Dora Diamant – Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin
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Dora Dymant, so Brod, „stammte aus einer angesehenen ostjüdischen chassidischen Familie. Bei aller Verehrung gegenüber dem geliebten Vater konnte sie den Zwang, die Enge der Tradition nicht ertragen […] Dora entwich aus dem Städtchen in Polen, nahm zuerst in Breslau, dann in Berlin Stellungen an, als Angestellte des Volksheims kam sie nach Müritz. - Sie war eine vorzügliche Hebraistin, Kafka lernte zu jener Zeit mit besonderem Eifer Hebräisch. […] Eines der ersten Gespräche der beiden endete damit, dass Dora ein Kapitel aus Jesaja in der Ursprache vorlas. Franz erkannte ihre schauspielerische Begabung, auf seinen Rat und unter seiner Leitung bildete sie sich später in dieser Kunst aus.“[16]
Kaum zurück aus der „Sommerfrische“ in Müritz fasste Kafka den Entschluss, alle Bindungen nach Prag „zu zerreißen, nach Berlin zu ziehen, mit Dora zu leben“.[17] Während der ersten sechs Wochen lebte das Paar in Steglitz in der Miquelstraße. Da die Zimmervermieterin, eine Frau Hermann, der Kafka in der Erzählung „Eine kleine Frau“ (1924) ein literarisches Denkmal setzte, dem in ‚wilder Ehe‘ lebenden jüdischen Paar laufend Schwierigkeiten bereitete, zog dieses bald in zwei Zimmer in der Grunewaldstraße. „Dort habe ich ihn besucht“, fährt Brod fort, „sooft ich nach Berlin kam, im Ganzen wohl dreimal. Ich fand ein Idyll, endlich sah ich meinen Freund in guter Stimmung, sein körperliches Befinden hatte sich allerdings verschlechtert. […] Franz sprach von Dämonen, die ihn endlich freigelassen hätten. ‚Ich bin ihnen entwischt, diese Übersiedlung nach Berlin war großartig, jetzt suchen sie mich, finden mich aber nicht, wenigstens vorläufig nicht.‘ Das Ideal des selbständigen Lebens, des eigenen Heims hatte er endlich erreicht, er war nicht mehr Familiensohn, sondern gewissermaßen selbst pater familias. […] In diesem Sinn habe ich Kafka in seinem letzten Lebensjahr, das trotz der grauenhaften Krankheit ihn vollendete, auf dem richtigen Weg und mit seiner Lebensgefährtin wahrhaft glücklich gesehen.“[18]
Die äußeren Lebensumstände des Paars waren durch den Inflationswinter 1923 geprägt. Von Einkaufstouren nach Berlin sei Kafka „wie aus dem Schlachtengetümmel“ heimgekommen, wird Dora zitiert. Beide duldeten große Entbehrungen. Kafka habe, so Brod, mit seiner kleinen Pension auskommen wollen: „Nur im äußersten Fall und sehr bedrückt nimmt er von der Familie Geld und Lebensmittelpakete an. […] Es mangelt an Kohle. Butter erhält er aus Prag.“ Dennoch habe er für mittellose Bekannte „Liebesgabenpakete“ erbeten, die nur das Notwendigste enthalten hätten: „Jetzt lebe noch ein paar Tage von dem Grieß, Reis, Mehl, Zucker, Tee und Kaffee und dann stirb, wie es sein muss, mehr können wir nicht tun.“ Zwischen Weihnachten und Neujahr machten Kafka schwere Fieberanfälle zu schaffen. Dennoch zogen er, fiebrig wie er war, und Dora nach Zehlendorf um: „Er lebt zurückgezogen. Ganz selten kommt einmal ein Besuch aus Berlin: Dr. Rudolf Kayser, Ernst Blass.“[19]
Kafka habe Pläne entwickelt nach Palästina überzusiedeln und mit Dora, „die so vorzüglich kochte“, ein Restaurant zu eröffnen, in dem er als Kellner fungieren könnte. In einer der Berliner Wohnungen habe Dora, so habe sie Brod später berichtet, auf Kafkas Geheiß einige von dessen Manuskripten verbrannt: „Er befahl es, sie gehorchte zitternd; noch viele Jahre später tat es ihr leid, dass sie gehorcht hatte. Dabei betonte sie aber, dass sie, vor die gleiche Situation gestellt, auch heute sich dem Willen Kafkas beugen würde. […] Andere Schriften Kafkas, die bei Dora zurückblieben, wurden nach 1933 von der Gestapo beschlagnahmt und offenbar vernichtet.“[20]
Am 17. März 1924 begleitete Brod den inzwischen schwer erkrankten Kafka nach Prag, nachdem Dora und der aus Ungarn stammende Medizinstudent Robert Klopstock, der selbst im Ersten Weltkrieg an Tuberkulose erkrankt war und den Kafka Anfang 1921 in der Heilanstalt des slowakischen Erholungsortes Tatranské Matliare kennen gelernt hatte,[21] ihn in Berlin zum Bahnhof gebracht hatten. Dora kam, so Brod, einige Tage später nach. Nach Zwischenstationen bei den Eltern in Prag und dem Sanatorium Wienerwald in Feichtenbach in Niederösterreich wurde Kafka mit einer Kehlkopftuberkulose nach Wien in eine Klinik verlegt. „Für die Fahrt vom Sanatorium nach Wien“, berichtet Brod, „war nur ein offenes Auto zur Verfügung. Regen und Wind. Während der ganzen Fahrt stand Dora aufrecht im Wagen, suchte Franz mit ihrem Leib gegen das schlimme Wetter zu schützen“. Dora und Klopstock, nun „scherzhaft Franzens ‚kleine Familie‘“ genannt, widmeten sich voll und ganz seiner Pflege und erreichten schließlich eine Verlegung in das helle und freundliche Sanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg.
Kaum mehr in der Lage zu sprechen und Nahrung aufzunehmen, fasste Kafka in den folgenden Wochen neuen Mut. „Er wollte Dora heiraten“, berichtet Brod, „hatte an ihren frommen Vater einen Brief abgeschickt, in dem er darlegte, dass er zwar in des Vaters Sinn kein gläubiger Jude, aber ein ‚Bereuender‘, ein ‚Umkehrender‘ sei und daher vielleicht doch hoffen dürfe, in die Familie des frommen Mannes aufgenommen zu werden.“ Der Vater sei mit dem Brief zum Gerrer Rebbe, der höchsten Autorität der chassidischen Gemeinde, gegangen, der den Brief gelesen, weggelegt und „Nein“ gesagt habe. Der Antwortbrief des Vaters habe für Kafka als „schlechtes Vorzeichen“ gegolten.[22] Zuletzt arbeitete Kafka an Korrekturfahnen für seinen letzten Sammelband „Ein Hungerkünstler“ (1924) und gab Anweisungen zu einer Umstellung der Novellen. Am folgenden Morgen um 4 Uhr begann eine Krisis, die Dora zuerst bemerkte und die nur noch durch Morphium gelindert werden konnte. Im Verlauf des 3. Juni 1924 starb Kafka im Beisein von Diamant und Klopstock.
[16] Ebenda, Seite 240.
[17] Ebenda.
[18] Ebenda, Seite 241 f.
[19] Ebenda, Seite 245–247.
[20] Ebenda, Seite 247 f. – Die von Kafka stammenden Schriftstücke wurden am 8. März 1933 in der Wohnung von Lutz und Dora Lask in der Pariser Straße 13 in Berlin-Wilmersdorf von der Gestapo beschlagnahmt, darunter Tagebuchblätter, 35 an Dora gerichtete Briefe und 20 Manuskripthefte. Sie gelangten ins Archiv der Gestapo, vermutlich 1945 mit dem Gestapo-Bestand nach Moskau, wurden in den 1950er-Jahren an die DDR zurückgegeben, wo sie im Ministerium für Staatssicherheit aufbewahrt wurden, und liegen heute unerkannt vermutlich inmitten riesiger bislang nicht gesichteter Aktenbestände im deutschen Bundesarchiv; vergleiche Hans-Gerd Koch: Franz Kafka. Der unbekannte Aktenberg, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.12.2019, https://www.sueddeutsche.de/kultur/kafka-bundesarchiv-gestapo-akten-1.4711090 (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[21] Zur Biographie von Robert Klopstock vergleiche: Robert Klopstock – Kafkas letzter Freund, auf: PragToGo, https://prag-to-go.com/kafka-in-prag/themen/familie-und-freunde/robert-klopstock-kafkas-letzter-freund (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Vergleiche außerdem Robert Klopstock: Mit Kafka in Matliary, im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 153–156.
[22] Brod 1962 (siehe Literatur), Seite 254.