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Dora Diamant – Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin

Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert

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Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert
Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert

Endlich beschäftigt sich die Forschung mit dem Thema

In den beiden Jahrzehnten nach dem Erscheinen der Frankfurter Ausgabe von Brods Kafka-Biografie interessierte sich offenbar niemand für die fehlenden Jahrzehnte im Lebenslauf von Dora Diamant. Denn die Zeit vor ihrer ersten Begegnung mit Kafka in Müritz und die 28 Jahre nach dessen Tod konnten vermeintlich nichts zu der immer umfangreicher werdenden Literatur zu dem Schriftsteller beitragen.[23] Erst 1984 fügte der aus Breslau stammende deutsch-amerikanische Übersetzer und Biograf Ernst Pawel (1920–1994) in seiner preisgekrönten Kafka-Biografie „The Nightmare of Reason“ auf anderthalb Seiten Begebenheiten aus Diamants Leben seit den späten 1920er-Jahren hinzu. Sie habe in dieser Zeit eine prominente Führungsperson der Deutschen Kommunistischen Partei geheiratet und mit ihm ein Kind bekommen. Einige Tage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sei ihr Ehemann im Februar 1933 ins Ausland geflohen, gerade rechtzeitig vor der Fahndung durch die Gestapo und der Durchsuchung ihrer gemeinsamen Wohnung, bei der auch Papiere Kafkas konfisziert worden seien. Wenig später hätten Diamant und ihr Kind Deutschland verlassen und seien nach Moskau gegangen. Ihr Ehemann sei in der Sowjetunion festgenommen, als trotzkistischer Saboteur verurteilt und nach Workuta deportiert worden. Sie habe nie wieder etwas von ihm gehört. Nach einer Erkrankung ihrer Tochter an einem Nierenleiden sei Diamant 1938 die Ausreise nach England erlaubt worden, wo diese nach Diamants Tod 1952 heute noch leben würde.[24]

Pawel zitierte auch einen Brief von Diamant an Brod vom Mai 1930 aus Berlin-Charlottenburg, den Brod bereits 1966 unkommentiert veröffentlicht hatte und in dem sie ihr ambivalentes Verhältnis zu Kafkas literarischem Schaffen und der geplanten Veröffentlichung seines Nachlasses schilderte: „Wie ich noch in so unmittelbarer Nähe von Franz lebte, konnte ich nichts anderes, als ihn und mich sehen. Alles, was nicht er selbst war, war halt unbedeutend und manchmal sogar lächerlich. Sein Werk war im besten Fall unbedeutend. Der Versuch, sein Werk als einen Teil von ihm darzustellen, war mir halt lächerlich. Das ist der Ursprung meines ablehnenden Verhaltens gegenüber der Herausgabe des Nachlasses. Außerdem kam damals das mir erst jetzt zu Bewusstsein kommende Gefühl des Teilenmüssens. Jede öffentliche Äußerung, jedes Gespräch betrachtete ich als einen gewaltsamen Einbruch in mein Reich. […]“[25]

Noch zu diesem Zeitpunkt, also im Mai 1930, hatte Diamant verheimlicht, nach Kafkas Tod eine bedeutende Anzahl von dessen Manuskripten und Briefen zurückgehalten zu haben, was schließlich zum Verlust der Schriftstücke bei der Beschlagnahme durch die Gestapo führte. Auch in diesem Fall hatte Brod schon früher berichtet, dass Diamant diesen Umstand schließlich habe gestehen müssen. Nach der Beschlagnahme von einem Teil von Kafkas Nachlass „bei Frau Dora Dymant“ habe er, Brod, den Schriftsteller Camill Hoffmann (1878–1944 KZ Auschwitz), Presseattaché der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin, um „Nachforschung und Intervention“ gebeten: „Seine Mühe war diesmal vergebens. Bald verschwand er selbst in den Stürmen der Zeit […] Auschwitz? – Der Berliner Nachlass Kafkas ist wohl endgültig als verloren anzusehen.“[26]

Mitte der Achtzigerjahre begann die heute in San Diego, Kalifornien, ansässige Theaterwissenschaftlerin Kathi Diamant (*1952) mit intensiven Nachforschungen über Dora Diamant, nachdem sie bereits 1971 während ihres Studiums in einem Kurs für deutsche Literatur mit ihrer Namensverwandten konfrontiert worden war. Nach der Lektüre von Pawels Kafka-Biografie reiste sie zu Recherchen nach Polen, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, in die Tschechoslowakei und nach Israel. Sie forschte in öffentlichen Archiven wie dem Stadtmuseum Pabianice/Muzeum Miasta Pabianic und dem dortigen Einwohnermeldeamt/Urząd stanu cywilnego, wo sie Doras Geburtsurkunde fand, dem Russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte in Moskau, wo Dora Diamants Komintern-Akte archiviert ist, der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv in Berlin sowie im Berliner Landesarchiv, wo Gestapo- und SED-Akten von Dora und der Familie Lask aufbewahrt werden, und im Stadtarchiv Düsseldorf, in dem sich Melde- und Aufenthaltsbescheinigungen von Dora Diamant befinden. In privaten Sammlungen fand sie unter anderem Briefe aus den Jahren 1941 und 1951/52, im Nachlass von Marthe Robert in Frankreich jenes „Tagebuch“, das die Grundlage für Diamants niemals veröffentlichte „Erinnerungen“ an Kafka bilden sollte, im Archiv Klaus Wagenbach in Berlin eine Abschrift des „Tagebuchs“ sowie Texte, Notizen und Briefe aus der Zeit von Dora Diamants Krankheit und Tod.[27]

2003 veröffentlichte Kathi Diamant in New York die rund 400 Seiten starke Biografie „Kafka’s Last Love. The Mystery of Dora Diamant“, in der sie erstmals auch das „Tagebuch“ und weitere chronologische Notizen veröffentlichte. Nach Übersetzungen ins Spanische, Französische, Chinesische, Russische und Portugiesische erschien die deutsche Ausgabe erst ein Jahrzehnt später. Sie enthält Dora Diamants Notizen in der Umschrift der deutschsprachigen Originale, vermehrt durch fotografische Faksimiles.[28] Nicht berücksichtigt blieben 70 Briefe von Dora Diamant an Max Brod, die wegen eines seit 2005 geführten Rechtsstreits um Brods in Israel lagernden Nachlass nicht zugänglich waren, welcher 2016 der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem zugesprochen wurde und seit 2019 zugänglich ist.[29]

 

[23] Der Literaturwissenschaftler und Kafka-Biograf Reiner Stach (*1951) weist darauf hin, dass Frauen berühmter Männer traditionell die „ehrenvolle Aufgabe“ zukam, „den männlichen Geist zu entzünden und für sinnlichen Brennstoff zu sorgen“: „‚Das Genie und seine Muse‘ ist ein Topos der neueren europäischen Kulturgeschichte und einer der ideologisch hartnäckigsten: Selbst noch im 20. Jahrhundert, als der Geniebegriff längst obsolet geworden ist“. „Felice, Milena, Dora“, „Frauen also, zu denen Kafka in einer bedeutsamen erotischen Beziehung stand und von denen wir wissen, dass sie seine schriftstellerische Arbeit beeinflussten“ sei es ebenso ergangen. Während sich von Felice Bauer, Kafkas erster Verlobten, immerhin ein riesiges Bündel an Briefen erhalten habe, hätten dessen 1952 von Willy Haas herausgegebene „Briefe an Milena“, also an Milena Jesenská, beinahe wie der Titel eines literarischen Werks angemutet. Dies habe dazu geführt, diese Frauen „als bloße Projektionsflächen“ anzusehen. „Und von Dora Diamant hatte man überhaupt keine Vorstellung, außer dass sie für den schwerkranken Kafka ein ganz außergewöhnliches Glück gewesen sein muss. – Erst gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts kam sowohl in der Forschung als auch beim Publikum spürbare Frustration darüber auf, dass man es noch immer mit gesichtslosen Musen zu tun hatte. Es gab nun ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass dies Kafka unmöglich angemessen sein konnte. Denn es ist biografisch durchaus von Belang, wer die Menschen waren, denen er sich nahe fühlte, die er in gewissem Sinne gewählt hatte - ganz zu schweigen davon, dass diese Frauen nun auch um ihrer selbst willen interessant wurden.“ (Vorwort von Reiner Stach, in: Kathi Diamant 2013, siehe Literatur, Seite 17 f.).

[24] Pawel 1984 (siehe Literatur), Seite 438 f.

[25] Bei Pawel 1984 (siehe Literatur, Seite 438) in englischer Übersetzung. Im deutschen Original zitiert bei Max Brod: Der Prager Kreis, Stuttgart und andere: Kohlhammer 1966, Seite 113.

[26] Max Brod: Streitbares Leben 1884–1968, München und andere: F. A. Herbig 1969, Seite 14 f.

[27] Vorwort zur ersten Ausgabe, in: Kathi Diamant 2013, siehe Literatur, Seite 13 f.; Quellen, ebenda, Seite 441–443.

[28] Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe, in: Kathi Diamant 2013, siehe Literatur, Seite 15 f.

[29] Tim Aßmann: Max-Brod-Nachlass in Israel. Kafkas Vokabelheft, auf: Deutschlandfunk vom 7.8.2019, https://www.deutschlandfunk.de/max-brod-nachlass-in-israel-kafkas-vokabelheft-100.html (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).