller-Platz, Hamburg
  • Abb. 37: Ehemalige Janusz-Korczak-Schule, Hamburg - Ehemalige Janusz-Korczak-Schule am Bullenhuser Damm 92, Hamburg-Rothenburgsort
  • Abb. 38: Gedenktafeln für die ehem. Janusz-Korczak-Schule - Gedenktafeln für die Janusz-Korczak-Schule am Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 39: Denkmaltafel der ehem. Janusz-Korczak-Schule - Denkmaltafel der Freien und Hansestadt Hamburg für die ehemalige Janusz-Korczak-Schule am Bullenhuser Damm 92, Hamburg-Rothenburgsort
  • Abb. 40: Ausstellungsraum 1 - Ausstellungsraum 1 mit symbolischen Koffern für die Biografien der Kinder, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 41: Ausstellungsraum 1 - Ausstellungsraum 1 mit symbolischen Koffern für die Biografien der Kinder, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 42: Koffer für Riwka Herszberg - Symbolischer Koffer für die Biografie von Riwka Herszberg aus Zduńska Wola, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 43: Koffer für Ruchla Zylberberg - Symbolischer Koffer für die Biografie von Ruchla Zylberberg aus Zawichost, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 44: Koffer für Mania Altman - Symbolischer Koffer für die Biografie von Mania Altman aus Radom, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 45: Koffer für Eleonora Witońska - Symbolischer Koffer für die Biografie von Eleonora Witońska aus Radom, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 46: Koffer für Roman Witoński - Symbolischer Koffer für die Biografie von Roman Witoński aus Radom, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 47: Koffer für Professor Gabriel Florence - Koffer für den Arzt Professor Gabriel Florence aus Lyon, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 48: Ausstellungsraum 2 - Ausstellungsraum 2 mit vertiefenden Materialien zu den Biografien der Kinder und allen Aspekten des Tatgeschehens, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 49: Tatraum - Tatraum mit einem Verschlag, in dem Leichen der Kinder lagen, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
  • Abb. 50: Gedenkraum für die ermordeten Opfer - Inschrift von 1979, Gedenkstätte Bullenhuser Damm, Hamburg
Die ehemalige Schule Bullenhuser Damm in Hamburg, Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme, nach der Räumung im Mai 1945.
Die ehemalige Schule Bullenhuser Damm in Hamburg, Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme, nach der Räumung im Mai 1945. Zu sehen sind auch die Auswirkungen eines Bombenangriffs vom 27./28. Juli 1943 und des anschließenden Brandes.

„Die Kinder sprachen alle ein gebrochenes Deutsch mit polnischem Akzent. Nach einer Weile kam Frahm rein und sagte, die Kinder sollen sich ausziehen. Ich sah, dass die Kinder etwas stutzten, und deswegen sagte ich, ihr sollt euch ausziehen, weil ihr noch gegen Typhus geimpft werden sollt. Ich nahm jetzt Frahm vor die Tür, damit die Kinder nichts hören konnten und fragte ihn dort leise, was soll mit den Kindern geschehen? Frahm war auch ganz blass und sagte, ich soll die Kinder aufhängen.“[1]

Der SS-Hauptsturmführer und KZ-Arzt Dr. Alfred Trzebinski, der dies am 24. April 1946 im Hamburger Curiohaus-Prozess aussagte und der zusammen mit anderen Tätern die Kinder in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs ermordet hatte, kannte den polnischen Akzent seiner Opfer nur zu gut. Er selbst war 1902 in Jutroschin in der preußischen Provinz Posen (heute Jutrosin, Wojewodschaft Großpolen) geboren worden, die 1919/20 durch den Versailler Vertrag zu Polen gekommen war. Außerdem hatte er einen polnischen Vater. Die Kinder stammten jedoch nicht alle aus Polen. Von den 20 jüdischen Kindern, die in der ehemaligen Schule am Bullenhuser Damm im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort erhängt worden waren, kamen eines aus Italien, zwei aus den Niederlanden, eines aus der Slowakei, zwei aus Frankreich und 14 aus Polen. Alle Kinder waren im Herbst 1944 im Konzentrationslager Auschwitz von ihren Eltern getrennt, für medizinische Versuche ausgesucht und nach Hamburg ins KZ Neuengamme gebracht worden.
 

Die Wege der Kinder ins Konzentrationslager Auschwitz
 

Mania Altman, geboren am 7. April 1938 im polnischen Radom als Tochter von Pola und Shir Altman, einem Schumacher, lebte ab dem Frühjahr 1941 mit ihrer Familie in dem von den deutschen Besatzern in Radom eingerichteten Getto. Die Eltern sowie die Tanten und Onkel, die mit ihren Familien ebenfalls im Getto lebten, mussten in verschiedenen Lagern arbeiten. Über das nahe gelegene Zwangsarbeitslager Pionki, dem Pulverfabriken angeschlossen waren, wurde Mania mit ihren Eltern im Sommer 1944 ins KZ Auschwitz deportiert. Der Vater kam anschließend ins KZ Mauthausen und wurde dort in den letzten Kriegswochen ermordet. Im August 1944 wurde Mania in Auschwitz von ihrer Mutter getrennt. Sie war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Pola Altman wurde im Oktober in ein Außenlager des KZs Groß-Rosen deportiert, dort 1945 befreit und emigrierte 1951 in die USA. Bis zu ihrem Tod 1971 hat sie nichts über das Schicksal ihrer Tochter erfahren.

Lelka Birnbaum, die etwa 1933 in Polen geboren wurde, ist nur von einer Namensliste bekannt, die der dänische Arzt und Häftling des KZs Neuengamme, Dr. Henry Meyer, mit Nachname, Geschlecht und Alter in dem zusammen mit dem schwedischen Arzt Gerhard Rundberg verfassten Buch „Rapport fra Neuengamme“ veröffentlichte. Ihr vollständiger Name erscheint außerdem auf dem Deckblatt zu einer Röntgenaufnahme und auf einem Foto, mit dem die an ihr verübten medizinischen Experimente dokumentiert wurden. Als sie in Auschwitz eintraf, war sie vermutlich elf Jahre alt.

Sergio De Simone (Abb. 1 . ) wurde am 29. November 1937 in Neapel geboren. Seine Mutter Gisella, geborene Perlow, stammte aus Fiume/Rijeka und war Jüdin, der katholische Vater, Edoardo De Simone war Schiffsoffizier. Wegen der alliierten Luftangriffe auf Neapel zog die Familie im Sommer 1943 nach Fiume, wo Sergio, seine Mutter und sieben weitere Familienmitglieder, darunter auch seine Cousinen Alessandra und Tatiana, im März 1944 verhaftet und über das KZ und Sammellager Risiera di San Sabba bei Triest am 4. April 1944 ins KZ Auschwitz deportiert wurden. Sergio war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Der Vater wurde als Zwangsarbeiter nach Dortmund verschleppt. Die Mutter wurde im Konzentrationslager Ravensbrück befreit und auch die beiden Cousinen überlebten. In Italien trafen sich die Eltern wieder. Die Mutter hoffte bis zu ihrem Tod 1984, dass ihr Sohn noch leben würde.

 

[1] Aussage von Dr. Alfred Trzebinski im Curiohaus-Prozess, 24.4.1946, zitiert nach: Curiohaus-Prozess, verhandelt vor dem britischen Militärgericht in der Zeit vom 18. März bis zum 3. Mai 1946 gegen die Hauptverantwortlichen des KZ Neuengamme, hrsg. vom Freundeskreis e. V., Hamburg 1969, Band 3, S. 346-351. Zitiert nach: Dossier Täter vor Gericht. Die Curio-Haus-Prozesse, http://media.offenes-archiv.de/01_gruen_aussagen_01.04.11_klein.pdf

Surcis Goldinger, die 1934 oder 1935 in Polen geboren wurde, ist mit Nachnamen, Alter, Geschlecht und ihrer Herkunft aus Polen auf jener Liste vermerkt, die Henry Meyer im „Rapport fra Neuengamme“ publizierte. Ein Mädchen ihres Namens ist auch auf der Liste eines Transports vermerkt, der am 3. August 1944 von einem NS-Zwangsarbeitslager in Ostrowiec Świętokrzyski in Polen nach Auschwitz ging. Surcis war zu diesem Zeitpunkt etwa zehn Jahre alt.

Riwka Herszberg, geboren am 7. Juni 1938 in Zduńska Wola in der polnischen Wojewodschaft Łódź, war die Tochter von Mania und Mosze Herszberg, dem Geschäftsführer einer kleinen Textilfabrik. Die Familie wurde im Sommer 1944 über das von den Nationalsozialisten in Piotrków eingerichtete Sammellager in das KZ Auschwitz deportiert, wo Riwka und ihre Mutter im Frauenlager interniert wurden. Der Vater wurde im Januar 1945 ins KZ Buchenwald gebracht und dort drei Monate später ermordet. Nachdem die Mutter am 23. November 1944 in ein KZ-Außenlager in Lippstadt überstellt worden war, wurde ihre Tochter fünf Tage später in das KZ Neuengamme transportiert. Sie war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Mania Herszberg überlebte das Kriegsende und emigrierte später in die USA.

Alexander und Eduard Hornemann (Abb. 2 . , 3 . ) stammten aus Eindhoven in den Niederlanden. Eduard wurde am 1. Januar 1933, Alexander am 31. Mai 1936 geboren. Der Vater Carl Philip Hornemann arbeitete bei der Elektro- und Radiogerätefirma Philips. Ab 1941 versteckte sich die Mutter Elisabeth mit ihren Söhnen auf verschiedenen Bauernhöfen. Als die rund 100 jüdischen Angestellten der Firma 1943 in das Konzentrationslager Herzogenbusch bei Vught verschleppt wurden, folgte Elisabeth ihrem Mann mit den Kindern. Die Familie wurde am 3. Juni 1944 ins KZ Auschwitz deportiert. Eduard war zu diesem Zeitpunkt elf, Alexander acht Jahre alt. Nachdem die Mutter im September an Typhus gestorben war, wurden Eduard und Alexander in die Kinderbaracke verlegt und am 28. November 1944 nach Neuengamme gebracht. Der Vater kam später in das Konzentrationslager Dachau und starb am 21. Februar 1945 auf einem Transport ins KZ Sachsenhausen.

Marek James (Abb. 4 . ) aus Radom in Polen wurde am 17. März oder 17. April 1939 geboren. Seit der Einrichtung des Gettos von Radom durch die deutschen Besatzer im März 1941 mussten seine Eltern Adam und Zela mit ihm dort leben und kamen 1943 wie Mania Altmans Familie ins Zwangsarbeitslager Pionki. Von dort wurden sie im Sommer 1944 ins KZ Auschwitz deportiert, wo Marek von seiner Mutter getrennt wurde. Er war zu diesem Zeitpunkt fünfeinhalb Jahre alt. Die Mutter überlebte das Kriegsende im Frauen-Außenlager des KZs Groß-Rosen im böhmischen St. Georgenthal/Jiřetín, der Vater in den Außenlagern Glöwen und Rathenow des KZs Sachsenhausen. Sie lebten anschließend in Süddeutschland, bekamen einen weiteren Sohn und emigrierten 1949 in die USA.

Walter Jacob Jungleib (Abb. 5 . ) kam am 12. August 1932 im slowakischen Hlohovec als Sohn des Goldschmieds und Uhrmachers Arnold Jungleib und seiner Frau Malvina, geborene Frieder, zur Welt, die schon die zweijährige Tochter Grete hatten. Die Eltern besaßen ein Juweliergeschäft. Im Zuge der Judenverfolgung musste die Familie ab 1942 mehrfach umziehen und wurde über das Durchgangslager Sered’ in der Westslowakei im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und dort getrennt. Walter war zur diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Der Vater starb später im Konzentrationslager Mauthausen. Die Mutter wurde wie die von Riwka Herszberg am 23. November 1944 in ein KZ-Außenlager in Lippstadt überstellt, wo sich ihre Spur verliert. Grete überlebte den Holocaust und lebt in Israel nahe Tel Aviv.

Lea Klygerman (Kligerman) wurde am 28. April 1937 in Ostrowiec Świętokrzyski in Polen geboren. Aus dem dortigen NS-Zwangsarbeitslager wurden sie und ihre jüngere Schwester Rifka zusammen mit ihrer Mutter Ester, geborene Herczyk, wie Surcis Goldinger am 3. August 1944 nach Auschwitz deportiert. Lea war sieben Jahre alt und wurde am 28. November des Jahres ins KZ Neuengamme gebracht. Über das Schicksal von Rifka ist nichts bekannt. Der Vater Berek Klygerman wurde aus dem 40 Kilometer südwestlich von Radom gelegenen NS-Zwangsarbeitslager Bliżyn, einem Außenlager des Konzentrationslagers Majdanek, nach Auschwitz deportiert, kam im Oktober 1944 in das KZ Sachsenhausen und später ins KZ Buchenwald, wo er im Februar 1945 starb. Ester Klygerman überlebte und kehrte nach Polen zurück. In den 1970er-Jahren wanderte sie nach Israel aus und heiratete erneut.

Georges André Kohn (Abb. 6 . ) wurde am 23. April 1932 in Paris in einer Familie geboren, die mit der englischen Bankiersfamilie Rothschild verwandt war. Die Mutter Suzanne (1895-1945), geborene Nêtre, war Tochter eines Tabakfabrikanten und über einen Cousin 1. Grades mit der Familie Rothschild verschwägert. Der Vater Armand Edouard Kohn (1894-1962), Nachfahre einer der ältesten und etabliertesten jüdischen Familien Frankreichs, war Bankier und seit 1940 Generalsekretär der Hôpital Fondation Adolphe de Rothschild und Geschäftsführer des Hôpital Rothschild, des ersten jüdischen Krankenhauses in Paris,[2] in dem während der deutschen Besatzung die Kranken aus dem Sammellager Drancy vor dem Transport in die Vernichtungslager untergebracht waren. Die Familie hatte noch drei weitere Kinder, Antoinette, Rose Marie und Philippe, die zum Zeitpunkt der Deportation 22, 18 und 21 Jahre alt waren. Mit der Familie zusammen lebte die Großmutter Marie Jeanne, geborene Weisweiler, aus Frankfurt am Main im Alter von 72 Jahren. Mutter Suzanne konvertierte 1942 zusammen mit ihren Kindern zum katholischen Glauben, um sich vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu schützen. Gleichwohl wurde die Familie im Juli 1944 zusammen mit einer zuvor weniger gefährdeten Gruppe prominenter Juden verhaftet, im Durchgangslager Drancy interniert und am 17. August 1944, eine Woche vor der Befreiung von Paris, mit dem letzten Deportationszug nach Deutschland gebracht. Auf dem Zug diente die Gruppe von 51 Deportierten dem mitreisenden SS-Hauptsturmführer Alois Brunner und seinem Militärpersonal als Geiseln. Noch auf französischem Gebiet konnten die Geschwister Rose Marie und Philippe zusammen mit 30 anderen aus dem Zug fliehen und wurden bis zur Befreiung Frankreichs in Saint-Quentin versteckt. Der Vater Armand wurde ins KZ Buchenwald bei Weimar transportiert, dort im April 1945 befreit und kehrte nach Frankreich zurück. Die verbliebenen Familienmitglieder wurden weiter ins KZ Auschwitz-Birkenau geschickt. Suzanne Kohn und ihre Tochter Antoinette wurden einige Zeit später ins KZ Bergen-Belsen verlegt, wo sie wenig später starben. Die Großmutter Marie Jeanne wurde nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast. Georges André kam, so berichtete ein französischer Mithäftling später, nach seiner Ankunft ins Arbeitslager D und wurde als Transportarbeiter bei den Rollwagen eingesetzt. Bis zum Abtransport seiner Mutter konnte er für einige Wochen mit ihr über geheime Briefe in Kontakt bleiben. Er war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt.

Bluma (Blumel) Mekler wurde 1934 im polnischen Sandomierz geboren. Ihre Eltern, Sara, geborene Taitelbaum, geboren 1903 in Koćmierzów im Landkreis Sandomierz, und Herszel/Hershel Mekler, geboren 1889 in Sandomierz, führten einen Landhandel. Der Vater war auch Religionslehrer im Cheder, einer Grundschulklasse, in der die Jungen in der jüdischen Religion und Kultur unterrichtet wurden. Blumel hatte zwei Schwestern, Gita und Szifra, und zwei Brüder, Berl und Alter. Seit der Einrichtung eines geschlossenen Gettos in Sandomierz durch die deutsche Besatzung im Juni 1942 musste die Familie dort leben. Während der brutal durchgeführten Auflösungen des Gettos[3] am 29. Oktober 1942 und am 4. Januar 1943 wurde die Familie getrennt. Bei einer Razzia im Oktober 1942 lief die Schwester Szifra/Shifra nach Aufforderung durch die Mutter weg, wurde bis zum Kriegsende von polnischen Nachbarn versteckt und gelangte über ein jüdisches Waisenhaus in Lublin 1947 in einen Kibbuz in Israel.[4] Der 1929 geborene Bruder Alter gelangte über das KZ Majdanek ins Konzentrationslager Auschwitz, das er überlebte. Er traf seine Schwester Shifra in Israel wieder. Wie Bluma Mekler nach Auschwitz kam und was mit ihren Eltern und ihren anderen Geschwistern geschah, ist nicht bekannt. Sie wurde ebenfalls am 28. November 1944 ins KZ Neuengamme gebracht. Sie war zehn oder elf Jahre alt.

Jacqueline Morgenstern (Abb. 7 . ) wurde am 26. Mai 1932 in Paris geboren. Ihre Mutter Suzanne war Sekretärin, ihr Vater Charles besaß zusammen mit seinem Bruder Leopold einen Friseursalon. Nach der Besetzung von Paris durch die deutsche Wehrmacht mussten die Brüder Morgenstern ihren Salon an einen Nichtjuden abtreten. 1943 floh die Familie in den nicht besetzten Teil Frankreichs nach Marseille. Dort wurde die Familie verhaftet und in das Sammellager Drancy bei Paris gebracht. Am 20. Mai 1944 wurde sie in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Die Mutter wurde dort ermordet, Jacqueline wie die anderen Kinder am 28. November 1944 ins KZ Neuengamme transportiert. Sie war zwölf Jahre alt. Der Vater wurde bei der Räumung des Lagers Auschwitz mit dem letzten Transport ins KZ Dachau gebracht und starb dort nach der Befreiung im Mai 1945.
 

[2] Jeremy Josephs: Swastika over Paris, London 1990, Seite 43

[3] Zur Geschichte des Gettos Sandomierz vergleiche Polin. Virtuelles Schtetl, https://sztetl.org.pl/de/stadte/s/697-sandomierz/116-orte-der-martyrologie/50395-ghetto-sandomierz-sandomir, dort auch Literatur

[4] Günther Schwarberg: Renn, Shifra, renn!, in: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wissenschaft, Berlin, Nr. 8/2005; online: https://www.sopos.org/aufsaetze/429a0f70ad33e/1.phtml.html

Eduard Reichenbaum wurde am 15. November 1934 als Sohn von Sabina und Ernst Reichenbaum, die schon einen zwei Jahre älteren Sohn, Jerzy, hatten, im polnischen Kattowitz geboren. Der Vater arbeitete als Buchhalter in einem deutschsprachigen Verlag. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog die Familie nach Piotrków, wo die Großeltern wohnten. 1943 wurde sie von den Deutschen im Zwangsarbeitslager Bliżyn südwestlich von Radom interniert, wo Eduard und Jerzy Strümpfe für die deutsche Wehrmacht produzieren mussten. Im September 1944 wurde die Familie in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Jerzy und sein Vater kamen in das Männerlager, wo Ernst Reichenbaum im November 1944 starb. Eduard und seine Mutter kamen zunächst ins Frauenlager, bis Sabina Reichenbaum im November 1944 wie die Mütter von Riwka Herszberg und Walter Jungleib in das KZ-Außenlager Lippstadt gebracht wurde. Eduard wurde in die Kinderbaracke verlegt und am 28. November 1944 ins KZ Neuengamme gebracht. Zwei Wochen zuvor war er zehn Jahre alt geworden. Jerzy wurde bei der Räumung des KZs Auschwitz erst ins KZ Sachsenhausen und dann ins KZ Mauthausen transportiert. Er überlebte und konnte nach der Befreiung nach Israel emigrieren, wohin ihm seine Mutter 1947 folgte. Jerzy, der sich in Israel Ytzhak nannte und heiratete, starb 2020 in Haifa.

Marek Steinbaum (Szteinbaum, Sztajnbaum) wurde am 26. Mai 1937 als Sohn von Mania, geborene Tauber, und Rachmiel Steinbaum in Radom geboren. Die Familie besaß dort eine kleine Lederfabrik. Aus dem im März 1941 von den deutschen Besatzern eingerichteten Getto kam die Familie in das Zwangsarbeitslager Pionki und wurde vermutlich Anfang Oktober 1944 ins KZ Auschwitz deportiert. Der Vater kam von dort in die Konzentrationslager Buchenwald, Groß-Rosen und in ein Außenlager des KZs Natzweiler-Struthof bei Stuttgart, wo er das Kriegsende überlebte. Die Mutter kam im November 1944 in das Frauen-Außenlager des KZs Groß-Rosen im böhmischen St. Georgenthal/Jiřetín, wo auch die Mütter von Marek James und von Eleonora und Roman Witoński inhaftiert waren, und überlebte ebenfalls. Als Marek am 28. November 1944 ins KZ Neuengamme transportiert wurde, war er sieben Jahre alt. Rachmil und Mania Steinbaum lebten nach Kriegsende in Memmingen, wo sie 1947 eine Tochter bekamen. 1949 wanderte die Familie in die USA aus.

H. Wasserman, ein Mädchen aus Polen, acht Jahre alt, wurde vermutlich 1937 geboren. Nachname, Alter, Geschlecht und Herkunft sind lediglich von jener Liste bekannt, die Dr. Henry Meyer 1945 in dem Buch „Rapport fra Neuengamme“ in Kopenhagen veröffentlichte. Die Anfangsbuchstaben H.W. sind außerdem auf einem Notizblatt des Lagerarztes Kurt Heißmeyer vermerkt, der die medizinischen Experimente an den Kindern durchführte.

Eleonora und Roman Witoński stammten aus Radom in Polen. Roman wurde am 8. Juni 1938 geboren, Eleonora am 16. September 1939. Zusammen mit ihrer Mutter Rucza und ihrem Vater Seweryn Witoński, einem Kinderarzt, mussten sie in dem im Frühjahr 1941 von den deutschen Besatzern in Radom eingerichteten Getto leben. An mehreren Tagen um den 21. März 1943 organisierte die deutsche Schutzpolizei in Radom und umliegenden Orten die sogenannte „Purim-Aktion“, bei der ca. 150 Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Dabei wurden aus dem Getto Radom über 100 Personen, die sich zuvor beim Judenrat für eine Ausreise ins Ausland gemeldet hatten, darunter auch die Familie Witoński, zum jüdischen Friedhof in Szydłowiec 20 Kilometer südwestlich von Radom gebracht. Auf der Fahrt dorthin stießen zwei Lastwagen mit Freiwilligen hinzu, die auf dem Friedhof begannen die Menschen zu erschießen.[5] Dabei wurde auch Seweryn Witoński ermordet. Nachdem das Feuer aus unerfindlichen Gründen eingestellt wurde, entdeckte man seine Ehefrau und die Kinder versteckt hinter einem Grabstein und brachte sie zusammen mit anderen Überlebenden ins Getto zurück. Sie wurden Ende Juli 1944 über das NS-Zwangsarbeitslager Pionki in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Rucza Witońska überlebte das Kriegsende, emigrierte nach Frankreich, heiratete und bekam einen weiteren Sohn. Unter ihrem neuen Namen Rose Grumelin suchte sie über dreißig Jahre nach ihren Kindern und erfuhr schließlich 1981 von deren Schicksal in Hamburg. Sie hatte sie zuletzt im November 1944 im KZ Auschwitz gesehen, als man die drei auf das Frauenlager und auf die Kinderbaracke verteilte. Als Roman und Eleonora wenig später ins KZ Neuengamme gebracht wurden, waren sie sechs und fünf Jahre alt. Rose Grumelin starb 2012 mit 99 Jahren in Paris.[6]
 

[5] Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn 2011, Seite 483. Vergleiche auch: Szydłowiec, auf: Cmentarze żydowskie w Polscehttps://bloodandfrogs.com/wp-content/uploads/encyclopedia/poland/kirkuty/szydlowiec.htm 

R. Zeller, ein Junge aus Polen, zwölf Jahre alt, wurde vermutlich 1933 geboren. Nachname, Alter, Geschlecht und Herkunft stehen auf der Liste, die Henry Meyer 1945 in seinem Buch „Rapport fra Neuengamme“ in Kopenhagen veröffentlichte. Außerdem notierte der Lagerarzt Kurt Heißmeyer die Anfangsbuchstaben R.Z. auf einem seiner Notizbögen und beschriftete damit eines der Fotos, die seine Experimente an den Kindern dokumentieren sollten.

Ruchla Zylberberg wurde am 6. Mai 1936 als Tochter von Fajga, geborene Rosenblum, und Nison Zylberberg, einem Schuhmacher, in der polnischen Kleinstadt Zawichost nördlich von Sandomierz geboren. Zwei Jahre später kam ihre Schwester Ester zur Welt. Als die deutsche Wehrmacht 1939 Polen besetzte, floh der Vater mit Bruder und Schwägerin nach Russland. Er wollte seine Familie später nachholen, was durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion jedoch unmöglich wurde. 1942 wurde die Mutter mit ihren Töchtern ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo Fajga und Ester ermordet wurden. Als Ruchla am 28. November 1944 in das KZ Neuengamme gebracht wurde, war sie acht Jahre alt. Der Vater kehrte 1946 nach Polen zurück und wanderte 1951 in die USA aus. Sein Bruder Henryk, der in Hamburg lebte, erkannte 1979 als erster Ruchlas Bild in einem Pressebericht über die Kinder vom Bullenhuser Damm. Nison Zylberberg bestätigte die Identität seiner Tochter. Er starb 2002.
 

Menschenversuche an Häftlingen und Kindern im KZ Neuengamme
 

Im Frühjahr 1944 trafen sich führende Mediziner der deutschen Reichsregierung und der SS zu einem informellen Treffen im Casino der Heilanstalten Hohenlychen, die von 1902 bis 1945 in der Stadt Lychen im Landkreis Uckermark im Norden von Brandenburg angesiedelt waren. Neben dem Klinikbetrieb, der traditionell der Heilung von Lungenkrankheiten und zuletzt der Behandlung von Sportverletzungen und Arbeitsschäden diente, galt Hohenlychen als in Mode gekommener Erholungsort für Nazigrößen wie Hitler und dessen Minister, für SS-Führer, Generäle und Offiziere der Waffen-SS, Reichsleiter, Reichssportführer, Staatssekretäre und Heeresoffiziere. Aber auch internationale Delegationen verkehrten dort. Bei dem fraglichen Treffen kamen unter anderem der Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti, der Reichsarzt SS und Polizei Dr. Ernst-Robert Grawitz und der Chefarzt von Hohenlychen, Prof. Dr. Karl Gebhardt, zusammen, welcher seinem Oberarzt, Dr. Kurt Heißmeyer, Gelegenheit zu einem kurzen Vortrag gab.

Heißmeyer, geboren 1905 in Lamspringe, hatte in Freiburg promoviert und arbeitete seit 1938 in Hohenlychen. Sein Onkel August Heißmeyer war General der Waffen-SS. Mit dem General der Waffen-SS Oswald Pohl, im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt für die Konzentrationslager zuständig, war er befreundet. Um Professor zu werden, musste er eine Habilitationsschrift erarbeiten, in der er sich mit der Bekämpfung der Tuberkulose beschäftigen wollte. In seinem Vortrag schlug er eine Versuchsreihe an Menschen vor, bei der an Tuberkulose erkrankte Personen künstlich mit einem weiteren Tuberkuloseherd infiziert werden sollten, indem man ihnen im Sinne einer Impfung abgetötete Tuberkelbazillen in die angeritzte Haut einreiben würde. Dieser längst widerlegte Forschungsansatz des österreichischen Mediziners Hans Kutschera-Aichbergen sollte die Immunität und den Heilungsprozess in der Lunge verbessern. Conti, Grawitz und Gebhardt kamen überein, dass Heißmeyer die geplanten Versuche an Inhaftierten des Konzentrationslagers Ravensbrück durchführen sollte, wo Gebhardt bereits seit dem Juli 1942 verschiedene Experimente vornehmlich an weiblichen Gefangenen erprobte. Voraussetzung war, dass Reichinnenminister Heinrich Himmler, der sich alle Genehmigungen für Menschenversuche vorbehalten hatte, damit einverstanden wäre. Pohl überbrachte schließlich Himmlers Erlaubnis, verlangte jedoch, dass die Experimente nicht in Ravensbrück stattfinden sollten, da das Ausland bereits von Gebhardts dortigen Versuchen erfahren hatte. Er einigte sich schließlich mit Heißmeyer auf das Konzentrationslager Neuengamme in Hamburg als einem etwas „diskreteren“ Ort für die Experimente.[7] 
 

[7] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 9–14. Vergleiche auch Sterkowicz 1977/2021, siehe Literatur und Online)

Ende April 1944 fuhr Heißmeyer erstmals zusammen mit dem Leiter des Amtes für Sanitätswesen und Lagerhygiene des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts, Dr. Enno Lolling, ehemals Lagerarzt der Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen, nach Neuengamme. Lagerkommandant Max Pauly hatte dort eine Baracke für Heißmeyers Experimente vorbereiten lassen. Die Fenster waren weiß gestrichen und ein Bretterzaun war errichtet worden, damit das Innere nicht eingesehen werden konnte. Heißmeyer lernte dort auch den Standortarzt, Dr. Alfred Trzebinski, kennen, der die Versuche überwachen sollte.

Die Experimente begannen im Juni 1944 und wurden zunächst überwiegend an polnischen und sowjetischen Gefangenen durchgeführt. Die Probanden kamen zunächst aus drei Gruppen von Kranken: solchen mit doppelseitiger Lungentuberkulose, Personen mit nur einem befallenen Lungenflügel und solchen mit Tuberkulosebefall in anderen Organen. Anschließend wurden „zur Kontrolle“ gesunde Gefangene mit Tuberkulose infiziert. Die hoch ansteckenden lebenden Tuberkelbazillen, die Heißmeyer verwendete, stammten aus einem bakteriologischen Institut in Berlin, das jedoch nichts von den Menschenversuchen wusste. Schon die Herstellung der Injektionslösungen in der Baracke in Neuengamme fand unter unprofessionellen und damit lebensgefährlichen Bedingungen statt. Den Gefangenen wurden lebende Bazillenstämme in den Bereich des Herzmuskels injiziert. Nach einer Woche wurde ihnen Lymphknoten entnommen, diese nach Berlin geschickt und aus ihnen neue TB-Kulturen gewonnen. Diese wurden den Probanden im Abstand von 14 Tagen erneut gespritzt, aber auch eigener infizierter Speichel wurde ihnen in Hautritzungen eingerieben. Den gesunden Probanden wurde Tuberkulose-Serum durch einen Gummischlauch in die Lungen eingeführt.

Mit der medizinischen Betreuung der Probanden wurden anfangs zwei inhaftierte polnische Ärzte betraut, Dr. Tadeusz Kowalski, der zuvor im KZ Auschwitz eingesessen war, und Dr. Zygmunt Szafrański. Beide überlebten das Kriegsende und konnten 1946 vor Gerichten aussagen: Kowalski im Neuengamme-Hauptprozess vor dem britischen Militärgericht in Hamburg, Szafrański vor dem Untersuchungsrichter Kazimierz Borys in Radom.[8] Heißmeyer ersetzte Kowalski und Szafrański später durch zwei inhaftierte französische Ärzte, Prof. Gabriel Florence und Dr. René Quenouille, die am 20. April 1945 gemeinsam mit den Kindern erhängt wurden, damit sie nicht mehr aussagen konnten. Wie viele Erwachsene sich Heißmeyers pseudo-medizinischen Experimenten unterziehen mussten, ist nicht bekannt. Insgesamt sind es vermutlich über 100 gewesen. Von 32 Versuchspersonen haben sich Krankenakten erhalten. Mindestens 16 ursprünglich gesunde Probanden wurden mit Tuberkulose infiziert.[9] Die Folgen waren hohes Fieber, Schwellungen der Lymphknoten, Entzündungen und die Bildung von Abszessen. Nach Abschluss der Experimente wurden einige Häftlinge exekutiert, anschließend seziert und die Befunde von Heißmeyer ausgewertet. Andere starben Tage oder Wochen nach den Versuchen. Die Überlebenden blieben gesundheitlich schwer geschädigt.[10]

Dr. Tadeusz Kowalski sagte am 22. März 1946 in Hamburg im Neuengamme-Hauptprozess, auch Curiohaus-Prozess genannt, aus: „Das erste Mal kam er [Heißmeyer] im Sommer 1944 und gab dem SDG [SS-Sanitätsdienstgrad] Befehl vom Revier II 50 Kranke zu bringen […]. Von diesen 50 hat er 20 oder 25 ausgesucht mit einseitiger Tbc. […] Es waren Russen und Polen. […] Dr. Schrapansky [Szafrański] wurde mit diesen sechs Tage eingesperrt. Es war ihm streng untersagt hinauszugehen. Das Essen wurde ihm vom SDG gebracht. Er musste Krankengeschichten machen und klinische Beobachtungen, dabei für Sauberkeit und Ordnung sorgen. […] Ich habe Aufnahmen gesehen, mit Gummischläuchen, die durch die Bronchien in die Lungen geleitet worden waren. Die Aufnahmen hat Prof. Heißmeyer gemacht. Quenouille war dabei und hat gesagt, dass er entweder Tbc-Sputum oder Spezial-Tbc in die gesunde Lunge gespritzt hat. […] Nach ein paar Wochen hat Quenouille neue Röntgenaufnahmen gezeigt, auf denen große spezifische Infiltrate zu sehen waren. Auch mit anderen Kranken haben sie Einreibungen gemacht und nach ein paar Wochen Drüsen von diesen Kranken entfernt. Der Zustand dieser Kranken war später sehr schwer und ich weiß genau, dass bis zum 18. April [1945] 50 % von diesen Kranken gestorben sind.“[11]
 

[8] „Vor Gericht machte [Kowalski] detaillierte Angaben zu den Menschenversuchen, die der Arzt Dr. Kurt Heißmeyer dort an Häftlingen durchführte.“ (Ausstellungstafel Die Zeugen im Hauptprozess zum KZ Neuengamme, http://media.offenes-archiv.de/Rathausausstellung_2017_Curio_10.pdf) In Polen berichtete Kowalski in einer Vorlesung vor der lokalen medizinischen Gesellschaft in Kowary am 27.6.1946 von den Experimenten. Eine Zusammenfassung erschien in der Zeitschrift Śląska Gazeta Lekarska, Band 2, 1946, Nr. 11, Seite 712; Online-Ressource: https://sbc.org.pl/dlibra/publication/391232/edition/368708/content. ­– Witness Szafrański Zygmunt, auf: Zapisy terroru, https://www.zapisyterroru.pl/dlibra/publication/2017/edition/1999/content?&navref=MWswOzFqaSAyeDE7MndpIDFrMTsxamo 

[9] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 33–36, sowie Sterkowicz 1977/2021, siehe Literatur und Online

[10] Medizinische Experimente an Häftlingen: Die Tuberkuloseexperimente des SS-Arztes Dr. Kurt Heißmeyer, auf: auf: Mediathek Ausstellungen Neuengamme, http://www.neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha3_5_1_2_thm_2523.pdf

[11] Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Seite 100 f., zitiert nach: Medizinische Experimente an Häftlingen (siehe Anmerkung 10)

Heißmeyer, der nach dem Krieg zunächst unbehelligt blieb und in der DDR bis 1963 in einer eigenen Praxis und als Direktor der privaten Magdeburger Klinik des Westens praktizieren konnte, wurde dort am 13. Dezember 1963 verhaftet. In den Voruntersuchungen zum späteren Prozess, in denen auch Dr. Szafrański aussagte, bekannte Heißmeyer: „Ich wusste, dass das Serum giftig war und wollte aber die immunbiologischen Verhältnisse bei Menschen klären. Mir war bekannt, dass ich derartige Versuche mit einem virulenten Serum niemals an Menschen vornehmen durfte, aber andererseits wusste ich auch, dass Versuche an Meerschweinchen zwecklos waren, denn in der Natur erkranken diese Tiere nicht an Tuberkulose. Deshalb bin ich mit meinen Versuchen in ein Konzentrationslager gegangen, wo mir Versuchspersonen in genügender Zahl zur Verfügung standen und ich keine Rücksicht [zu] nehmen brauchte. Ich wusste um das Risiko meiner Versuche und um die möglichen Todesfolgen, aber ich wollte ja […] eine wissenschaftliche Arbeit veröffentlichen. […] Die Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme sowie die auf meine Veranlassung im Herbst 1944 dorthin gebrachten Kinder waren für mich nur Versuchsobjekte …“[12] Nachdem Heißmeyer im Herbst 1944 erkannt hatte, dass seine Experimente Tuberkulose bei Erwachsenen durch Neuinfektionen zu heilen missglückt waren und sich der Gesundheitszustand der Häftlinge stattdessen verschlechtert hatte, brach er, wie er ebenfalls aussagte, „die Versuche ab und forderte 20 Kinder an, an denen ich mit dem gleichen Serum Versuche zur Immunisierung gegen Tbc sowie zur Feststellung einer eventuell bereits vorhandenen Immunität vornahm.“[13]  

Über den Transport der Kinder am 28./29. November 1944 vom Konzentrationslager Auschwitz nach Neuengamme berichtete die Zahnärztin Dr. Haja (Paulina) Trocki-Musnicki, geboren 1905 in Kischinau, die in Belgien studierte hatte und von dort als Widerstandskämpferin nach Auschwitz deportiert worden war, in einem 1956 angefertigten Gesprächsprotokoll. Es wurde in Israel von dem aus Berlin stammenden Zeithistoriker Kurt-Jacob Ball-Kaduri für die Gedenkstätte Yad Vashem stenographiert: „Von September oder Oktober 1944 an, als er [der Krieg] schon zum Ende ging, wurden ankommende Kinder in Auschwitz nicht mehr vernichtet (oder nicht alle?). Als ich im August kam, wurden noch von meinem Transport alle Kinder beseitigt. Aber danach blieben sie leben, und Ende des Jahres waren in Auschwitz etwa 300 Kinder, in einem Block. […] Die Kinder hatten es gut, da alle Erwachsenen irgendwie für sie sorgten, d.h. alle Häftlinge. Ich wurde eines Mittags zum Lagerführer gerufen, und mir wurde gesagt, dass ich mit Kindern auf einen Transport gehen müsste, sie zu begleiten. Außer mir 3 Schwestern, davon eine Laborantin aus Ungarn. Es waren 10 Jungen und 10 Mädchen, im Alter zwischen 6 und 12 Jahren, alles Juden, aber aus den verschiedensten Ländern, zwei waren aus Paris. Ich fragte, weshalb die Kinder verschickt würden. Man sagte: alles Kinder ohne Eltern. Von den Kindern erfuhr ich, dass viele der Eltern im Arbeitslager auf Transport geschickt worden waren.“[14]

Der von SS begleitete Transport ging in einem Sonderwagen, der an einen normalen Eisenbahnzug angehängt wurde, von Auschwitz quer durch Polen über Berlin nach Neuengamme, wo er am 29. November 1944 nachts um zehn Uhr auf einem Nebengleis ankam, das direkt ins Lager führte. Auf der Fahrt sei die Verpflegung „ausgezeichnet“ gewesen, so Trocki, es habe Milch und Schokolade gegeben. Sie habe bei der Ankunft gesehen, wie jemand weinte, als er die Kinder sah. Ein belgischer Medizinstudent, der in der Apotheke arbeitete, habe gefürchtet, man werde die Kinder für Versuche benutzen. Es habe aber einen französischen Arzt gegeben, der versuchen wollte, die Kinder zu retten. Sie habe die Kinder dann aber nicht wiedergesehen. Die Kinder wurden in der bereits bestehenden Versuchsbaracke in Doppelstockliegen untergebracht. Dr. Trocki wurde später ins Frauen-Außenlager Helmstedt-Beendorf verlegt. Die drei Krankenschwestern vom Transport, darunter nach Aussage einer Zeugin zwei Polinnen, seien mit ihren wenigen Habseligkeiten „Richtung Bunker gegangen“.[15] Später berichtete ein anderer Zeuge im Neuengamme-Hauptprozess über die Hinrichtung von vier polnischen Frauen im Bunker von Neuengamme,[16] über deren Identität jedoch nichts bekannt geworden ist.
 

[12] Aussage Kurt Heißmeyer in Untersuchungshaft vom 20.3.1964, Akte BStU [Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik], MfS [Ministerium für Staatssicherheit] 8924/66, Band 152; zitiert nach: Medizinische Experimente an Häftlingen (siehe Anmerkung 10); vergleiche auch: Der Prozess gegen Dr. Kurt Heißmeyer. Dokumente, auf: Gedenkstätte Bullenhuser Damm (siehe Online), http://media.offenes-archiv.de/03_gruen_01.04.11_klein.pdf

[13] Vernehmung Heißmeyers vom 11.3.1964 in Untersuchungshaft, Blatt 108 der Gerichtsakten; zitiert nach Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 37

[14] Gesprächsprotokoll vom 30.12.1956, Dokument 01/166 - 117/37 - 1066, Yad Vashem; Teilkopie online: http://media.offenes-archiv.de/beige_VerfolgungDeportation_04.04.11_klein.pdf; Transkript auf Geteuigen. Breendonk - Mechelen - Andere kampen - Bij derden, http://www.getuigen.be/Getuigenis/3den/Ball-Kaduri/tkst.htm

[15] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 39 f.

[16] Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Band I, Seite 188. Zitate bei Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 40

Im Vorraum der Baracke wurden als ärztliche Betreuer Prof. Florence, der Blut- und Urinproben der Kinder zu untersuchen hatte, und Dr. Quenouille untergebracht, der für die klinische Beobachtung mit der Messung der Temperaturen, dem Führen der Fieberkurven und der Anfertigung von Röntgenaufnahmen betraut wurde. Ihnen wurden zwei niederländische „Pfleger“ zugewiesen, der Buchdrucker Dirk Deutekom, geboren 1895 in Amsterdam, als Widerständler im Juli 1941 verhaftet und ein knappes Jahr später ins KZ Buchenwald deportiert, sowie der Kraftfahrer und Kellner Anton Hölzel aus Den Haag, geboren 1909 in Deventer, der im September 1941 aus demselben Grund festgenommen und im März 1942 in Buchwald inhaftiert worden war. Auch Hölzel und Deutekom wurden am 20. April 1945 zusammen mit Florence, Quenouille und den Kindern am Bullenhuser Damm erhängt.

Bei allen Kindern wurden Tuberkelkulturen in Hautritzungen eingerieben, woraufhin sie nach zwei bis drei Tagen Fieber bekamen. Bei welchen Kindern eine Tuberkuloseinfektion durch das Einführen von Serum durch eine Lungensonde hervorgerufen wurde, ist nicht bekannt. Später aufgefundene Röntgenaufnahmen, die nach dem Krieg in der Berliner Charité begutachtet wurden, zeigten bei den Kindern Jacqueline Morgenstern, Lelka Birnbaum und Sergio Di Simone infiltrative Veränderungen in den Lungenlappen, die einen solchen Eingriff vermuten ließen. Kurz vor Weihnachten 1944 waren alle Kinder schwer erkrankt. Sowohl die Professoren Florence und Quenouille als auch die Pfleger Hölzel und Deutekom entwickelten ein inniges und freundschaftliches Verhältnis zu den Kindern. Sie sorgten für gutes Essen und konnten sogar den Lagerkommandanten und den Küchenchef zu Extrarationen bewegen. Häftlinge brachten trotz strikten Verbots Weihnachtsgeschenke, die von ihnen selbst gebastelt und geschneidert worden waren. Mitte Januar gingen die Torturen weiter. Da Heißmeyer feststellen wollte, ob sich in den Lymphdrüsen Abwehrstoffe gegen die Tuberkulose gebildet hatten, ließ er die Drüsen durch den tschechischen Häftlingsarzt Dr. Bogumil Doclik operativ entfernen und später im Labor von Hohenlychen histologisch untersuchen. Zuletzt waren alle Kinder bettlägerig und apathisch geworden.[17]

Detailliert bekannt wurden die Operationen an den Kindern durch die Aussage des polnischen Sanitätsgehilfen Franciszek Czekała, der dabei assistieren musste. Czekała, geboren 1911 in Gulcz im Kreis Filehne in der Provinz Posen (heute Wieleń, Wojewodschaft Großpolen), wurde im April 1945 von Neuengamme nach Lübeck evakuiert und gelangte von dort mit einem Transport nach Neustadt in Holstein, wo überlebende Polinnen und Polen registriert wurden.[18] Czekała, zuletzt untergekommen im benachbarten Haffkrug-Sierksdorf, berichtete am 17. Dezember 1945 in Hamburg dem bekannten aus Österreich stammenden Verhöroffizier der britischen Rhein-Armee, Agenten des britischen Nachrichtendienstes SOE und Mitglied der Einheit zur Aufklärung und Verfolgung von Kriegsverbrechen (War Crimes Investigation Team), Capt. Anton Walter Freud:

„Ich wurde am 14. Juni 1940 wegen Verdachtes antideutscher Tätigkeit von der Gestapo verhaftet, kam nach Buchenwald und am 16. Dezember 1940 nach Neuengamme, wo ich bis zum 3.5.45 blieb. Bis zum 1. Januar 1942 habe ich im Kommando Kanalarbeiten an der Elbe gearbeitet. Nach dem 1.1.42 wurde ich als Sanitäter in Block 9 beschäftigt, wo Typhus-Kranke lagen. Von 1943-45 war ich Sanitäter im Revier I. – Im Jahre 1944 kamen 20 Kinder im Alter von 5-12 Jahren nach Neuengamme. Diese waren zum größten Teil polnische Juden; es gab aber auch 2 Franzosen und einige Holländer. Sie wurden im Revier IV in einem isolierten Raum untergebracht. Die Kinder durften dieses Zimmer nicht verlassen, und die Lagerinsassen durften nicht hinein. […] Die Pfleger dieser Kinder, welche auch isoliert waren, waren zwei Holländer und 2 französische Ärzte, ein Röntgenologe und ein Professor. – 6 Wochen, nachdem die Kinder gekommen waren, kam der Revierkapo Mai zu mir - ich arbeitete damals im Revier I - und sagte, ich solle für 9 Drüsenoperationen Vorbereitungen treffen; ein tschechischer Arzt, Dr. Doslik (sic!), würde die Operationen vornehmen; die Kinder vom Revier IV würden operiert. Der Verbandsraum des Reviers I wurde als Operationssaal benutzt. Ich bereitete Klemmen, Pinzetten, scharfe Haken, Skalpell und Nowokain vor. Als alles fertig war, gegen 7 Uhr abends - brachten die Pfleger die Kinder einzeln vom Revier IV ins Revier I. Ich war im Verbandszimmer des Reviers I und war während aller Operationen anwesend. Der Oberkörper der Kinder wurde entblößt, und die Kinder wurden dann auf den Operationstisch gelegt. Die Haut unter den Armen wurde ingejodet, und dann bekamen sie 10 ccm 2%iges Nowokain eingespritzt. Dr. Dozlik (sic!), der operierende Arzt, fühlte dann die Drüsen unter dem Arm, schnitt einen 5 cm großen Schnitt und nahm die Drüse heraus. Dann hat er die Wunde wieder zugenäht mit Seide. Jede Operation dauerte ca. 15 Minuten. Neun Kinder wurden an diesem Abend operiert. Die französischen Pfleger legten die Drüsen in ein Fläschchen mit Formalin-Spiritus und versahen dieses mit Namen und Nummer. Nach der Operation kamen die Kinder wieder ins Revier IV zurück. – Nach 7 Tagen wurden die Kinder wieder ins Revier I gebracht, und ich habe die Seidenfäden entfernt. – Jedem Kind wurden die Drüsen unter dem Arm in Operationen, die ca. 2 Wochen aufeinander stattfanden, entfernt. Ich konnte auch während der Operationen der Kinder beobachten, dass viele Kinder auf der Brust Schnitte in gitterartiger Façon in einem Quadrat von 3-4 cm hatten; was das bedeutete, weiß ich nicht. […] Mitte April 1945 wurden die Kinder von Neuengamme fortgebracht. Was mit ihnen geschehen ist, weiß ich nicht. Auch die Pfleger wurden mit fortgeschafft.“[19]
 

[17] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 41–45

[18] Vergleiche den Bericht von Jan Karcz sowie den Eintrag zu Franciszek Czekala (sic!) auf der „Liste der geretteten Polen aus dem KZ Neuengamme vom Transport Lübeck-Neustadt“ auf: Zapisy terroru, https://www.zapisyterroru.pl/dlibra/publication/2015/edition/1997/content?&navref=MWp6OzFqaCAxMnM7MTJiIGdqO2c0IDJ3Nzsydm8gY2Y7YzMgMnc7MmsgMnY1OzJ1bSAzMTM7MzBqIGJ3O2JrIGJtO2JhIDJ5OzJtIDYyOzVx&ref=main. Vergleiche auch Sterkowicz 1977/2021 (siehe Literatur und Online)

[19] Transkribiert nach dem originalen Dokument, abgebildet in: Medizinische Experimente an Häftlingen (siehe Anmerkung 10)

Die Ermordung der Kinder, ihrer Betreuer und der sowjetischen Gefangenen am Bullenhuser Damm
 

Am 19. Februar 1945 traf Himmler, der einen separaten Waffenstillstand mit den Westalliierten anstrebte, in Hohenlychen den Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, um die Rückführung der skandinavischen Häftlinge aus den deutschen Konzentrationslagern zu besprechen. In der Folge sollten die Skandinavier, vorwiegend Dänen und Norweger, in Neuengamme konzentriert und anschließend mit den später bekannt gewordenen Weißen Bussen nach Norden gebracht werden. Am 23. März überquerte die 2. britische Armee den Rhein und rückte auf die Norddeutsche Tiefebene vor. Einen Tag später wurde mit der Räumung der Neuengammer Außenlager im Emsland begonnen, denen bis zum Monatsende die Außenlager in Hildesheim, Lengerich, Barkhausen, Lerberg und Hausberge folgten.[20] Am 31. März besuchte Graf Bernadotte das KZ Neuengamme und wurde vom Lagerkommandanten Pauly empfangen.[21] Anschließend begann die Überführung der Skandinavier mit den Weißen Bussen aus den Konzentrationslagern Buchenwald, Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück, Neubrandenburg, Zwickau und Theresienstadt nach Neuengamme. Am 4. April 1945 erreichten die britischen Einheiten die Weser.

Zwischen dem 14. und 17. April wurden die in Hamburg gelegenen Außenlager des KZs Neuengamme, Dessauer Ufer, Blohm & Voss, Spaldingstraße und Bullenhuser Damm, geräumt. Das Außenlager Bullenhuser Damm in einer ehemaligen Volksschule mit ursprünglich 30 Klassen (siehe Titelbild) war von der SS im Herbst 1944 zum KZ-Außenlager umgebaut worden, nachdem der Stadtteil Rothenburgsort bei einem Bombenangriff am 27./28. Juli 1943 weitgehend zerstört und das ehemalige Schulgebäude beschädigt worden war. Die aus Polen, Dänemark, Frankreich und der Sowjetunion stammenden Häftlinge, die im Dezember 1944 dort eintrafen, wurden bei Aufräumarbeiten und der Herstellung neuer Steine aus Trümmerschutt eingesetzt. Ende März 1945 befanden sich dort nach dem Bericht von Trzebinski 592 Häftlinge. Ab dem 14. April räumte die SS das Außenlager Bullenhuser Damm, in dem nur die SS-Männer Ewald Jauch und Johann Frahm zurückblieben, und brachte die Häftlinge in das als Auffanglager genutzte ehemalige Kriegsgefangenenlager Sandbostel bei Bremervörde.

Am 19. April 1945 erreichten die britischen Truppen die Elbe. Am selben Tag befahl Kommandant Pauly die Räumung des Hauptlagers Neuengamme. Sämtliche Skandinavier wurden mit Bussen des Roten Kreuzes nach Dänemark gebracht. Zwischen dem 20. und 26. April wurden die letzten verbliebenen 900 Gefangenen von Neuengamme nach Lübeck transportiert um sie von dort auf dem früheren Luxusdampfer „Cap Arcona“ und den Frachtschiffen „Thielbeck“ und „Athen“ bei zu vermutenden Torpedo- oder Luftangriffen der Alliierten in den sicheren Tod zu schicken. Rund 7.000 von ihnen kamen bei der Bombardierung der Schiffe durch die britische Luftwaffe in der Lübecker Bucht ums Leben. Im Lager Neuengamme musste ein 600 bis 700 Mann starkes Restkommando das Lager säubern, die Akten verbrennen sowie den Prügelbock und den Galgen beseitigen. Kurz bevor britische Truppen das Lager am 2. Mai 1945 erreichten, verließen die letzten Häftlinge und die SS das Lager.[22] In den sieben Jahren seines Bestehens waren dort und in den Außenlagern mindestens 42.900 Menschen ums Leben gekommen.[23]

Am Vormittag des 20. April kam der Schutzhaftlagerführer und SS-Obersturmführer Anton Thumann, der zuvor in den Konzentrationslagern Dachau, Groß-Rosen und Majdanek eingesetzt gewesen war, auf Trzebinski zu und sagte: „…ich soll dir etwas nicht gerade Schönes sagen. Pauly lässt dir sagen, es liegt ein Exekutionsbefehl aus Berlin vor, für die Pfleger und die Kinder und du sollst die Kinder durch Gas oder Gift umbringen.“[24] Heißmeyer war zu diesem Zeitpunkt seit sechs Wochen nicht mehr in Neuengamme gewesen.[25] Trzebinski, der sich – glaubt man seiner späteren Aussage – zunächst geweigert hatte, wurde am Nachmittag zu Pauly zitiert, der bestätigte, dass ein solcher Befehl aus Berlin gekommen sei und Trzebinski sich daran zu halten habe. Im Curiohaus-Prozess sagte Pauly am 2. April 1946 aus, dass es sich um ein an den Standortarzt gerichtetes Fernschreiben oder einen Funkspruch gehandelt habe. Auf eine Vorhaltung des Staatsanwalts, dass so ein Befehl nicht an einen Arzt gerichtet gewesen sein könne, erwiderte Pauly: „Das ist nach meiner Meinung nicht unmöglich, da ja die ganze Sache eine ärztliche Angelegenheit war. Trzebinski ist doch immer mit Professor Heißmeyer zusammengewesen.“[26]
 

[20] Karten der Außenlager, der Räumungstransporte und des Frontverlaufs ab März 1945, http://media.offenes-archiv.de/zeitspuren_karteraeumung.pdf

[21] Vergleiche Odd Nansen: Von Tag zu Tag. Ein Tagebuch, aus dem Norwegischen übertragen … (Fra dag til dag, Oslo 1947), Hamburg 1949; Online-Ressource auf: Frühe Holocaustliteratur. Digitale Giessener Sammlungen, https://digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-fhl/content/pageview/2781798

[22] Vergleiche Detlef Garbe: Die Räumung der Konzentrationslager in Norddeutschland und die deutsche Gesellschaft bei Kriegsende, in: Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung, herausgegeben im Auftrag der KZ-Gedenkstätte Neuengamme von Oliver von Wrochem, Hamburg 2010, Seite 111–135

[23] Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm 2011 (siehe Literatur), Seite 8

[24] Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Band III, Seite 346, zitiert nach Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 45; ebenso in: Dossier Täter vor Gericht (siehe Anmerkung 1)

[25] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 45

[26] Aussage Max Pauly am 2.4.1946, Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Band I, Seite 335 f., zitiert nach: Dossier Täter vor Gericht (siehe Anmerkung 1)

Zwei Stunden, nachdem die dänischen Busse das Lager verlassen hatten, begann gegen 22 Uhr der Abtransport der Kinder und ihrer Betreuer. Trzebinski sagte hierzu im Curiohaus-Prozess aus: „Ich wusste, dass die Kinder und Pfleger nach dem Bullenhuser Damm kamen, es kam abends ein Anruf vom Revier. Ich weiß nicht, wer angerufen hat, denn es wurde vom Telefondienst angenommen. Der Telefondienstwachhabende hat nur gemeldet, Sie sollen nach dem Lager kommen und der Wagen steht bereit. Ich begab mich also zum Lager und da stand der Wagen zum Lagereingang. Der Wagen hielt, der Motor war schon angelassen. Ich sah in den Wagen hinein und da saßen die 20 Kinder und 4 Pfleger und noch 6 andere Männer. In den Wagen stiegen ein, und zwar: hinten Dreimann, Wiehagen und Speck und ich stieg vorn ein. Der Wagen hatte schon einen festen Marschbefehl. Er fuhr zuerst zur Spaldingstraße. Wir kamen nach 1 Stunde dort an. Dreimann, Wiehagen und ich stiegen aus. Speck blieb bei dem Wagen. Oben erschien Strippel uns schon zu erwarten …“[27]

Bei Wilhelm Dreimann und Heinrich Wiehagen handelte es sich um SS-Unterscharführer. Adolf Speck war Kommandoführer im KZ Neuengamme. SS-Obersturmführer Arnold Strippel, der seit 1935 in zahlreichen Konzentrationslagern eingesetzt war, kommandierte als Stützpunktleiter alle Hamburger Außenlager des KZs Neuengamme und galt als mächtigster Mann nach Pauly. Im KZ-Außenlager Hamburg-Hammerbrook in der Spaldingstraße 156-158, wo Strippel seine Kommandostelle hatte, waren im Hinterhaus eines Bürokomplexes bis zu 2.000 Häftlinge aus verschiedenen Nationen vorwiegend aus Polen und der Sowjetunion untergebracht, die nach den Bombenangriffen auf Hamburg für Aufräumarbeiten, zur Leichenbergung und zum Bombenentschärfen eingesetzt wurden. In der Spaldingstraße habe Trzebinski, so dieser in der Vernehmung, Strippel beiseite genommen und ihm gesagt, dass er absichtlich kein Gift mitgenommen habe, weil er es nicht fertig brächte, die Kinder umzubringen. Zum Schluss habe Strippel gesagt: „Wenn du zu feige bist, muss ich eben die Sache in die Hand nehmen.“

Trzebinski berichtete weiter: „Dann fuhr er [Strippel] mit seinem PKW zum Bullenhuser Damm voraus. Wir fuhren hinterher und kamen vielleicht 10 Minuten später dort an. Als wir ankamen und aus dem Wagen stiegen, kamen Strippel und Jauch und Frahm gerade aus der Tür. Strippel ging gleich zu seinem Wagen, der fahrbereit dastand und sagte im Vorbeigehen, die Sache geht in Ordnung. Ich habe es so aufgefasst, dass er was arrangiert hatte, um den Befehl aus Berlin durchzuführen. Jetzt stiegen die Insassen des Wagens aus, die Russen, die Pfleger und die Kinder zuerst. Die Russen wurden in den Raum, wo die Heizungsanlagen waren, geführt. Jetzt wurden die Pfleger und die Kinder reingelassen. Die Pfleger kamen in einen Raum gegenüber vom Eingang der Kinder. Die Kinder wurden in einen Luftschutzraum geführt. […] Ich blieb also bei den Kindern, die sich ängstigten. Die Kinder hatten ihr ganzes Gepäck mit, darunter Lebensmittel, selbstgebasteltes Spielzeug usw. Sie ließen sich auf den Bänken ringsum nieder und waren guter Dinge und freuten sich, dass sie einmal herausgekommen waren. Die Kinder waren vollkommen ahnungslos. Sie waren im Alter von 5-12 Jahren und zwar die Hälfte Jungen, die andere Hälfte Mädchen. Die Kinder sprachen alle ein gebrochenes Deutsch mit polnischem Akzent.“ Während dieser Zeit erhängten Jauch, Dreimann und Frahm im Nebenraum die Ärzte Florence und Quenouille, die Pfleger Hölzel und Deutekom sowie die sechs sowjetischen Gefangenen, die mit ihnen zusammen aus Neuengamme transportiert worden waren.

Trzebinski fuhr fort: „Nach einer Weile kam Frahm rein und sagte, die Kinder sollen sich ausziehen. Ich sah, dass die Kinder etwas stutzten, und deswegen sagte ich, ihr sollt euch ausziehen, weil ihr noch gegen Typhus geimpft werden sollt. Ich nahm jetzt Frahm vor die Tür, damit die Kinder nichts hören konnten, und fragte ihn dort leise, was soll mit den Kindern geschehen? Frahm war auch ganz blass und sagte, ich soll die Kinder aufhängen. […] Ich wusste nun, welches schreckliche Ende den Kindern bevorstand und wollte ihnen wenigstens die letzten Stunden erleichtern. Ich hatte Morphium mit und zwar eine Lösung 0,2 auf 20,0. Um dies richtig dosieren zu können, habe ich diese Flasche noch mit 100 gr. Destillationswasser verdünnt. Auf diese Weise konnte ich im Hinblick auf das Alter der Kinder besser dosieren. Ich trat vor die Tür des Raumes, wo ein Schemel für die Spritzen stand und daneben ein anderer Schemel. Ich rief einzeln ein Kind nach dem anderen. Sie legten sich über den Schemel und ich gab ihnen die Spritze ins Gesäß, wo es am schmerzlosesten ist. […] Die Kinder fingen an müde zu werden und wir legten sie auf die Erde und deckten sie zu mit ihren Kleidern. Zwischendurch ging Frahm oft weg und ich hatte den Eindruck, dass er auch an den Exekutionen der Männer teilnahm. Ich muss zu den Kindern allgemein sagen, sie waren in einem ganz guten Zustand bis auf einen 12jährigen Jungen, der in einem sehr schlechten Zustand war. Dieser Junge schlief infolge dessen auch sehr schnell ein. Nach 20 Minuten kam Frahm. Es waren noch 6-8 Kinder wach, die anderen schliefen schon. […] Frahm nahm den 12jährigen Jungen auf den Arm und sagte zu den anderen, er wird jetzt ins Bett gebracht. Er ging mit ihm in einen Raum, der vielleicht 6-8 m von dem Aufenthaltsraum entfernt war und dort sah ich schon eine Schlinge an einem Haken. In diese Schlinge hängte Frahm den schlafenden Knaben ein, und hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Körper des Jungen, damit die Schlinge sich zuzog. Ich habe in meiner KZ-Zeit schon viel menschliches Leid gesehen und war auch gewissermaßen abgestumpft, aber Kinder erhängt habe ich noch nie gesehen. Mir wurde nicht gut und ich ging aus dem Gebäude hinaus und ich bin ein paarmal um den Straßenkomplex herumgewandert.“
 

[27] Aussage Dr. Alfred Trzebinski am 24.4.1946, Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Band III, Seite 346–351, zitiert nach: Dossier Täter vor Gericht (siehe Anmerkung 1; auch bei Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 56

Als Trzebinski nach einer halben Stunde wiederkam, war die Ermordung der Kinder noch in vollem Gange: „Es waren schon einige weg. Einige schliefen noch nicht und fragten mich, werden wir auch bald ins Bett gebracht? Ich ging in den Raum wo die erste Erhängung stattgefunden hatte und sah, dass an einem anderen Haken an der Wand ein Mädchen hing. In einem Verschlag neben dem Raum lagen die Leichen von 3 Kindern, darunter die Leiche des Jungen, der zuerst gehängt worden war. Ich sah Frahm nicht und ging durch das Gebäude und hörte Stimmen neben der Tür des Raumes wo die Heizungslager waren. Ich ging hinein und dort standen Dreimann, Jauch, Wiehagen und Frahm. An einem starken Heizungsrohr hingen in 4 Schlingen 4 Männer. […] Ich sagte zu Jauch, ich gehe zur Spaldingstraße, komme aber bald wieder. Ich ging aber erst noch einmal zu den Kindern und sah, dass einige immer noch nicht recht schliefen. Um zu verhindern, dass sie bei Bewusstsein erhängt werden, habe ich ihnen noch eine 2. Morphiumspritze gegeben. Es waren vor allem die größeren und kräftigeren Kinder, bei denen die Wirkung nicht so eingesetzt hatte. Ich hatte wie ich schon sagte, noch 20 ccm drinnen. Das erschien mir zu wenig und so nahm ich aus meiner Arzneitasche noch 2 Morphiumampullen heraus, wovon jede 0,015 ccm enthielt. Diese schüttete ich zu dem übrigen hinzu und dosierte es gefühlsmäßig. Es waren ungefähr noch 6 Kinder. Die Reaktion trat schnell ein, weil die Kinder ja schon eine Spritze hatten. Ich wartete, bis alle Kinder fest schliefen und ging dann zur Spaldingstraße.“

Im Curiohaus-Prozess belasteten sich Pauly, Trzebinski, Frahm und Jauch gegenseitig. Frahm, offenbar der Einzige, der zugab eigenhändig Kinder erhängt zu haben, gab am 24. Mai 1946 in einer eidesstattlichen Aussage zu Protokoll: „Es waren ungefähr 20 Kinder im Alter zwischen 12 bis 16 Jahren. Einige schienen krank zu sein. Außer den Kindern waren Dr. Trzebinski, Dreimann und Jauch im Keller. Strippel kam zeitweise auch herein. Wiehagen stand vor der Tür, Speck stand ebenfalls Wache am Gebäude. Der Name des Chauffeurs, der die Kinder brachte, ist Petersen. – Die Kinder mussten sich in einem Zimmer des Kellers ausziehen, wurden dann in ein anderes Zimmer geführt, wo sie von Dr. Trzebinski eine Injektion bekamen, so dass sie einschliefen. Diejenigen, die nach der Injektion noch Lebenszeichen von sich gaben, wurden in ein anderes Zimmer getragen. Es wurde ihnen ein Strick um den Hals gelegt und sie wurden dann an Haken wie Bilder an der Wand aufgehängt. Dies wurde von Jauch, mir, Trzebinski und Dreimann ausgeführt. Strippel war auch zeitweilig dabei. Die Leichen blieben dann in dem Zimmer, von wo sie am nächsten Tage von Neuengamme aus abgeholt wurden.“

Abschließend berichtete Frahm von einer danach ausgeführten weiteren Mordaktion: „Um Mitternacht kam ein anderer Schub von Gefangenen aus Neuengamme. Diesmal handelte es sich um 20 erwachsene Russen. Diese wurden in einen Raum des Kellers geführt und dort wurden sie von uns vieren, Jauch, Trzebinski, Dreimann und mir und teilweise Strippel, aufgehängt. Ein Seil wurde um ein Rohr gelegt, welches unter der Decke herlief. Die Schlinge wurde den Gefangenen um den Hals gelegt und wir zogen sie dann hinauf. Die Leichen blieben in dem Zimmer liegen, wo sie auch am nächsten Tag abgeholt wurden. Um 6 Uhr morgens waren alle Russen tot und ich ging schlafen.“

Trzebinski sagte jedoch aus, er habe in der Zwischenzeit in der Spaldingstraße Krankenakten durchgearbeitet und sei dann zum Bullenhuser Damm zurückgekehrt: „Ich ging jetzt in das Gebäude hinein um nach den Kindern zu sehen. In dem Raum, wo die Kinder waren, war niemand mehr. Nur die zurückgebliebenen Gepäckstücke lagen noch da. Ich ging in das Zimmer, wo die Erhängungen stattgefunden hatten und fand den Raum verschlossen. […] Ich nahm mir dann Frahm vor, der mir den Raum aufschloss. Da lagen die Kinder alle und jedes Kind hatte das Erhängungsmal am Hals. Ich habe dann jedes Kind untersucht, ob es auch tot war, dann ging ich in den Raum der erhängten Männer und habe auch diese auf den Tod hin untersucht. Damit war dieses traurige Kapitel abgeschlossen. Wir sind dann zurückgefahren.“[28]
 

[28] Alle vorangegangenen Zitate nach: Dossier Täter vor Gericht (siehe Anmerkung 1)

Obwohl Pauly befohlen hatte, die Leichen am Bullenhuser Damm zurückzulassen, forderte Jauch später einen Wagen aus Neuengamme an, den Strippel dann mit den leblosen Körpern nach Neuengamme zurückbrachte. Der Leiter des Krematoriums in Neuengamme, SS-Unterscharführer Wilhelm Brake, gab am 14. Mai 1946 in Recklinghausen einem Sergeanten der Britischen Rheinarmee zu Protokoll: „Ich entsinne mich, dass etwa 14 Tage vor dem Zusammenbruch [des Deutschen Reiches] ein Leichentransport von Hamburg, wahrscheinlich vom Bullenhuserdamm, ankam. Es waren ungefähr 40-50 Leichen, und mir wurde von Obersturmführer Thumann gesagt, dass die Leichen vorläufig nicht verbrannt werden sollten. Ich fuhr mit dem Fahrrad zum Krematorium und fand, dass man inzwischen schon mit der Verbrennung angefangen hatte. Ich fuhr zurück und meldete Thumann das. Thumann sprach dann mit Dr. Trzebinski und es wurde entschieden, dass die Leichen doch verbrannt werden sollten. Ich fuhr dann wieder zum Krematorium und sagte den Häftlingen, dass sie weitermachen könnten. Dann erzählten mir die Häftlinge, dass unter diesen Leichen etwa 20 Kinder waren.“[29]
 

Das Kriegsende und die Strafverfolgung der Täter
 

Als die ersten britischen Soldaten das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme am Abend des 2. Mai 1945 betraten, deutete nichts mehr auf die dort begangenen Verbrechen hin. Lagerkommandant Pauly hatte nach der Räumung des Lagers bis zum 2. Mai rund 400 Kilo Akten verbrennen lassen. Die Baracken waren gereinigt und gekalkt, der Galgen zersägt und verfeuert und vor das Krematorium ein Schild mit der Aufschrift „Desinfektionsraum“ gehängt worden. „Niemand war da“, vermerkte später die Lagergemeinschaft Neuengamme.[30] Unmittelbar nach ihrer Ankunft nutzten die Briten das Lager zur Unterbringung von Displaced Persons und Kriegsgefangenen. Hamburg stand jetzt unter britischer Verwaltung. Am 1. Mai hatte Großadmiral Karl Dönitz, das deutsche Staatsoberhaupt nach dem Selbstmord Adolf Hitlers, dem Kommandanten von Hamburg, Generalmajor Alwin Wolz, die kampflose Räumung der Stadt befohlen. Am 3. Mai übergab Wolz die Stadt an den britischen Brigadegeneral Douglas Spurling.

Zur selben Zeit gründete das Hauptquartier der britischen Rheinarmee eine erste Gruppe zur Untersuchung von Kriegsverbrechen, das War Crimes Investigation Team (WCIT) No. 1, das die Verbrechen in dem am 15. April befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen untersuchen sollte. Das WCIT No. 2 begann wenig später die Untersuchungen zum KZ Neuengamme. Ihm gehörten vier Offiziere an, darunter der 1938 nach Großbritannien emigrierte Capt. Anton Walter Freud, Enkel des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Noch im Mai nahm ein Komitee ehemaliger politischer Gefangener des Lagers Neuengamme Kontakt zum britischen Secret Service auf. Die Berichte des Komitees über die im Lager verübten Verbrechen lösten beim WCIT zunächst Unglauben aus. Erst nach einem gemeinsamen Besuch des Lagergeländes und dem Auffinden von Unterlagen, und zwar des letzten Quartalsberichts des Standortarztes sowie der Totenbücher, die der Häftling Emil Zuleger versteckt hatte, entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Komitee und dem WCIT, das in einer gemeinsamen Prozessvorbereitung mündete.[31]

Der dänische Arzt Dr. Henry Meyer, der selbst eineinhalb Jahre Häftling in Neuengamme gewesen und durch die Rettungsaktion des schwedischen Roten Kreuzes befreit worden war, schilderte am 6. Mai 1945 in einem „Bericht für das dänische Rote Kreuz“ die medizinischen Experimente an Häftlingen und die Tuberkulose-Versuche an den Kindern und listete deren Namen auf.[32] Der schwedische Arzt Gerhard Rundberg, der die Liste gemeinsam mit Meyer im Buch „Rapport fra Neuengamme“ veröffentlichte, hatte die Rettungsaktion von Graf Folke Bernadotte geleitet. Auch andere Überlebende berichteten von den Kindern, die am 20. April plötzlich verschwunden waren. Gezielt wurde nun nach allen Verantwortlichen für die im KZ Neuengamme verübten Verbrechen gesucht. Unter ihnen waren auch jene, die die Morde an den Kindern angeordnet, sie verübt, von ihnen gewusst hatten oder an ihnen beteiligt waren: Lagerkommandant Max Pauly, Schutzhaftlagerführer Anton Thumann, der Arzt Dr. Kurt Heißmeyer, Standortarzt Dr. Alfred Trzebinski, Rapportführer Wilhelm Dreimann, SS-Unterscharführer Johann Frahm, der SS-Oberscharführer und Lagerführer Ewald Jauch, der Unterscharführer Hans Friedrich Petersen, der Block- und Kommandoführer Adolf Speck, der SS-Obersturmführer Arnold Strippel und der Unterscharführer Heinrich Wiehagen.
 

[29] Deposition of Wilhelm Gustav Brake, Recklinghausen, 14.5.1946, Transkript nach dem Foto des Originaldokuments auf http://media.offenes-archiv.de/ss2_1_3_bio_2089.pdf

[30] So ging es zu Ende … Neuengamme. Dokumente und Berichte, herausgegeben von der Lagergemeinschaft Neuengamme, Hamburg 1960, Seite 68

[31] Alyn Bessmann / Marc Buggeln: Befehlsgeber und Direkttäter vor dem Militärgericht. Die britische Strafverfolgung der Verbrechen im KZ Neuengamme und seinen Außenlagern, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 53. Jahrgang, Heft 6, 2005, Seite 526, Online-Ressource: https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/dtge-20jhd/dokumente/publikationen/publikationen-buggeln/Befehlsgeber%20und%20Direkttaeter%20vor%20Militaergericht-%20Zfg%202005.pdf

[32] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 139

Pauly hatte nach der Säuberung des Lagers 2.000 übrig gebliebene Verpflegungspakete des schwedischen Roten Kreuzes auf einen Lastwagen geladen und war damit zum Wohnhaus seiner Schwiegereltern in Westerdeichstrich unweit von Büsum im Kreis Dithmarschen gefahren. Dort teilten sich Pauly und der ihn begleitende ehemalige Kantinenverwalter Jacobsen die Beute in Form von 400.000 Zigaretten, 20.000 Tafeln Schokolade sowie 20.000 Päckchen Tee und Kaffee. Ab dem 3. Mai versteckte sich Pauly im Haus seiner Schwägerin in Flensburg, wohin die provisorische Reichsregierung unter der Führung von Dönitz geflohen war. Zwölf Tage später verhafteten ihn dort Zivilfahnder der britischen Armee und brachten ihn ins Internierungslager nach Neumünster. Frahm wurde in seinem Heimatort Kleve in Dithmarschen, Dreimann und Speck wurden in der Umgebung von Lübeck gefasst und ebenfalls nach Neumünster gebracht. Jauch wurde von der Militärpolizei in seiner Heimatstadt Schwenningen im Schwarzwald verhaftet und ins britische Internierungslager Eselsheide bei Paderborn transportiert.

Auch Trzebinski hatte schwedische Rotkreuz-Pakete an sich gebracht, damit einen Krankenwagen beladen und war mit seiner Fracht zu Kameraden nach Husum gefahren. Dort tauschte er die SS-Insignien an seiner Uniform und fungierte seitdem, wie er später selbst zu Papier brachte, „im dortigen Reservelazarett als Stabsarzt der Wehrmacht.“ Später ließ er sich an ein Hamburger Lazarett versetzen und gelangte von dort als Militärarzt ans britische Entlassungslager in Hesedorf bei Neumünster. Frau und Tochter ließ er in einem benachbarten Gasthof wohnen. Niemand fragte nach seinen Papieren, bis schließlich Ende Januar 1946 der spätere Major Anton Walter Freud von der in Bad Oeynhausen stationierten WCIT No. 2 den Weg von Trzebinski bis nach Hesedorf verfolgt hatte, ihn dort festnehmen und ins Internierungslager Westertimke nordöstlich von Bremen bringen ließ.[33] Wiehagen war als SS-Bewacher auf dem Gefangenenschiff Cap Arcona eingesetzt gewesen, soll bei dessen Untergang auf Häftlinge geschossen haben und war daraufhin offenbar von einem Gefangenen erschlagen worden. Petersen, der den LKW mit den Kindern von Neuengamme zum Bullenhuser Damm gefahren hatte, blieb von den Strafverfolgern unbehelligt und wurde auch nicht als Zeuge befragt. Er lebte nach dem Krieg im dänischen Sonderburg.

Strippel tauchte nach Kriegsende bei einem SS-Kameraden im schleswig-holsteinischen Büdelsdorf und anschließend als Landarbeiter in Hessen unter. Im Dezember 1948 wurde er in der Innenstadt von Frankfurt am Main von einem ehemaligen Häftling des KZs Buchenwald erkannt und wenig später festgenommen. Im Juni 1949 wurde er in Frankfurt wegen gemeinschaftlichen Mordes an 21 Häftlingen im KZ Buchenwald zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. 1970 wurde das Urteil aufgehoben und wegen Beihilfe auf sechs Jahre verkürzt. Für die zu viel verbüßten Jahre enthielt er eine Haftentschädigung von 121.500 DM. Im Curiohaus-Prozess war er zwar von den Mittätern belastet worden. Jedoch stellte die Staatsanwaltschaft Hamburg das Verfahren gegen ihn wegen der Morde am Bullenhuser Damm im Juni 1967 aus Mangel an Beweisen ein, da auch eine Verschwörung der anderen Tatbeteiligten gegen ihn infrage gekommen wäre. In der rechtlichen Würdigung des Falls erkannte der zuständige Staatsanwalt Helmut Münzberg: „Die Ermittlungen haben nicht mit der erforderlichen Sicherheit ergeben, dass sich die Kinder über Gebühr lange quälen mussten, bevor sie starben. Im Gegenteil spricht manches dafür, dass sämtliche Kinder gleich nach Empfang der ersten Spritze das Bewusstsein verloren und aus diesem Grunde alles weitere, was mit ihnen geschah, nicht wahrgenommen haben. Ihnen ist also über die Vernichtung des Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt worden, sie hatten insbesondere nicht besonders lange seelisch oder körperlich zu leiden.“[34] Nach einer erneuten Strafanzeige von den Angehörigen der Opfer nahm die Staatsanwaltschaft Hamburg 1979 die Ermittlungen wieder auf und klagte Strippel 1983 wegen 42fachen Mordes an den Kindern, den Häftlingsärzten und Pflegern sowie den sowjetischen Gefangenen an. Wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten stellte das Landgericht Hamburg das Verfahren 1987 ein. Strippel starb 1994 in Frankfurt am Main.[35]
 

[33] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 77–79

[34] Zitiert nach: Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 126; außerdem bei Hans Canjé: „Aber grausam war der Mord nicht …“ in: Ossietzky – Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft, Nr. 23, 2007; Online-Ressource: https://www.sopos.org/aufsaetze/473d628b6a511/1.phtml.html

[35] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 118–120. Zur Biografie von Arnold Strippel und den anderen Tätern vergleiche auch: Die Täter, auf: Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V., http://www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de/die_taeter.php 

Thumann, der 1943/44 im KZ Majdanek eingesetzt gewesen und von Häftlingen wegen seiner Teilnahme an Selektionen, Vergasungen und Erschießungen „Henker von Majdanek“ genannt worden war, hatte im KZ Neuengamme nur im Vorwege von der geplanten Ermordung der Kinder gewusst. Nach Kriegsende erkannten ihn ehemalige Häftlinge in Rendsburg und sorgten für seine Verhaftung. Im ersten Curiohaus-Prozess wurde er wegen der Ermordung von 13 Frauen und 58 Männern angeklagt, die während der Räumung des KZs Neuengamme aus dem Polizeigefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel dorthin gebracht worden waren.[36] Gegen Dr. Kurt Heißmeyer wurde wegen der von ihm angeordneten Menschenversuche kein Haftbefehl erlassen. Er kehrte nach dem Krieg in sein Elternhaus in Sandersleben nordöstlich von Halle (Saale) zurück, arbeitete zunächst in der Praxis seines Vaters und praktizierte dann bis zu seiner Verhaftung im Dezember 1963 in Magdeburg.

Als erster sagte Speck am 9. März 1946 vor dem britischen Captain H.P. Kinsleigh im Lager Neumünster unter Eid aus, vom Transport der Kinder aus Neuengamme zum Bullenhuser Damm gewusst zu haben. Am selben Tag gab Frahm gegenüber Kinsleigh den Mord an den Kindern zu, schob die Verantwortung aber auf Trzebinski, der die Kinder durch „Injektion ins Herz“ getötet haben sollte.[37] Am 18. März wurde im Curiohaus an der Hamburger Rothenbaumchaussee, einem ehemaligen Gesellschafts- und Lehrervereinsgebäude mit entsprechend großem Saal, der Neuengamme-Hauptprozess (Neuengamme Camp Case No. 1) nicht nur gegen die Verantwortlichen der Morde vom Bullenhuser Damm, sondern allgemein gegen 14 Angehörige des SS-Lagerpersonals des Konzentrationslagers Neuengamme wegen Tötung und Misshandlung Angehöriger alliierter Staaten eröffnet. Gleichzeitig liefen die Verhöre durch Freud weiter. Im Prozess saßen die Angeklagten mit Nummern gekennzeichnet in einer Reihe, darunter Pauly (1), Thumann (3), Dreimann (5), Speck (9) und Trzebinski (14), vor ihnen ihre deutschen Anwälte, dahinter das britische Wachpersonal (Abb. 8 . ).

Durch die Vernehmungsprotokolle, die Aussagen und Geständnisse der Beschuldigten vor Gericht, nach denen sich falsche wechselseitige Beschuldigungen nicht mehr aufrechterhalten ließen, sowie durch Zeugenaussagen vervollständigte sich das Tatgeschehen. Die Hamburger Öffentlichkeit erfuhr zeitnah aus der Tagespresse von den pseudo-medizinischen Experimenten in Neuengamme und den Morden am Bullenhuser Damm, unter anderem aus dem Hamburger Nachrichten-Blatt der britischen Militärbehörde, der von den Briten lizensierten liberalen Hamburger Freien Presse, dem sozialdemokratischen Hamburger Echo oder der kommunistischen Hamburger Volkszeitung.[38] Am 3. Mai 1946 wurde alle vier Angeklagten, Pauly, Dreimann, Speck und Trzebinski, wegen der Morde am Bullenhuser Damm zum Tod durch Erhängen verurteilt. Außerdem erhielten sieben weitere KZ-Mörder das Todesurteil, darunter auch Thumann. Frahm und Jauch wurden am 31. Mai in einem Nebenprozess angeklagt, in dem auch die bereits Verurteilten aussagen mussten, und erhielten ebenfalls die Todesstrafe. Alle Todesurteile wurden zwischen dem 8. und 11. Oktober 1946 vollstreckt.

Heißmeyer eröffnete in der Folgezeit eine Praxis in Magdeburg, die einzige private Praxis zur Behandlung von Tuberkulose in der DDR, und wurde Direktor der kleinen und ebenfalls privaten Klinik des Westens. Als 1959 in der westdeutschen Illustrierten Stern ein Leitartikler bedauerte, dass bundesdeutschen Schülerinnen und Schülern die Naziverbrechen verschwiegen würden, und den Namen Dr. Kurt Heißmeyer als SS-Arzt im Zusammenhang mit Tuberkulose-Experimenten erwähnte, begannen Nachforschungen eines Dachverbands ehemaliger Häftlinge des KZs Neuengamme und des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR. Im Dezember 1963 ließ der Generalstaatsanwalt der DDR Heißmeyer verhaften. Um sich selbst zu entlasten führte dieser die Ermittler zu einer in Hohenlychen vergrabenen Kiste, deren Inhalt, unter anderem Röntgenaufnahmen, Fieberkurven und Fotografien der operierten Kinder, die strenge ethische und wissenschaftliche Qualität seiner Versuche belegen sollte. Ein Gutachten der Berliner Charité legte jedoch nahe, dass Heißmeyer bei mindestens drei Kindern eine Einführung von Tuberkulose-Bakterien direkt in die Lungen vorgenommen hatte. In einer Vernehmung vom 6. April 1964 gestand Heißmeyer schließlich ein, „mit diesen Experimenten an den Kindern […] ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben“. Am 21. Juni wurde vor dem Bezirksgericht Magdeburg der Prozess gegen ihn wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ eröffnet. Dieser endete am 30. Juni 1966 mit einer lebenslangen Zuchthausstrafe. 14 Monate später, am 29. August 1967 starb Heißmeyer in der Haft an einem Herzinfarkt.[39]
 

[36] Vergleiche das Dossier Anton Thumann der KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf: http://media.offenes-archiv.de/ss2_1_4_bio_1969.pdf

[37] Zitate aus den Vernehmungsprotokollen bei Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 79–81

[38] Reproduzierte Zeitungsausschnitte in: Dossier Täter vor Gericht: Die Curio-Haus-Prozesse. Presseberichte, auf: http://media.offenes-archiv.de/01_gruen_presseberichte_01.04.11_klein.pdf

[39] Ausführlich zu Heißmeyer bei Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 92–110; das Zitat Seite 98 aus den Gerichtsakten beim Generalstaatsanwalt der DDR

Spurensuche, Dokumentation, Erinnerung. Die Errichtung einer Gedenkstätte
 

In den Jahren nach den Curiohaus-Prozessen verblasste in der breiteren Öffentlichkeit die Erinnerung an die Morde am Bullenhuser Damm. Im August 1948 wurde der Schulbetrieb dort wieder aufgenommen. Seit den späten Fünfzigerjahren gedachten ehemalige Häftlinge des KZs Neuengamme regelmäßig am Schulgebäude der Geschehnisse. Nach jahrelangen Forderungen ließ der Hamburger Senat 1963 dort eine Gedenktafel für die ermordeten Kinder und ihre vier Betreuer anbringen, jedoch ohne die ebenfalls hingerichteten sowjetischen Gefangenen zu erwähnen. 1977 wurde der Journalist Günther Schwarberg (1926-2008), der nach Zeiten beim Bremer Weserkurier, bei Radio Bremen und bei einer Düsseldorfer Agentur beim Hamburger Wochenmagazin Stern arbeitete und sich in seinen Beiträgen auf die Opfer des Nationalsozialismus und den Widerstand konzentrierte, auf das Geschehen am Bullenhuser Damm aufmerksam.[40] Nach der Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung im Keller der Schule begann er seine Suche nach Spuren der ermordeten Kinder. Er fand in Frankfurt am Main im Archiv der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Fotos aller 20 Kinder, die ein SS-Fotograf für Heißmeyer angefertigt hatte. Mit diesen Bildern ließ er Suchplakate in polnischer, italienischer, serbokroatischer und deutscher sowie in französischer, holländischer und englischer Sprache drucken und verschickte sie in verschiedene Länder um Angehörige zu finden.[41]

Als erste meldete sich eine Beamtin der Staatsanwaltschaft in Tel Aviv, die auf einem der Fotos ihre Cousine Riwka Herszberg aus dem polnischen Zduńska Wola erkannt hatte. Ein Rechercheur, so Schwarberg,[42] fand in Paris die Familien Kohn und Morgenstern. Bei einem Treffen im Pariser Büro des Rechtsanwalts Serge Klarsfeld erkannte der Geschäftsmann Philippe Kohn auf einem Bild seinen Bruder Georges. Dorothéa Morgenstern fand auf den Fotos ihre Nichte Jacqueline wieder.[43] In den Niederlanden wurden Angehörige der ermordeten Krankenpfleger Hölzel und Deutekom gefunden. Vom März 1979 an veröffentlichte Schwarberg in der Zeitschrift Stern unter dem Obertitel „Der SS-Arzt und die Kinder“ in einer sechsteiligen Serie die gesamten Geschehnisse von der Deportation der Familie Kohn aus Paris im August 1944 bis zum Prozess gegen Heißmeyer und zu den vergeblichen Anklagen gegen Strippel. Neben seinen eigenen Nachforschungen konnte Schwarberg auf die von Dr. Henry Meyer in Dänemark veröffentlichte Liste, auf eine 1978 von dem ehemaligen Häftling des KZs Neuengamme, Fritz Bringmann, verfasste Broschüre mit dem Titel „Kindermord am Bullenhuser Damm“ und auf die Dokumente und Ergebnisse des Prozesses gegen Heißmeyer in der DDR zurückgreifen. Die Serie endete mit einem Bericht über seinen jüngsten Kontakt mit dem 16jährigen in Hamburg wohnenden Michael Zylberberg, dessen Eltern auf den im Stern veröffentlichten Fotos der Kinder ihre aus Zawichost in Polen stammende Nichte Ruchla erkannt hatten.[44]

Am 20. April 1979 kamen über 2.000 Menschen zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 34. Todestags der Opfer vom Bullenhuser Damm zusammen. Aus Paris trafen Philippe Kohn und der Sohn von Dorothéa, Henri Morgenstern, aus Hamburg die Familie Zylberberg, aus den Niederlanden die Witwe von Anton Hölzel ein. Sie gründeten zusammen mit ehemaligen Häftlingen des KZs Neuengamme sowie Hamburgerinnen und Hamburgern die bis heute bestehende Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V. und beantragten das erneute Ermittlungsverfahren gegen Strippel. 1980 eröffnete der Verein in den Kellerräumen der Schule mit einer ersten kleinen Ausstellung eine Gedenkstätte. Im April desselben Jahres wurde die Schule vom Hamburgischen Senat in einer Feierstunde nach dem polnischen Arzt und Pädagogen Janusz Korczak, der 1942 die von ihm betreuten jüdischen Kinder eines Waisenhauses freiwillig in das Konzentrationslager Treblinka begleitet hatte und mit ihnen in den Tod gegangen war, in Janusz-Korczak-Schule umbenannt (Abb. 37–39 . ).[45]
 

[40] Schwarberg: Kinder 1996 (siehe Literatur), Seite 135 f., nennt als seine ersten Quellen das Buch von Edward Lord Russell of Liverpool, eines nach 1945 für die Militärgerichte der britischen Armee verantwortlichen Brigadiers: Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen, Berlin 1960, sowie das im selben Jahr erschienene Buch des DDR-Schriftstellers Willi Bredel: Unter Türmen und Masten. Geschichte einer Stadt in Geschichte, Schwerin 1960

[41] Reproduktion des Plakats im Dossier „Günther Schwarbergs Spurensuche“, http://media.offenes-archiv.de/10mal_gruen_Plakat_28.03.11_klein.pdf

[42] Schwarberg: Kinder 1996 (siehe Literatur), Seite 137

[43] Zu den Familien der ermordeten Kinder vergleiche: http://www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de/die_angehoerigen.php

[44] Reproduktionen der Stern-Artikel vom Günther Schwarberg im Dossier „Stern“-Serie: „Der SS-Arzt und die Kinder“, auf: http://media.offenes-archiv.de/04_gruen_SternSerie_31.03.11_klein.pdf

[45] Am Gedenktag: „Der muss viel durchlitten haben“. Janusz Korczak gab der Schule seinen Namen, in: Hamburger Abendblatt vom 21. April 1980, Kopie im Dossier Dokumente und Fotos, auf: http://media.offenes-archiv.de/05_gruen_DokumenteFotos_30.06.11_nachkorrektur.pdf

1979 veröffentlichte Schwarberg unter dem Titel „Der SS-Arzt und die Kinder“ bei Gruner & Jahr in Hamburg sein erstes umfangreiches Buch zu diesem Thema, das in den folgenden Jahrzehnten und mit variierenden Titeln zahlreiche Neuauflagen erfuhr. Übersetzungen folgten 1981 in französischer, 1982 in rumänischer, 1984 in englischer und 1991 in japanischer Sprache. 1987 erschien in Warschau eine polnische Version unter dem Titel „Dzieciobójca. Eksperymenty lekarza SS w Neuengamme“. 1996 folgte Schwarbergs Tagebuch über die Geschichte der Kinder und seine Spurensuche unter dem Titel „Meine zwanzig Kinder“ bei Steidl in Göttingen.

Aufgrund der Veröffentlichungen erfuhr 1979 die Tante von Alexander und Eduard Hornemann, einzige Überlebende der Familie, in Eindhoven vom Schicksal ihrer Neffen. Sie blieb bis zu ihrem Tod 2008 im Kontakt mit der Vereinigung, lehnte es jedoch ab, nach Deutschland zu kommen. 1982 traf Rucza Witońska, inzwischen verheiratete Rose Grumelin, Günther Schwarberg in Paris und erkannte auf den mitgebrachten Fotos ihre Kinder Roman und Eleonora. Sie kam noch im selben Jahr nach Hamburg. Seit ihrem Tod 2012 kam ihr Sohn Marc-Alain regelmäßig zu den Gedenkfeiern. Ebenfalls 1982 nahm der Onkel von Mania, Chaim Altman, aus den USA zu Schwarberg Kontakt auf und kam 1986 erstmals nach Hamburg. 1983 erfuhr Gisella De Simone von dem Verbrechen an ihrem Sohn Sergio, nahm im Folgejahr an der Gedenkfeier in Hamburg teil, schenkte dem Tod ihres Kindes jedoch keinen Glauben. Seit ihrem Ableben im Jahre 1988 kamen ihr später geborener Sohn und dessen Familie regelmäßig an jedem 20. April nach Hamburg. 1984 erfuhr der in Haifa lebende Ytzhak (Jerzy) Reichenbaum vom Schicksal seines Bruders Eduard. Seitdem besuchten er und seine Frau fast jedes Jahr die Gedenkfeiern am Bullenhuser Damm und sprachen mit Jugendlichen über das Schicksal ihrer Familie.

1983 legten Schülerinnen und Schüler in Zusammenarbeit mit dem Verein den bis heute bestehenden Rosengarten an, den die Hamburger Künstlerin Lili Fischer weiter ausgestaltete. An dessen Eingang ließ das sowjetische Kulturministerium 1985 eine Bronzeplastik des Künstlers Anatoli Mossitschuk zur Erinnerung an die ermordeten sowjetischen Häftlinge aufstellen (Abb. 9 . , 10 . ). Am Zaun des Rosengartens wurden für jedes Kind und für die Ärzte und Pfleger jeweils eine Granittafel mit einem auf Porzellan gebrannten Foto, den Lebensdaten, der Herkunft und einer persönlichen Widmung angebracht (Abb. 11–34 . ).

Um das Versagen der deutschen Justiz im Fall Arnold Strippel zu dokumentieren, veranstaltete der Verein 1986 in der Gedenkstätte Bullenhuser Damm ein mehrtägiges internationales Tribunal, das mit Juristen aus den Ländern der Opfer und unter dem Vorsitz des ehemaligen deutschen Verfassungsrichters Martin Hirsch tagte. Ziel war es aufzuklären, warum Strippel als einer der Hauptverdächtigen für den Kindermord nicht vor Gericht gestellt worden war und warum die bundesdeutsche Justiz allgemein die Verfolgung von Naziverbrechen verhinderte oder verzögerte. Auszüge aus den Protokollen der Curiohaus-Prozesse wurden verlesen und Angehörige, Zeugen und Sachverständige gehört. „Als Niso Zylberberg, der Vater von Ruchla, nach vorn geht,“ so berichtete Schwarberg, „stehen die tausend Menschen schweigend auf. Er kann vor Tränen kaum sprechen. Jizhak Reichenbaum berichtet von seinem Bruder Eduard, Margarete Wilkens von Sergio De Simone, Chaim Altman von seiner kleinen Nichte Mania. Am 20. April 1986 urteilen die Richter: ‚Die Nichtverfolgung der Morde am Bullenhuser Damm ist kein Einzelfall, sondern beispielhaft für den Umgang der bundesdeutschen Justiz mit Naziverbrechen. Ein Staat, der die Verbrechen des Naziregimes unbestraft lässt, ist anfällig für neuen Faschismus.‘“[46]

1987 wurde im Treppenhaus der Gedenkstätte ein Wandgemälde des Hamburger Künstlers Jürgen Waller mit dem Titel „21. April 1945, 5 Uhr morgens“ installiert, das den Tatort so zeigen sollte, wie ihn sich der Künstler für den Morgen nach der Tat vorstellte (Abb. 35 . ). 1992 wurden in Hamburg-Schnelsen im Neubaugebiet Burgwedel Straßen, ein Park und ein Spielhaus nach den Kindern benannt. 1994 erhielt die Gedenkstätte in Zusammenarbeit mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme eine neue Dauerausstellung, wurde 1999 als deren Außenstelle etabliert und kam damit als Teil der Hamburger Kulturbehörde in städtische Hände. Heute ist die Gedenkstätte der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen zugeordnet. Im Jahr 2000 wurde auf dem nach dem polnischen Jungen R. Zeller benannten Roman-Zeller-Platz in Burgwedel eine Gedenkstele des russischen Künstlers Leonid Mogilevski mit den in Bronze gegossenen Porträts und den Namen der 20 Kinder errichtet (Abb. 36 . ). 2011 wurde die Gedenkstätte Bullenhuser Damm räumlich erweitert und die Ausstellung neu konzipiert.
 

[46] Schwarberg: Kinder 1996 (siehe Literatur), Seite 155

Erst 1993 erfuhr die zwei Jahre nach Kriegsende geborene und dann mit ihren Eltern in die USA ausgewanderte Lola Steinbaum vom Schicksal ihres Bruders Marek aus Radom. Sie kam 1999 nach Hamburg und nahm am 20. April an der Gedenkfeier teil. 1998 besuchte die aus Sandomierz stammende und in Tel Aviv lebende Shifra Mor, die Schwester von Bluma Mekler, erstmals die Gedenkstätte und besichtigte auch die nach Bluma benannte DRK-Kindertagesstätte Bluma Mekler in Burgwedel. Ab 2012 kamen weitere Familienmitglieder aus Israel und London zu den Gedenkfeiern nach Hamburg. 2010 meldeten sich ein in Israel lebender Cousin und eine in Toronto ansässige Großcousine des ebenfalls aus Radom stammenden Marek James. Sie trafen sich 2011 mit Mareks nach dem Krieg in Regensburg geborenem Bruder Mark bei der Feier am 20. April in Hamburg. Die in Israel geborene Amalia Klygerman erfuhr durch eine andere Opferfamilie vom Schicksal ihrer Schwester Lea, behielt diese Nachricht aber für sich um ihre noch lebende Mutter zu schützen. Erst 2015 erfuhr die in Tel Aviv lebende Greta Hamburg, geborene Jungleib, vom Schicksal ihres Bruders Walter, von dem sie annahm, dass er bei einem Todesmarsch vom Konzentrationslager Auschwitz ums Leben gekommen wäre. Die Familie Reichenbaum hatte den Namen Jungleib auf einer Transportliste zum Außenlager Lippstadt entdeckt, die Verbindung zu Walter gezogen und den Kontakt zur Familie über die Gedenkstätte Yad Vashem hergestellt. 2016 nahm Greta Hamburg zum ersten Mal an der Gedenkfeier in Hamburg teil.[47]

Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm befindet sich zusammen mit den Taträumen des Mordgeschehens im Untergeschoss der ehemaligen Janusz-Korczak-Schule in Hamburg-Rothenburgsort am Bullenhuser Damm 92 (Abb. 37–39 . ). Nach den flächendeckenden Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg liegt die Schule heute vereinzelt in einem von Transportfirmen bestimmten Hafenrandgebiet, das nach Kriegsende sich selbst überlassen wurde. Im Zentrum des ersten Ausstellungsraums stehen symbolische Koffer, die die Biografien und Fotos der Kinder und ihrer Familien enthalten. Entsprechende Koffer berichten auch über die zusammen mit den Kindern ermordeten Ärzte und Pfleger (Abb. 40–47 . ). Schautafeln informieren über die Themen Verfolgung und Deportation, die medizinischen Experimente, das KZ-Außenlager Bullenhuser Damm, über die Morde, die Täter und die sowjetischen Häftlinge. Der Ausstellungsraum 2 enthält Schränke, in denen Aktenordner und Schnellhefter mit vertiefenden Materialien und Kopien von Dokumenten und Fotografien zur allgemeinen Benutzung bereitstehen (Abb. 48 . ). Durch einen dritten Raum mit Zitaten aus den Vernehmungsprotokollen der Täter gelangt man in den weitgehend leeren historischen Tatraum (Abb. 49 . ). Ein weiterer der im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzkeller genutzten Räume dient seit Einrichtung der Gedenkstätte der stillen Erinnerung (Abb. 50 . ).

2019 veröffentlichte die aus Poznań stammende und dort tätige Kulturwissenschaftlerin Natalia Budzyńska unter dem Titel „Dzieci nie płakały“ (dt. Die Kinder weinten nicht) die knapp 400 Seiten starke Geschichte ihres „Onkels Alfred Trzebinski, eines SS-Arztes“ (Historia mojego wuja Alfreda Trzebinskiego, lekarza SS), nachdem sie auf das jahrzehntelang gehütete Familiengeheimnis gestoßen war. Selbst eine geborene Trzebińska, hatte sie herausgefunden, dass Alfred ein Sohn ihres Urgroßonkels, also in Wirklichkeit ihr Cousin 3. Grades gewesen war. Die Familie entstammte einer verarmten großpolnischen Adelsfamilie. Alfreds Vater, der in Jutroschin/Jutrosin tätige Gymnasiallehrer Stefan Trzebiński, hatte die Deutsche Maria Lepke geheiratet und seine Kinder deutsch erzogen. Alfred Trzebinski, der die Schreibweise seines Namens eindeutsche, studierte Medizin in Breslau und Greifswald, wo er 1928 promovierte, und heiratete eine deutsche Kommilitonin. 1932 wurde er Mitglied der SS, im Jahr darauf der NSDAP, und stieg im Juni 1943 zum SS-Hauptsturmführer auf. In polnischen und deutschen Archiven sowie durch das erhaltene Tagebuch ihres Verwandten gelang es Budzyńska dessen Lebensgeschichte und Verbrechen zu rekonstruieren.[48]

 

Axel Feuß, Juni 2022

 

Der Autor dankt Frau Dr. Iris Groschek, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen, für kritische Durchsicht und weiterführende Hinweise.

 

[47] Kristina Festring-Hashem Zadeh: Von SS ermordetes Kind hat jetzt ein Gesicht, auf ndr.de (22.9.2015), https://www.ndr.de/geschichte/Von-SS-ermordetes-Kind-hat-jetzt-ein-Gesicht,bullenhuserdamm138.html

[48] Vergleiche ausführlich die Rezension des Soziologen Lech M. Nijakowski (siehe Online), Professor für Soziologie an der Universität Warschau. Das Buch von Natalia Budzyńska bietet die Grundlage für den Eintrag über Alfred Trzebinski auf der polnischen Wikipedia

Literatur

 

Iris Groschek: Das Verfahren gegen den Magdeburger Arzt Dr. Kurt Heißmeyer wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, in: Erinnern! Aufgabe, Chance, Herausforderung, herausgegeben von der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, Magdeburg, Nr. 1/2020, Online-Ressource: https://stgs.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/STGS/02_Angebote/Erinnern/Innenteil_1_2020_web.pdf

Natalia Budzyńska: Dzieci nie płakały. Historia mojego wuja Alfreda Trzebinskiego, lekarza SS, Wołowiec 2019

Anna von Villiez: Heißmeyer’s forgotten victims. Tuberculosis experiments on adults in Neuengamme 1944-45, in: From clinic to concentration camp. Reassessing Nazi medical and racial research 1933-1945, herausgegeben von Paul Weindling, London / New York 2017, Seite 272–289

Iris Groschek / Kristina Vagt: „… dass du weißt, was hier passiert ist“. Medizinische Experimente im KZ Neuengamme und die Morde am Bullenhuser Damm, Bremen 2012

Serge Klarsfeld: Mémorial de la déportation des juifs de France, Paris 2012

Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm. Geschichte des Ortes, der Opfer und der Erinnerung, herausgegeben von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Redaktion: Karin Schawe, Texte: Iris Groschek, Kristina Vagt, Hamburg [2011, Kurzführer], Online-Ressource: http://media.offenes-archiv.de/NG_KurzBullenhuserDamm%20RZ_110406.pdf

Ahlrich Meyer: Täter im Verhör. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich 1940–1944, Darmstadt 2005

Susan Zuccotti: The Holocaust, the French, and the Jews, Lincoln, London 1999

Günther Schwarberg: Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm (1988), Göttingen 1997; 2016

Hermann Kaienburg: Das Konzentrationslager Neuengamme 1938–1945, herausgegeben von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Bonn 1997

Hermann Kaienburg: Die britischen Militärgerichtsprozesse zu den Verbrechen im Konzentrationslager Neuengamme, in: Die frühen Nachkriegsprozesse (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 3), Hamburg 1997

Günther Schwarberg: Meine zwanzig Kinder, Göttingen 1996

Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch, herausgegeben vom Staatsarchiv Hamburg, Hamburg 1995

Erich Hartmann: Stumme Zeugen. Photographien aus Konzentrationslagern, Gerlingen 1995; In the Camps, New York 1995; Online-Ressource: https://www.magnumphotos.com/newsroom/conflict/in-the-camps-auschwitz-concentration-camp-holocaust-erich-hartmann/ 

Günther Schwarberg: Der SS-Arzt und die Kinder, 1. Auflage, Hamburg: Gruner & Jahr 1979

Fritz Bringmann: Kindermord am Bullenhuser Damm. SS-Verbrechen in Hamburg 1945. Menschenversuche an Kindern, herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme für die BRD e.V., Hamburg /Frankfurt am Main 1978

Stanisław Sterkowicz: Pseudomedyczne eksperymenty w obozie w Neuengamme, in: Przegląd Lekarski. Organ krakowskiego oddziału polskiego towarzystwa lekarskiego, Band XXXIV, Nr. 1, 1977, Seite 130–137; Online-Ressource: https://www.mp.pl/auschwitz/journal/polish/171127,volume-1977

Otto Prokop / Ehrenfried Stelzer: Die Menschenexperimente des Dr. med. Heißmeyer, in: Kriminalistik und forensische Wissenschaft (Beiträge zur Theorie und Praxis der sozialistischen Kriminalistik und der forensischen Wissenschaft, 3), Berlin (Ost) 1970, Seite 67–104

Curiohaus-Prozess. Verhandelt vor dem britischen Militärgericht in der Zeit vom 18. März bis zum 3. Mai 1946 gegen die Hauptverantwortlichen des KZ Neuengamme, herausgegeben vom Freundeskreis e.V., 3 Bände, 1 Registerband, Hamburg 1969

Gerhard Rundberg / Henry Meyer: Rapport fra Neuengamme, Kopenhagen 1945
 

Online
 

KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Ausstellungen, Begegnungen, Studienzentrum, https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/

Gedenkstätte Bullenhuser Damm, auf: Offenes Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, http://offenes-archiv.de/de/WeitereAusstellungen/ausstellung-bdamm.xml

Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V. (Die Geschichte, Die 20 Kinder, Die Täter …), http://kinder-vom-bullenhuser-damm.de/index.php

Die Morde am Bullenhuser Damm am 20. April 1945, auf: Mediathek Ausstellungen Neuengamme, http://www.neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha7_2_3_3_2_thm_2506.pdf

The Central Database of Shoah Victims' Names, Yad Vashem, https://yvng.yadvashem.org/

Stanisław Sterkowicz: Pseudo-medical experiments in Neuengamme concentration camp, auf: Medical Review Auschwitz (18. März 2021, ursprünglich veröffentlicht 1977, siehe Literatur), https://www.mp.pl/auschwitz/journal/english/262078,pseudo-medical-experiments-in-neuengamme-concentration-camp

Lech M. Nijakowski: Mój wujek zbrodniarz. Recenzja reportażu „Dzieci nie płakały” Natalii Budzyńskiej, auf: Kultura liberalna, https://kulturaliberalna.pl/2019/05/07/lech-nijakowski-recenzja-dzieci-nie-plakaly-natalia-budzynska/

(Alle hier und in den Anmerkungen genannten Links wurden zuletzt im Juni 2022 aufgerufen.)